Als junger Mann hatte sich Otto Näs Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nach Amerika abgesetzt. Damals war er in ganz Finnland als der größte Alkoholschmuggler aller Zeiten, als der "Kanisterkönig", bekannt gewesen, und die Polizei war ihm hart auf den Fersen.
Als alter Mann ist Otto nun in seine finnische Heimat zurückgekehrt und erzählt seinem Enkel von seinen Abenteuern im Amerika der 20er und 30er Jahre. Und der Enkel erzählt, wie es den Daheimgebliebenen erging, damals zwischen den Kriegen.
Ein anrührender, heiter-ironisch geschriebner Roman, bevölkert von einer Vielzahl skurriler Charaktere.
Als alter Mann ist Otto nun in seine finnische Heimat zurückgekehrt und erzählt seinem Enkel von seinen Abenteuern im Amerika der 20er und 30er Jahre. Und der Enkel erzählt, wie es den Daheimgebliebenen erging, damals zwischen den Kriegen.
Ein anrührender, heiter-ironisch geschriebner Roman, bevölkert von einer Vielzahl skurriler Charaktere.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2002Nicht ohne meine Nachbarn
Kanisterkönig: Lars Sund besteigt den Postflieger
Beschäftigt man sich genauer mit Finnland, dann erweist sich das Land als geschichts- und geschichtenschwer, lohnend für Neugiertouristen und natürlich geeignet als Bühne für die erzählende Kunst. Exakt so nutzte es der Finnlandschwede Lars Sund in seinen zwei bisher erschienenen Romanen, beide geboren aus der finnischen Historie und beide getragen vom Schicksal desselben Helden. Dessen bürgerlicher Name ist Otto Näs, was aber nur im Rahmen amtlicher Belange interessiert. Jenseits der Ordnungsfaktoren heißt er nach dem, was er tut, und er tut selten Ordnungsgebundenes. Im ersten Roman verdient sich Otto den Beinamen "Kanisterkönig", und zwar für erfolgreiche Schnapsschmuggelei während der finnischen Prohibition in den Zwanzigern. Im zweiten Roman avanciert er zum "Wolkenkletterer", was sich auf seine Abenteuer als amerikanischer Postflieger bezieht. Nach Amerika nämlich war Otto geflohen, als ihm Finnlands Polizei nicht nur wegen der Schnapssünden, sondern auch wegen eines Mordverdachts gefährlich auf den Pelz rückte.
Schon dies macht deutlich, daß es hier um eine urwüchsig-wilde Männerstory geht, sozusagen um die finnische Abart der heroischen Cowboy-Saga, nur eben ohne Cow. Oder doch nicht ganz ohne: Otto tritt nirgends als singulärer Heros auf. Immer sind da auch Verwandte, Nachbarn, Freunde oder Gegner - bodenständige Leute, von denen die meisten Feldarbeit leisten und Vieh halten. Zwar ist er selbst kein Bauer mehr, doch umdünsten ihn zeitlebens Ackerkrume und Stallmist. Dies auch in den Vereinigten Staaten, die übrigens das Land seiner Kindheit waren, bis der Vater starb und die Mutter mit ihren Halbwaisen zu den finnischen Ursprüngen heimkehrte. In seiner zweiten Emigration gewinnt Otto einen in Finnland geborenen Farmer zum Freund, und in dessen Hütte erreicht ihn die Zeitungsmeldung, daß er daheim vom Mordverdacht gereinigt sei, also heimkehren könne. Was er auch tut.
Ein amerikanisch-finnischer Country-Krimi mit glücklichem Ausgang? Das wäre simpel geurteilt. Gewiß, die Romanfabel rankt sich um den wilden Otto. Aber die aus der Fabel wuchernde Handlung gewinnt schnell ein solches Maß an epischer Breite, daß die Haupt- und Titelfigur im Strom der Erzählung fast unterzugehen droht, jedenfalls über weite Strecken dem Blick entschwindet. Denn Sund hat noch eine Unmenge mehr zu berichten: von Ottos Mutter Hanna und ihrem Kramladen im hinterwäldlerischen Dorf; von der Lehrerin Anna, die mit Otto ihre Ehe brach, und das Töchterchen Margareta zur Welt brachte; vom Omnibusunternehmer Holm und dessen Sohn Charles, der einst Margareta heiraten und Ottos Enkel Carl-Johan zeugen wird, den Haupterzähler der ein Jahrhundert füllenden Familiengeschichte.
Carl-Johan, Erzählhelfer und Generationsgenosse des 1953 geborenen Autors Sund, ist nicht bloß mitteilungsfreudig, er ist auch mit umfangreichem Weltwissen ausgestattet, obendrein angenehm spottlustig. Wenn er die Personnage seiner Finnland-Protokolle durchleuchtet, dann beschenkt er uns nicht nur mit überzeugenden Lebensläufen, sondern immer wieder mit ironischen Glanzlichtern. Großvater Otto, die übrige Verwandtschaft, überhaupt alle finnischen Leute stecken tief in der finnischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Und damit man versteht, was da historisch ablief und wie das zur europäischen Gesamtgeschichte beitrug, porträtiert Sund - respektive sein Carl-Johan - jede Figur auch unter politischen Aspekten: demokratisch, kommunistisch oder faschistisch betont, aktionsbesessen oder passiv nörgelnd.
Ungeachtet der nationalen Besonderheiten sind die Romanfinnen allesamt gewöhnliche Menschen. Man kann sich bald in sie hineindenken, kann ihre privaten wie politischen Obsessionen leicht verstehen. Was man weniger verstehen kann, ist, daß der Romanautor seinem Gewerbe offenbar nicht so ganz traut. Er läßt Carl-Johan und Otto wieder und wieder versichern, sie seien bloß Erzähler, was aus ihren Mündern komme, spiegele zwar die Wirklichkeit, sei aber möglicherweise nicht mit ihr identisch. Sie erwähnen das stets von neuem, wenn man über der munteren Lektüre die vorige Warnung gerade vergessen hat.
Der Leser wird also immer dann aus seiner Illusion gerissen, wenn seine Bereitwilligkeit, die kunterbunten Volksgeschichten zu glauben, am größten ist. Das verwirrt und bildet einen Grund dafür, daß man anfallweise Distanz zum Roman empfindet. Ein anderer Grund ist der Umgang mit national- und lokalgebundenen Begriffen, die uns Lesern niemand erklärt. Es wäre schon nett gewesen, wenn der Verlag uns mit ein paar Anmerkungen versorgt hätte.
SABINE BRANDT
Lars Sund: "Der Wolkenkletterer". Roman. Aus dem Finnlandschwedischen übersetzt von Jörg Scherzer. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 2001. 432 S., geb., 22,80.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kanisterkönig: Lars Sund besteigt den Postflieger
Beschäftigt man sich genauer mit Finnland, dann erweist sich das Land als geschichts- und geschichtenschwer, lohnend für Neugiertouristen und natürlich geeignet als Bühne für die erzählende Kunst. Exakt so nutzte es der Finnlandschwede Lars Sund in seinen zwei bisher erschienenen Romanen, beide geboren aus der finnischen Historie und beide getragen vom Schicksal desselben Helden. Dessen bürgerlicher Name ist Otto Näs, was aber nur im Rahmen amtlicher Belange interessiert. Jenseits der Ordnungsfaktoren heißt er nach dem, was er tut, und er tut selten Ordnungsgebundenes. Im ersten Roman verdient sich Otto den Beinamen "Kanisterkönig", und zwar für erfolgreiche Schnapsschmuggelei während der finnischen Prohibition in den Zwanzigern. Im zweiten Roman avanciert er zum "Wolkenkletterer", was sich auf seine Abenteuer als amerikanischer Postflieger bezieht. Nach Amerika nämlich war Otto geflohen, als ihm Finnlands Polizei nicht nur wegen der Schnapssünden, sondern auch wegen eines Mordverdachts gefährlich auf den Pelz rückte.
Schon dies macht deutlich, daß es hier um eine urwüchsig-wilde Männerstory geht, sozusagen um die finnische Abart der heroischen Cowboy-Saga, nur eben ohne Cow. Oder doch nicht ganz ohne: Otto tritt nirgends als singulärer Heros auf. Immer sind da auch Verwandte, Nachbarn, Freunde oder Gegner - bodenständige Leute, von denen die meisten Feldarbeit leisten und Vieh halten. Zwar ist er selbst kein Bauer mehr, doch umdünsten ihn zeitlebens Ackerkrume und Stallmist. Dies auch in den Vereinigten Staaten, die übrigens das Land seiner Kindheit waren, bis der Vater starb und die Mutter mit ihren Halbwaisen zu den finnischen Ursprüngen heimkehrte. In seiner zweiten Emigration gewinnt Otto einen in Finnland geborenen Farmer zum Freund, und in dessen Hütte erreicht ihn die Zeitungsmeldung, daß er daheim vom Mordverdacht gereinigt sei, also heimkehren könne. Was er auch tut.
Ein amerikanisch-finnischer Country-Krimi mit glücklichem Ausgang? Das wäre simpel geurteilt. Gewiß, die Romanfabel rankt sich um den wilden Otto. Aber die aus der Fabel wuchernde Handlung gewinnt schnell ein solches Maß an epischer Breite, daß die Haupt- und Titelfigur im Strom der Erzählung fast unterzugehen droht, jedenfalls über weite Strecken dem Blick entschwindet. Denn Sund hat noch eine Unmenge mehr zu berichten: von Ottos Mutter Hanna und ihrem Kramladen im hinterwäldlerischen Dorf; von der Lehrerin Anna, die mit Otto ihre Ehe brach, und das Töchterchen Margareta zur Welt brachte; vom Omnibusunternehmer Holm und dessen Sohn Charles, der einst Margareta heiraten und Ottos Enkel Carl-Johan zeugen wird, den Haupterzähler der ein Jahrhundert füllenden Familiengeschichte.
Carl-Johan, Erzählhelfer und Generationsgenosse des 1953 geborenen Autors Sund, ist nicht bloß mitteilungsfreudig, er ist auch mit umfangreichem Weltwissen ausgestattet, obendrein angenehm spottlustig. Wenn er die Personnage seiner Finnland-Protokolle durchleuchtet, dann beschenkt er uns nicht nur mit überzeugenden Lebensläufen, sondern immer wieder mit ironischen Glanzlichtern. Großvater Otto, die übrige Verwandtschaft, überhaupt alle finnischen Leute stecken tief in der finnischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Und damit man versteht, was da historisch ablief und wie das zur europäischen Gesamtgeschichte beitrug, porträtiert Sund - respektive sein Carl-Johan - jede Figur auch unter politischen Aspekten: demokratisch, kommunistisch oder faschistisch betont, aktionsbesessen oder passiv nörgelnd.
Ungeachtet der nationalen Besonderheiten sind die Romanfinnen allesamt gewöhnliche Menschen. Man kann sich bald in sie hineindenken, kann ihre privaten wie politischen Obsessionen leicht verstehen. Was man weniger verstehen kann, ist, daß der Romanautor seinem Gewerbe offenbar nicht so ganz traut. Er läßt Carl-Johan und Otto wieder und wieder versichern, sie seien bloß Erzähler, was aus ihren Mündern komme, spiegele zwar die Wirklichkeit, sei aber möglicherweise nicht mit ihr identisch. Sie erwähnen das stets von neuem, wenn man über der munteren Lektüre die vorige Warnung gerade vergessen hat.
Der Leser wird also immer dann aus seiner Illusion gerissen, wenn seine Bereitwilligkeit, die kunterbunten Volksgeschichten zu glauben, am größten ist. Das verwirrt und bildet einen Grund dafür, daß man anfallweise Distanz zum Roman empfindet. Ein anderer Grund ist der Umgang mit national- und lokalgebundenen Begriffen, die uns Lesern niemand erklärt. Es wäre schon nett gewesen, wenn der Verlag uns mit ein paar Anmerkungen versorgt hätte.
SABINE BRANDT
Lars Sund: "Der Wolkenkletterer". Roman. Aus dem Finnlandschwedischen übersetzt von Jörg Scherzer. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 2001. 432 S., geb., 22,80
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dies ist bereits der zweite Roman, in dem der finnisch-schwedische Autor die historisch verbürgte Figur des Otto Näs auftreten lässt und Sabine Brandt folgt auch seinem weiteren Lebensweg, der ihn als Postflieger nach Amerika führt, bereitwillig. Die Hauptfigur, die Finnland wegen Mordverdacht und "Schnapssünden" verlassen muss, bilde den Mittelpunkt einer "urwüchsig-wilden Männerstory", und es sei nur schade, dass Sund sie aus lauter Fabulierlust "über weite Strecken aus dem Blick verliere" und sich in den Geschichten seiner Nebenfiguren verstricke, kritisiert die Rezensentin. Trotzdem genießt sie die "mit umfangreichem Weltwissen ausgestatteten, obendrein angenehm spottlustigen" Ausführungen des Erzählers, der sich als Enkel des legendären Otto Näs herausstellt. Gern würde sie sich ein bisschen mehr in die "muntere Lektüre" fallen lassen, aber zu ihrem Bedauern reißt die Betonung durch den Erzähler, dies sei eben nur eine Erzählung nach der Wirklichkeit, sie immer wieder aus der angenehmen Illusion. Zum Schluss moniert Brandt noch das Fehlen eines Glossars, denn die vielen "national- und lokalgebundenen Begriffe" brauchen ihrer Ansicht nach dringend eine Erklärung, wenn der Leser sie verstehen soll.
© Perlentaucher Medien GmbH
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