Was könnte die Sphinx von Ninive erzählen? Worauf hatte Medusas Friseur zu achten? Und hat Atlantis womöglich nie irgendwo anders existiert als in den Köpfen der Liebenden? In Silke Scheuermanns Gedichten korrespondieren Ausflüge ins Mythische mit lakonischen Beschreibungen der Jetztzeit. Da zeigen Ärzte den Träumenden im Schlaf neue Perspektiven der Schönheit auf, da wünscht sich Alice ein Rendezvous mit Rembrandt, da beobachten die Wände des Museums einmal umgekehrt die Besucher. Unter ihren barock anmutenden Überschriften beschreiben die Texte Suchbewegungen. Städter und andere Unbehauste sehnen sich nach der Aufhebung eigener Zerbrechlichkeit in jenen Momenten, da die Realität Schlupflöcher bekommt: nach dem "zärtlichsten Punkt im All", nach einer glücklichen Kulisse für ihre Inszenierungen.
Silke Scheuermann stellt im Frankfurter Literaturhaus ihren neuen Gedichtband vor
Halbe Sachen will Silke Scheuermann nicht machen - das Hinundherspringen hingegen zwischen Arbeiten, zwischen Lektüren auch, gehört zu ihrer Natur. Die Gedichte ihres neuen Bandes "Der zärtlichste Punkt im All", der in diesen Tagen erscheint und den sie heute im Frankfurter Literaturhaus vorstellen wird, seien daher auch "eher nebenbei" entstanden, sagt sie.
Eigentlich habe sie an Prosatexten gearbeitet, die ihr viel Konzentration abverlangten. Da kam die Arbeit an den Gedichten gerade recht, "zur Entspannung". Selbst das stetige Umarbeiten der Texte sei ohne den Druck geschehen, den ihr die Prosa verursache, berichtet die junge Frankfurter Autorin, die demnächst Erzählungen veröffentlichen will.
"Flüsternde Dörfer" heißt das erste Gedicht des Bandes, die Verlockungen der Hochhäuser und ein Selbstmord verbergen sich darin. "Das war im Herbst 2001, damals haben ja alle angefangen, etwas über Hochhäuser zu schreiben", bemerkt Scheuermann dazu trocken. Inzwischen ist einige Zeit vergangen, und die übrigen Gedichte des Bandes machen sich auf zu Wanderungen an die mythischen Orte: nach Rom, nach Ninive, nach Atlantis. Es sprechen die Steine, die Mauern, doch auch ein lyrisches Ich, das das Verlorensein in der Großstadt kennt und "die Obsession, eine Vergangenheit zu haben", wie der erste Teil des schmalen Bandes überschrieben ist.
In den vergangenen drei Jahren hat sie mit ihren Gedichten Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Scheuermann, 1973 in Karlsruhe geboren, hat 2001 im Suhrkamp Verlag "Der Tag, an dem die Möwen zweistimmig sangen" veröffentlicht, im selben Jahr hat sie auch den Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt erhalten.
Seither hat sich einiges in ihrem Leben verändert: An der Dissertation zu "Kafka und das Theater", die an der Universität Frankfurt entstehen sollte, arbeitet sie nicht weiter. Denn bei allem Hüpfen zwischen den Projekten wurde ihr klar: "Ich kann nur eine Sache ganz machen." Lange hatte sie, zwar intensiv, doch stets zum Privatvergnügen, an ihren Gedichten gearbeitet. Das zum Beruf zu machen sei ihr damals nicht in den Sinn gekommen: "Ich habe immer gern geschrieben - also dachte ich: Ich gehe zur Zeitung." Mit 25 Jahren beschloß sie, "mit dem Dichten etwas anzufangen". Und obwohl es ihr zunächst ein wenig seltsam vorkam, sich mit ihren Texten vorzustellen, sei der Anfang gar nicht so schwer gewesen, findet sie - es sei ja auch die Zeit des vielbeschriebenen "Fräuleinwunders" in der deutschen Literatur gewesen, das ein Interesse an jungen Autorinnen weckte.
Seitdem ist sie Teil der Literaturszene, finanziert sich mit Lesungen, die sie kreuz und quer durch Deutschland, ins benachbarte Ausland und sogar nach Korea führten, und hat zahlreiche Stipendien erhalten, unter anderem am Literarischen Colloquium in Berlin: "Da kommt man zum Arbeiten, weil es keine Ersatzhandlungen gibt." Außerdem lerne sie durch Stipendien und Lesungen Kollegen kennen - eine wichtige Bereicherung. "Gerade für Lyriker, die sich gern einkapseln, ist das gar nicht schlecht", findet Scheuermann, die sich in dieser Beziehung als typische Vertreterin ihrer Zunft sieht. Daß diese finanzierten Arbeitsaufenthalte auch eine hochgeschätzte Unterstützung junger Autoren sind, verhehlt sie nicht. Dennoch spürt auch sie, was oft behauptet wird: daß Lyrik im Kommen sei. "Ich hätte nie im Leben gedacht, daß man so viele Lesungen macht und so viel herumreist, daß es so viele Lesebühnen und Lesecafés gibt", sagt Scheuermann. Nach intensiven Arbeitsphasen wird sie nun wieder in den Rhythmus der Lesereisen finden: Gleich nach Frankfurt steht Graz auf dem Programm - mit einer von ihr verehrten Kollegin, der dänischen Lyrikerin Inger Christensen.
EVA-MARIA MAGEL
Silke Scheuermann liest heute um 20 Uhr im Literaturhaus Frankfurt.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Harald Hartung hält sehr viel vom zweiten Gedichtband der Autorin, deren Debütband "Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen" er bereits "makellos" fand. An den 37 Gedichte dieses zweiten Bandes beeindruckt ihn besonders der diskrete, ironische Ton und die "zutiefst skeptische Intellektualität". Silke Scheuermann liebe es, die Dinge zu verkleinern und dann sofort "unsere sentimentale Sicherheit" zu desillusionieren - und der Rezensent liebt das poetische Verfahren der Dichterin. Eine Vorliebe entwickelt er zudem für die langen und witzigen Gedichtüberschriften. Ihm imponiert Scheuermanns Verzicht aufs Tragische und das ironische Echo auf das lyrische Pathos einer Ingeborg Bachmann, in deren Todesjahr Scheuermann geboren wurde, wie Hartung bemerkt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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