Sie sind 80 Jahre alt und älter, sie stinken, sie treiben Unfug, und sie erinnern sich an nichts: die Witwen. Jan Oltrogge, der junge Zivildienstleistende, will sie zum Reden bringen. Er wäscht sie, er wirbt um sie, er erfüllt ihnen die ausgefallensten Wünsche. Doch als das alles nicht hilft, greift er zu anderen Methoden. Kein Ort, an dem man Abenteuer erwartet: die Luisenstiftung, ein Frauen-Altersheim in Altona. Aber was Jan Oltrogge, der Witwentröster, zu erzählen hat, ist außergewöhnlich und spannend: seine besessene Suche nach dem Geheimnis der Witwen. Seine Diagnosen sind fragwürdig, seine Maßnahmen sind drastisch und stehen quer zu allen Pflegeplänen. Und natürlich stößt er auf Widerstand: Die Schwestern sitzen ihm im Nacken und pochen auf Erfüllung des Arbeitspensums, die Angehörigen benutzen ihn, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Ganz auf sich gestellt, verfolgt Jan sein geheimes Programm. Bald zeigen sich die ersten Erfolge: Die Witwen beginnen, sich zu erin nern - und wieder zu leben. Doch dann kommt das Sommerfest, und Jan verliert die Kontrolle über das Geschehen.
Marc Wortmanns eindrucksvolles Romandebüt erzählt drastisch und unterhaltsam von einer Generation, die nicht ohne Grund vergesslich geworden ist, und von einem Helden, der die Geister nicht mehr loswird, die er rief.
Marc Wortmanns eindrucksvolles Romandebüt erzählt drastisch und unterhaltsam von einer Generation, die nicht ohne Grund vergesslich geworden ist, und von einem Helden, der die Geister nicht mehr loswird, die er rief.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2002Ein Herz für alte Damen
Wie Medizin: Marc Wortmanns unzeitgemäßes Romandebüt
Wer ins Altersheim zieht, hat meist schon seine letzte Ruhestätte vor Augen. Gleichzeitig bringt es diese Situation oft mit sich, daß die neuen Heimbewohner sich stärker mit der Jugend konfrontiert sehen als in den Jahren zuvor. Jan Oltrogge, neunzehnjähriger Zivildienstleistender und Ich-Erzähler in Marc Wortmanns Debütroman "Der Witwentröster", ist der einzige Mann in der Luisenstiftung in Hamburg-Altona. Die alten Damen, aber auch das übrige weibliche Personal scheinen zunächst eine undurchdringliche Front zu bilden. Längst sind sie aus dem Alter heraus, in dem Frauen noch auf den Richtigen warten. Gleichgültig nehmen die "Witwen", wie die Heimbewohnerinnen korrekt bezeichnet werden wollen, zur Kenntnis, daß die Schwestern Verstärkung bekommen haben. Jan, von allen bald nur "der junge Mann" genannt, erkennt rasch, daß seine Berufung nicht allein darin liegen kann, Bettpfannen zu leeren, Windeln zu wechseln und Gebisse zu reinigen. Er will mehr, seit er einmal in der Heimbibliothek herumgestöbert und im Lexikon das Wort "Witwe" nachgeschlagen hat. Die Definition öffnet ihm die Augen: "die ihres Mannes beraubte", die "Mangel" hat. Fortan will Jan vor allem eines: den "Mangel" der Witwen ausmachen, ihn erforschen und schließlich fortwischen. So wird er zum "Witwentröster", zu einem, "der die Leere zu füllen versucht".
"Man muß Opfer bringen, wenn man Witwen trösten will", behauptet der Erzähler gleich zu Anfang - und vergißt dabei zu erwähnen, daß auch die Witwe einiges aushalten muß, sobald der Tröster es auf sie abgesehen hat. Die Abwehr der Damen ist olfaktorisch. Die penetranten, beißenden Ausdünstungen alter Leiber, die stechenden Dämpfe aus Nachttöpfen und der modrige Mief in Kleidung, Vorhängen und Bettlaken machen Jans Kreuzzug ins Land der Erinnerung zur Tortur. Die Weigerung der Damen, die eigene Vergangenheit zu reflektieren, macht Unterhaltungen über den Heimalltag hinaus zunächst unmöglich. Das ist Jan zuwenig. Im Schildkrötentempo schleift er den Widerstand seiner Patientinnen ab. Seine Methoden sind grausam, aber effektiv: Er beobachtet jede der Witwen, spricht mit Angehörigen, merkt sich selbst scheinbare Nebensächlichkeiten.
Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Jan zu wissen glaubt, welche Lebenslüge die jeweilige Dame zu verdrängen, zu vergessen oder zu retuschieren versucht. Bei seiner Mission wird er angetrieben von der Überzeugung, daß erst die Bloßlegung dieses wunden Punkts den Weg zum befreiten Sterben öffnet. Mit einer wilden Entschlossenheit, die ihn den Schwestern suspekt und den Witwen zusehends unentbehrlich macht, betreibt Jan das "Witwentrösten". Das hat nichts Falsches, Beflissenes an sich, wie etwa die Tröstungen eines Erbschleichers. Es genügt ihm nicht, von den Witwen gemocht zu werden. Vielmehr will er ihnen alles sein: der verlorene Ehemann, der gefallene Bruder, der vernachlässigte Sohn. Er verteilt Obst oder Medikamente und wechselt dabei die Rolle von Zimmer zu Zimmer. Kein Wunder, daß die Bewohnerinnen ihn irgendwann ebenso sehr brauchen wie fürchten. Denn Jan hat Erfolg: Mit der Rückkehr der Erinnerung kommt Leben in die Frauen, und mit den Schlaken im Kopf lösen sich auch die Ablagerungen in den Gedärmen.
Marc Wortmann, Jahrgang 1966, hat sich einen ungewöhnlichen Schauplatz für seinen ersten Roman ausgesucht. Sein Thema ist das Alter, nicht die Jugend: Damit geht er dem Vergleich mit vielen anderen Debüts raffiniert aus dem Weg und vermeidet die Gefahr, in die wohlfeilen Schilderungen einer Generationsbefindlichkeit einzutauchen. Ihn interessiert das, was verloren zu gehen droht: die Biographien der alten Damen. Und so ist es auch nur folgerichtig, daß man über den Ich-Erzähler nichts erfährt, was außerhalb der Mauern des Altenpflegeheims liegt: "Ich habe über 5000 Jahre hinweggetröstet. Diese 5000 Jahre sind nicht als chronologische Abfolge zu betrachten, sondern als eine Vielzahl von Leben, die nebeneinander existieren."
Die Lebensdramen, die Jan aufdeckt, sind nicht besonders überraschend, doch gerade das macht sie authentisch. Großen Anteil daran, daß der Leser dem Witwentröster so bereitwillig von Zimmer zu Zimmer und über knapp 350 Seiten folgt, hat Wortmanns erstaunlich sichere Sprache. In kurzen Passagen und klaren Sätzen, die nicht durch besondere Originalität auffallen wollen, schildert er die Fortschritte des Witwentrösters. Dabei ist der Autor durchaus nicht zimperlich, wenn es darum geht, sinnliche Eindrücke zu beschreiben. Die alten Frauen werden von ihm nicht schöner, wohlriechender oder netter geschildert, als sie sind. Ihr Zustand wird nicht beschönigt, aber auch nicht flapsig verspottet. Nicht jede der zahlreichen Beschreibungen von Gestank und Fäkalien wäre nötig gewesen, und manches Mal geraten Sprache und Handlung durch den häufigen Einschub bilanzierender Abschnitte ins Stocken. Zuguterletzt aber erfährt die spiegelglatte Oberfläche doch noch einige wohltuende Brüche. Der Witwentröster jedenfalls verläßt die Louisenstiftung nach anderthalb Jahren nicht als moderner Heiliger, und die Witwen widersetzen sich, wenn sie nicht gestorben sind, weiterhin ihrer Erinnerung. So hinterläßt der Roman den bitteren, aber auch tröstlichen Nachgeschmack wirksamer Medizin.
Marc Wortmann: "Der Witwentröster". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 347 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie Medizin: Marc Wortmanns unzeitgemäßes Romandebüt
Wer ins Altersheim zieht, hat meist schon seine letzte Ruhestätte vor Augen. Gleichzeitig bringt es diese Situation oft mit sich, daß die neuen Heimbewohner sich stärker mit der Jugend konfrontiert sehen als in den Jahren zuvor. Jan Oltrogge, neunzehnjähriger Zivildienstleistender und Ich-Erzähler in Marc Wortmanns Debütroman "Der Witwentröster", ist der einzige Mann in der Luisenstiftung in Hamburg-Altona. Die alten Damen, aber auch das übrige weibliche Personal scheinen zunächst eine undurchdringliche Front zu bilden. Längst sind sie aus dem Alter heraus, in dem Frauen noch auf den Richtigen warten. Gleichgültig nehmen die "Witwen", wie die Heimbewohnerinnen korrekt bezeichnet werden wollen, zur Kenntnis, daß die Schwestern Verstärkung bekommen haben. Jan, von allen bald nur "der junge Mann" genannt, erkennt rasch, daß seine Berufung nicht allein darin liegen kann, Bettpfannen zu leeren, Windeln zu wechseln und Gebisse zu reinigen. Er will mehr, seit er einmal in der Heimbibliothek herumgestöbert und im Lexikon das Wort "Witwe" nachgeschlagen hat. Die Definition öffnet ihm die Augen: "die ihres Mannes beraubte", die "Mangel" hat. Fortan will Jan vor allem eines: den "Mangel" der Witwen ausmachen, ihn erforschen und schließlich fortwischen. So wird er zum "Witwentröster", zu einem, "der die Leere zu füllen versucht".
"Man muß Opfer bringen, wenn man Witwen trösten will", behauptet der Erzähler gleich zu Anfang - und vergißt dabei zu erwähnen, daß auch die Witwe einiges aushalten muß, sobald der Tröster es auf sie abgesehen hat. Die Abwehr der Damen ist olfaktorisch. Die penetranten, beißenden Ausdünstungen alter Leiber, die stechenden Dämpfe aus Nachttöpfen und der modrige Mief in Kleidung, Vorhängen und Bettlaken machen Jans Kreuzzug ins Land der Erinnerung zur Tortur. Die Weigerung der Damen, die eigene Vergangenheit zu reflektieren, macht Unterhaltungen über den Heimalltag hinaus zunächst unmöglich. Das ist Jan zuwenig. Im Schildkrötentempo schleift er den Widerstand seiner Patientinnen ab. Seine Methoden sind grausam, aber effektiv: Er beobachtet jede der Witwen, spricht mit Angehörigen, merkt sich selbst scheinbare Nebensächlichkeiten.
Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Jan zu wissen glaubt, welche Lebenslüge die jeweilige Dame zu verdrängen, zu vergessen oder zu retuschieren versucht. Bei seiner Mission wird er angetrieben von der Überzeugung, daß erst die Bloßlegung dieses wunden Punkts den Weg zum befreiten Sterben öffnet. Mit einer wilden Entschlossenheit, die ihn den Schwestern suspekt und den Witwen zusehends unentbehrlich macht, betreibt Jan das "Witwentrösten". Das hat nichts Falsches, Beflissenes an sich, wie etwa die Tröstungen eines Erbschleichers. Es genügt ihm nicht, von den Witwen gemocht zu werden. Vielmehr will er ihnen alles sein: der verlorene Ehemann, der gefallene Bruder, der vernachlässigte Sohn. Er verteilt Obst oder Medikamente und wechselt dabei die Rolle von Zimmer zu Zimmer. Kein Wunder, daß die Bewohnerinnen ihn irgendwann ebenso sehr brauchen wie fürchten. Denn Jan hat Erfolg: Mit der Rückkehr der Erinnerung kommt Leben in die Frauen, und mit den Schlaken im Kopf lösen sich auch die Ablagerungen in den Gedärmen.
Marc Wortmann, Jahrgang 1966, hat sich einen ungewöhnlichen Schauplatz für seinen ersten Roman ausgesucht. Sein Thema ist das Alter, nicht die Jugend: Damit geht er dem Vergleich mit vielen anderen Debüts raffiniert aus dem Weg und vermeidet die Gefahr, in die wohlfeilen Schilderungen einer Generationsbefindlichkeit einzutauchen. Ihn interessiert das, was verloren zu gehen droht: die Biographien der alten Damen. Und so ist es auch nur folgerichtig, daß man über den Ich-Erzähler nichts erfährt, was außerhalb der Mauern des Altenpflegeheims liegt: "Ich habe über 5000 Jahre hinweggetröstet. Diese 5000 Jahre sind nicht als chronologische Abfolge zu betrachten, sondern als eine Vielzahl von Leben, die nebeneinander existieren."
Die Lebensdramen, die Jan aufdeckt, sind nicht besonders überraschend, doch gerade das macht sie authentisch. Großen Anteil daran, daß der Leser dem Witwentröster so bereitwillig von Zimmer zu Zimmer und über knapp 350 Seiten folgt, hat Wortmanns erstaunlich sichere Sprache. In kurzen Passagen und klaren Sätzen, die nicht durch besondere Originalität auffallen wollen, schildert er die Fortschritte des Witwentrösters. Dabei ist der Autor durchaus nicht zimperlich, wenn es darum geht, sinnliche Eindrücke zu beschreiben. Die alten Frauen werden von ihm nicht schöner, wohlriechender oder netter geschildert, als sie sind. Ihr Zustand wird nicht beschönigt, aber auch nicht flapsig verspottet. Nicht jede der zahlreichen Beschreibungen von Gestank und Fäkalien wäre nötig gewesen, und manches Mal geraten Sprache und Handlung durch den häufigen Einschub bilanzierender Abschnitte ins Stocken. Zuguterletzt aber erfährt die spiegelglatte Oberfläche doch noch einige wohltuende Brüche. Der Witwentröster jedenfalls verläßt die Louisenstiftung nach anderthalb Jahren nicht als moderner Heiliger, und die Witwen widersetzen sich, wenn sie nicht gestorben sind, weiterhin ihrer Erinnerung. So hinterläßt der Roman den bitteren, aber auch tröstlichen Nachgeschmack wirksamer Medizin.
Marc Wortmann: "Der Witwentröster". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 347 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.06.2002Die Leere füllen
Marc Wortmanns Debütroman
„Der Witwentröster”
Wenn die Menschen alt werden, wenn ihnen die Zähne ausfallen und die Sorgen bleischwer aufs Gemüt drücken, verwandeln sie sich langsam in Schildkröten. Der Kiefer und die Wangenknochen sinken ab, die Schädelplatte schrumpft, und die Haut wird trocken und hart. Zuletzt, nach einer Metamorphose von mehreren Jahren Dauer, wölbt sich der Rücken und verhornt zu einem runden Schild, auf dem eine feine Zeichnung hervortritt, ein Bild, aus dem die Kinder und Enkel ihre Zukunft lesen. So jedenfalls erzählt es der Pfarrer den Bewohnerinnen der Luisenstiftung.
Die alten Damen sind ganz verrückt nach seiner Geschichte. Jan Oltrogge hingegen, der gerade seinen Zivildienst in diesem Altenheim für Frauen angetreten hat, kann die falsche Ergriffenheit nicht leiden. Jan interessiert sich für Realien, und das heißt: für die Gerüche, die in den Räumen hängen, die von den Kleidern und von den Nachttöpfen aufsteigen, Gerüche, die durch keinen Waschvorgang beseitigt werden können. Erst mit diesen Gerüchen beginnt für Jan das Erzählen.
Marc Wortmann, der 1966 geboren wurde, hat in seinen Debütroman eigene Erfahrungen einfließen lassen. Doch „Der Witwentröster” ist nichts weniger als eine Milieustudie oder ein flapsiger Ziviroman. Wortmann hat ein feines Buch über das Altwerden und über die Schlacke der Erinnerung geschrieben, ein Buch, das sich zugleich mit den zermürbenden Kleinkämpfen unter den Heimbewohnerinnen beschäftigt und mit der Kraft des Verdrängten.
Wie eine Fallstudie ist der Roman angelegt, und in der Versuchsanordnung spielen die Gedanken des Ich- Erzählers Jan zunächst einmal eine untergeordnete Rolle. Von Interesse sind vielmehr die Konstellationen, die sich zwischen ihm und den alten Damen entwickeln. Genauer: zwischen ihm und den „Witwen”. Als solche nämlich wollen die Frauen in der Hamburger Luisenstiftung bezeichnet werden. Und da zu einer ordentlichen Studie die Klärung der Termini gehört, wirft Jan einen Blick ins Lexikon. Sein alter „Wahrig” verweist ihn auf den indogermanischen Wortstamm des Begriffs „Witwe”, der so viel wie „leer werden”, „Mangel haben” besagt. An dieser Definition richtet er seine Aufgabe aus: „Ein Witwentröster ist also einer, der die Leere zu füllen versucht. Der den Mangel behebt. Ein Witwentröster nimmt frei gewordene Plätze ein.”
Nach und nach findet der Witwentröster Zugang zu den Frauen, indem er sich auf ihre Geschichten und Gewohnheiten einlässt, indem er beobachtet, Verwandte befragt und in Gesprächen zu erkunden sucht, warum die eine Witwe monoton über die Gänge des Altenheims wandelt, eine andere nur noch sitzen und lallen kann. Mit kurzen, klaren Sätzen protokolliert Wortmann die Erfolge und Rückschläge seines Witwentrösters. Es sind Sätze, die sich an sinnliche Details halten, die das Seifenwasser auf der Haut der Witwen registrieren und den Schweiß in den Kissenbezügen, den Geruch des Urins und die Speichelfäden in den Mundwinkeln.
Doch Marc Wortmanns Versuchsaufbau umfasst neben den genauen Schilderungen auch ein veritables Sprachexperiment, ein doppeltes sogar: In gleichem Maße, wie die Witwen unter Jans härter werdenden Fragemethoden ihr Schweigen brechen und von der verdrängten Vergangenheit zu erzählen beginnen, staut sich die Sprache des Romans in resümierenden Passagen. Dort klassifiziert Wortmann die Gerüche und wertet Jans Erfahrungen als Witwentröster aus, er notiert kleine Weisheiten und ordnet die Erzählfäden neu. Raffiniert setzt er seine Motive und variiert die Sprachbilder. Eine interne Vernetzung strukturiert diesen Roman, die darüber hinwegzusehen hilft, dass es nicht wenige äußerst magere Abschnitte gibt, Erzählsequenzen, in denen nur Beispiele angehäuft, kurze und kürzeste Anekdoten und Dialoge lustlos aneinander gereiht werden.
Wie gut, dass Marc Wortmann das Witwentrösten nicht glatt aufgehen lässt, nachdem sich die uralten Ablagerungen in den Eingeweiden der Frauen gelöst haben. Wie gut, dass er am Ende die Intrigen der Schwestern und die Machtphantasien Jan Oltrogges bloßlegt. So gewinnt er jene Vielschichtigkeit zurück, mit der sein Erinnerungsroman einsetzt.
NICOBLEUTGE
MARC WORTMANN: Der Witwentröster. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 348 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Marc Wortmanns Debütroman
„Der Witwentröster”
Wenn die Menschen alt werden, wenn ihnen die Zähne ausfallen und die Sorgen bleischwer aufs Gemüt drücken, verwandeln sie sich langsam in Schildkröten. Der Kiefer und die Wangenknochen sinken ab, die Schädelplatte schrumpft, und die Haut wird trocken und hart. Zuletzt, nach einer Metamorphose von mehreren Jahren Dauer, wölbt sich der Rücken und verhornt zu einem runden Schild, auf dem eine feine Zeichnung hervortritt, ein Bild, aus dem die Kinder und Enkel ihre Zukunft lesen. So jedenfalls erzählt es der Pfarrer den Bewohnerinnen der Luisenstiftung.
Die alten Damen sind ganz verrückt nach seiner Geschichte. Jan Oltrogge hingegen, der gerade seinen Zivildienst in diesem Altenheim für Frauen angetreten hat, kann die falsche Ergriffenheit nicht leiden. Jan interessiert sich für Realien, und das heißt: für die Gerüche, die in den Räumen hängen, die von den Kleidern und von den Nachttöpfen aufsteigen, Gerüche, die durch keinen Waschvorgang beseitigt werden können. Erst mit diesen Gerüchen beginnt für Jan das Erzählen.
Marc Wortmann, der 1966 geboren wurde, hat in seinen Debütroman eigene Erfahrungen einfließen lassen. Doch „Der Witwentröster” ist nichts weniger als eine Milieustudie oder ein flapsiger Ziviroman. Wortmann hat ein feines Buch über das Altwerden und über die Schlacke der Erinnerung geschrieben, ein Buch, das sich zugleich mit den zermürbenden Kleinkämpfen unter den Heimbewohnerinnen beschäftigt und mit der Kraft des Verdrängten.
Wie eine Fallstudie ist der Roman angelegt, und in der Versuchsanordnung spielen die Gedanken des Ich- Erzählers Jan zunächst einmal eine untergeordnete Rolle. Von Interesse sind vielmehr die Konstellationen, die sich zwischen ihm und den alten Damen entwickeln. Genauer: zwischen ihm und den „Witwen”. Als solche nämlich wollen die Frauen in der Hamburger Luisenstiftung bezeichnet werden. Und da zu einer ordentlichen Studie die Klärung der Termini gehört, wirft Jan einen Blick ins Lexikon. Sein alter „Wahrig” verweist ihn auf den indogermanischen Wortstamm des Begriffs „Witwe”, der so viel wie „leer werden”, „Mangel haben” besagt. An dieser Definition richtet er seine Aufgabe aus: „Ein Witwentröster ist also einer, der die Leere zu füllen versucht. Der den Mangel behebt. Ein Witwentröster nimmt frei gewordene Plätze ein.”
Nach und nach findet der Witwentröster Zugang zu den Frauen, indem er sich auf ihre Geschichten und Gewohnheiten einlässt, indem er beobachtet, Verwandte befragt und in Gesprächen zu erkunden sucht, warum die eine Witwe monoton über die Gänge des Altenheims wandelt, eine andere nur noch sitzen und lallen kann. Mit kurzen, klaren Sätzen protokolliert Wortmann die Erfolge und Rückschläge seines Witwentrösters. Es sind Sätze, die sich an sinnliche Details halten, die das Seifenwasser auf der Haut der Witwen registrieren und den Schweiß in den Kissenbezügen, den Geruch des Urins und die Speichelfäden in den Mundwinkeln.
Doch Marc Wortmanns Versuchsaufbau umfasst neben den genauen Schilderungen auch ein veritables Sprachexperiment, ein doppeltes sogar: In gleichem Maße, wie die Witwen unter Jans härter werdenden Fragemethoden ihr Schweigen brechen und von der verdrängten Vergangenheit zu erzählen beginnen, staut sich die Sprache des Romans in resümierenden Passagen. Dort klassifiziert Wortmann die Gerüche und wertet Jans Erfahrungen als Witwentröster aus, er notiert kleine Weisheiten und ordnet die Erzählfäden neu. Raffiniert setzt er seine Motive und variiert die Sprachbilder. Eine interne Vernetzung strukturiert diesen Roman, die darüber hinwegzusehen hilft, dass es nicht wenige äußerst magere Abschnitte gibt, Erzählsequenzen, in denen nur Beispiele angehäuft, kurze und kürzeste Anekdoten und Dialoge lustlos aneinander gereiht werden.
Wie gut, dass Marc Wortmann das Witwentrösten nicht glatt aufgehen lässt, nachdem sich die uralten Ablagerungen in den Eingeweiden der Frauen gelöst haben. Wie gut, dass er am Ende die Intrigen der Schwestern und die Machtphantasien Jan Oltrogges bloßlegt. So gewinnt er jene Vielschichtigkeit zurück, mit der sein Erinnerungsroman einsetzt.
NICOBLEUTGE
MARC WORTMANN: Der Witwentröster. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 348 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Dantes Inferno in Altona: die Macht des Gestankes und die Schrecken des Trostes." (Annette Pehnt)
"Allein unter 60 Frauen: Marc Wortmann ist mit seinem so boshaften wie liebevollen Porträt eines Zivildienstleistenden ein Glanzstück gelungen. Racheengel, Verführer, Inquisitor und Liebhaber - der Witwentröster zieht alle Register. Ein großartiges Buch." (Karen Duve)
"Allein unter 60 Frauen: Marc Wortmann ist mit seinem so boshaften wie liebevollen Porträt eines Zivildienstleistenden ein Glanzstück gelungen. Racheengel, Verführer, Inquisitor und Liebhaber - der Witwentröster zieht alle Register. Ein großartiges Buch." (Karen Duve)