Der junge Moskauer Journalist Sascha erhält den Auftrag, für sein Blatt einige Porträts nach New York ausgewanderter Russen zu verfassen. In Brooklyn, wo in "Little Odessa" mehrere hunderttausend russische Emigranten leben, lernt er den mysteriösen Geschäftsmann Markow kennen. Er spürt bald, dass den todkranken Zar von Brooklyn ein bedrohliches Geheimnis umgibt. Zurück in Moskau erkennt Sascha, dass sich auch der ehemalige KGB und mächtige Verbrechersyndikate für Markow interessieren. Auf der Suche nach der Wahrheit gerät Sascha zwischen die Mühlsteine der wahren Machthaber Russlands und bekommt zu spüren, dass niemand der grausamen Realität des Ostens entkommen kann. In seinem sprachmächtigen, an den großen russischen Erzählern geschulten Roman entfaltet Ulrich Schmid ein figuren- und geschichtenreiches Panorama und macht die unüberwindlichen Gegensätze zwischen der russischen und der westlichen Mentalität anschaulich. Mit Sascha, dessen amerikanischer Freundin Tracy und dem faszinie renden Markow hat er unvergessliche Figuren geschaffen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2000Fischauge, sei wachsam!
Wodka-Fondue: Ulrich Schmids Roman "Der Zar von Brooklyn"
Ulrich Schmid arbeitete von 1990 bis 1995 als Auslandskorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung" in Moskau. Die nächsten vier Jahre verbrachte er als Korrespondent in Washington. Der Schweizer Kosmopolit beweist nun erstaunlichen Orientierungssinn, indem er ein Romandebüt über Russland auf postsowjetischem Schlingerkurs vorlegt - aus der Perspektive eines Moskauer Journalisten. Der Erzähler Alexander Michailowitsch Zwetkow, genannt Sascha, ist 31 Jahre alt und Redakteur bei der Zeitschrift Sputnik. Bei einem Journalistenwettbewerb gewinnt er eine Reise nach Amerika. Während seiner Recherchen über russische Einwanderer lernt er in "Little Odessa", Brooklyn, einen todkranken mysteriösen Import-Export-Millionär kennen. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Vater-Sohn-Beziehung. Aber schnell tauchen blasse, fischäugige Gestalten auf, errichten ihre Drohkulisse aus abgewetzten Lederjacken, Tätowierungen und bedrohlich knackenden Fingergelenken, kippen Gartenstühle um und fordern Schutzgeld. Was erst nach provinziellem Kleinkriminellenmilieu aussieht, entpuppt sich nach und nach als eine kriminalistische Internationale, in der ehemalige Genossen des KGB die Schlüsselpositionen besetzen.
Die Schlapphüte aus der Lubjanka haben überall ihre Finger im Spiel. Und weil die Realität bekanntlich die Kunst imitiert, bekommt Russland demnächst mit Putin einen Präsidenten, der nach eigenen Angaben seine Berufung zum Geheimdienstler schon als Neuntklässler verspürte. Sascha gerät immer tiefer in undurchsichtige Verstrickungen und verliert immer mehr den Überblick. Um ihn herum wird gemordet, er selbst wird verschleppt, erniedrigt und geschlagen. Gleich einem postsowjetischen Simplicissimus durchquert er die transatlantischen mafiosen Wirrnisse. Parfümbesprenkelt treten millionenschwere "Biznismeni" aus ihrer Schattenwirtschaft und erobern Saschas gute Stube: "Federnd kam er mir durchs Wohnzimmer entgegen, als habe er sich eben von einer Liane aus dem Dschungel der russischen Wirtschaft zu uns herabgeschwungen." Gepanzert die Limousinen, verspiegelt die Sonnenbrillen. Die undurchschaubaren Organisationsstrukturen der Mafia reflektieren die Unübersichtlichkeit der neuen russischen Verhältnisse: Wer ist hier Strippenzieher, wer nur Marionette? Nicht weniger rätselhaft als die ehrenwerte Gesellschaft sind die internationalen Frauen. Die Amerikanerin duftet verführerisch im Nacken, die Russin hingegen riecht phantastisch hinterm Ohrläppchen. Aber beide verdrehen sie Sascha den sowieso schon schwer desorientierten Kopf. Betrügereien, Seitensprünge, Überkreuzverflechtungen: die Welt der organisierten Versprechen.
Ulrich Schmid untergräbt mit seinem Roman das Bedürfnis nach Authentizität und Folklore. Es ist verblüffend, wie überzeugend ein Schweizer aus der Sicht eines Russen über Russland und die Vereinigten Staaten schreiben kann. Zwischen Wodka und Fondue scheint die Chemie zu stimmen. Listig stimmt Schmid einen "Komm, Brüderchen, setz dich erst mal und nimm einen Schluck"-Ton an und vermittelt dem Leser das Gefühl, haargenau so müsste ein Russe schreiben, niemals hätten Russen anders geschrieben. Er entlarvt das Klischee der unergründlichen russischen Seele, indem er ihren vermeintlich so unnachahmlichen Tonfall glaubhaft imitiert. Mit der Mythologisierung von Nationalcharakteren betreibt er ein spöttisches Spiel.
"Der Zar von Brooklyn" ist ein perfekter Schmöker. Russlands Weite hat Schmid zu epischer Breite inspiriert. Typisch russisch? Verwirrend. Schmid beherrscht ebenso den schnellen Dialog wie die weit ausholende, rhythmisierte Beschreibung. Wenn dem Helden in dunklen Spelunken der Arm ausgekugelt wird, ändert man mitfühlend die Position im Lesesessel; bekommt Sascha Schläge auf die Ohren, hört man das nachschwingende Trommelfell in Dolby-C-Surround-Sound; und stürzt er in ein Eisloch, dreht man die Heizung höher. Als hätte Schmid nach einer programmatischen Ouvertüre für sinnliche Prosa gesucht, beginnt er seinen Roman nach dem Prolog mit einer langen Beschreibung der unterschiedlichen Gerüche Moskaus und treibt im gleichen Atemzug die gogolsche Phänomenologie des Riechorgans um drei, vier Nasenlängen voran. Für Sinneseindrücke findet Schmid Bilder von halluzinogener Präzision: "Einmal merkte ich, daß sie beim Sprechen auf meine Nase schaute, und ich spürte, wie unter ihrem Blick meine Schleimhäute trocken wurden und zu jucken begannen." Und immer wieder fließt die Moskwa durchs Bild, Parallelstrom im Cinemascope-Format zu Schmids mitreißendem Erzählfluss, der einen davonträgt, "als glitten wir ... dahin, von einer sanften Naturgewalt getrieben, einem Floß in der Strömung gleich".
Der Journalist Sascha richtet seine Erzählung als eine Art fünfhundertseitiges Bewerbungsschreiben an den Vorstandsvorsitzenden der ominösen Holding Aljans, den geheimnisvollen Iwan Andrejewitsch Gubin. Diese ungewöhnliche Bewerbung ist dicht besetzt mit Prosa-Perlen, ebenso wie eine Fernsehwand in einem Brooklyner Elektrogeschäft funkelt sie "wie ein von innen beleuchteter Eisberg". Wenn dieser Iwan Andrejewitsch auch nur den geringsten Sinn für erzählerische Pracht hat, wird er Saschas Bewerbung annehmen. Selbst in typischen Mafiakiller-Szenen bleibt Schmids Bilderwelt von preziöser Eleganz: "Dennoch wirkte er elastisch, ja dehnbar; bestimmt hätte sich sein Körper in die Länge gezogen wie Teig, wenn man ihn an einem Haken aufgehängt hätte." Während sich in der Literaturszene Russlands die unterschiedlichsten jungen Wilden austoben, setzt Schmid dem russischen Chaos geschmackvolle Schweizer Präzisionsarbeit entgegen. Dabei nimmt er Maß an Pasternak, nicht an Belyj. Während sich der Held am Ende seiner Abenteuer nach klaren Hierarchien und festen Strukturen sehnt, bemüht Schmid noch einmal den klassischen Formenkanon. Das ist vielleicht nicht ganz auf der Höhe der turbulenten Zeit, aber sehr spannend und genussreich. Seit September 1999 ist der Autor als Korrespondent seiner Zeitung in Peking beschäftigt. Man kann nur hoffen, dass die Zürcher Personalpolitik mitspielt und Ulrich Schmid demnächst einen einfühlsamen, kenntnisreichen und unterhaltsamen "Mandarin von Dschibuti" vorlegt.
STEPHAN MAUS
Ulrich Schmid: "Der Zar von Brooklyn". Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2000. 516 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wodka-Fondue: Ulrich Schmids Roman "Der Zar von Brooklyn"
Ulrich Schmid arbeitete von 1990 bis 1995 als Auslandskorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung" in Moskau. Die nächsten vier Jahre verbrachte er als Korrespondent in Washington. Der Schweizer Kosmopolit beweist nun erstaunlichen Orientierungssinn, indem er ein Romandebüt über Russland auf postsowjetischem Schlingerkurs vorlegt - aus der Perspektive eines Moskauer Journalisten. Der Erzähler Alexander Michailowitsch Zwetkow, genannt Sascha, ist 31 Jahre alt und Redakteur bei der Zeitschrift Sputnik. Bei einem Journalistenwettbewerb gewinnt er eine Reise nach Amerika. Während seiner Recherchen über russische Einwanderer lernt er in "Little Odessa", Brooklyn, einen todkranken mysteriösen Import-Export-Millionär kennen. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Vater-Sohn-Beziehung. Aber schnell tauchen blasse, fischäugige Gestalten auf, errichten ihre Drohkulisse aus abgewetzten Lederjacken, Tätowierungen und bedrohlich knackenden Fingergelenken, kippen Gartenstühle um und fordern Schutzgeld. Was erst nach provinziellem Kleinkriminellenmilieu aussieht, entpuppt sich nach und nach als eine kriminalistische Internationale, in der ehemalige Genossen des KGB die Schlüsselpositionen besetzen.
Die Schlapphüte aus der Lubjanka haben überall ihre Finger im Spiel. Und weil die Realität bekanntlich die Kunst imitiert, bekommt Russland demnächst mit Putin einen Präsidenten, der nach eigenen Angaben seine Berufung zum Geheimdienstler schon als Neuntklässler verspürte. Sascha gerät immer tiefer in undurchsichtige Verstrickungen und verliert immer mehr den Überblick. Um ihn herum wird gemordet, er selbst wird verschleppt, erniedrigt und geschlagen. Gleich einem postsowjetischen Simplicissimus durchquert er die transatlantischen mafiosen Wirrnisse. Parfümbesprenkelt treten millionenschwere "Biznismeni" aus ihrer Schattenwirtschaft und erobern Saschas gute Stube: "Federnd kam er mir durchs Wohnzimmer entgegen, als habe er sich eben von einer Liane aus dem Dschungel der russischen Wirtschaft zu uns herabgeschwungen." Gepanzert die Limousinen, verspiegelt die Sonnenbrillen. Die undurchschaubaren Organisationsstrukturen der Mafia reflektieren die Unübersichtlichkeit der neuen russischen Verhältnisse: Wer ist hier Strippenzieher, wer nur Marionette? Nicht weniger rätselhaft als die ehrenwerte Gesellschaft sind die internationalen Frauen. Die Amerikanerin duftet verführerisch im Nacken, die Russin hingegen riecht phantastisch hinterm Ohrläppchen. Aber beide verdrehen sie Sascha den sowieso schon schwer desorientierten Kopf. Betrügereien, Seitensprünge, Überkreuzverflechtungen: die Welt der organisierten Versprechen.
Ulrich Schmid untergräbt mit seinem Roman das Bedürfnis nach Authentizität und Folklore. Es ist verblüffend, wie überzeugend ein Schweizer aus der Sicht eines Russen über Russland und die Vereinigten Staaten schreiben kann. Zwischen Wodka und Fondue scheint die Chemie zu stimmen. Listig stimmt Schmid einen "Komm, Brüderchen, setz dich erst mal und nimm einen Schluck"-Ton an und vermittelt dem Leser das Gefühl, haargenau so müsste ein Russe schreiben, niemals hätten Russen anders geschrieben. Er entlarvt das Klischee der unergründlichen russischen Seele, indem er ihren vermeintlich so unnachahmlichen Tonfall glaubhaft imitiert. Mit der Mythologisierung von Nationalcharakteren betreibt er ein spöttisches Spiel.
"Der Zar von Brooklyn" ist ein perfekter Schmöker. Russlands Weite hat Schmid zu epischer Breite inspiriert. Typisch russisch? Verwirrend. Schmid beherrscht ebenso den schnellen Dialog wie die weit ausholende, rhythmisierte Beschreibung. Wenn dem Helden in dunklen Spelunken der Arm ausgekugelt wird, ändert man mitfühlend die Position im Lesesessel; bekommt Sascha Schläge auf die Ohren, hört man das nachschwingende Trommelfell in Dolby-C-Surround-Sound; und stürzt er in ein Eisloch, dreht man die Heizung höher. Als hätte Schmid nach einer programmatischen Ouvertüre für sinnliche Prosa gesucht, beginnt er seinen Roman nach dem Prolog mit einer langen Beschreibung der unterschiedlichen Gerüche Moskaus und treibt im gleichen Atemzug die gogolsche Phänomenologie des Riechorgans um drei, vier Nasenlängen voran. Für Sinneseindrücke findet Schmid Bilder von halluzinogener Präzision: "Einmal merkte ich, daß sie beim Sprechen auf meine Nase schaute, und ich spürte, wie unter ihrem Blick meine Schleimhäute trocken wurden und zu jucken begannen." Und immer wieder fließt die Moskwa durchs Bild, Parallelstrom im Cinemascope-Format zu Schmids mitreißendem Erzählfluss, der einen davonträgt, "als glitten wir ... dahin, von einer sanften Naturgewalt getrieben, einem Floß in der Strömung gleich".
Der Journalist Sascha richtet seine Erzählung als eine Art fünfhundertseitiges Bewerbungsschreiben an den Vorstandsvorsitzenden der ominösen Holding Aljans, den geheimnisvollen Iwan Andrejewitsch Gubin. Diese ungewöhnliche Bewerbung ist dicht besetzt mit Prosa-Perlen, ebenso wie eine Fernsehwand in einem Brooklyner Elektrogeschäft funkelt sie "wie ein von innen beleuchteter Eisberg". Wenn dieser Iwan Andrejewitsch auch nur den geringsten Sinn für erzählerische Pracht hat, wird er Saschas Bewerbung annehmen. Selbst in typischen Mafiakiller-Szenen bleibt Schmids Bilderwelt von preziöser Eleganz: "Dennoch wirkte er elastisch, ja dehnbar; bestimmt hätte sich sein Körper in die Länge gezogen wie Teig, wenn man ihn an einem Haken aufgehängt hätte." Während sich in der Literaturszene Russlands die unterschiedlichsten jungen Wilden austoben, setzt Schmid dem russischen Chaos geschmackvolle Schweizer Präzisionsarbeit entgegen. Dabei nimmt er Maß an Pasternak, nicht an Belyj. Während sich der Held am Ende seiner Abenteuer nach klaren Hierarchien und festen Strukturen sehnt, bemüht Schmid noch einmal den klassischen Formenkanon. Das ist vielleicht nicht ganz auf der Höhe der turbulenten Zeit, aber sehr spannend und genussreich. Seit September 1999 ist der Autor als Korrespondent seiner Zeitung in Peking beschäftigt. Man kann nur hoffen, dass die Zürcher Personalpolitik mitspielt und Ulrich Schmid demnächst einen einfühlsamen, kenntnisreichen und unterhaltsamen "Mandarin von Dschibuti" vorlegt.
STEPHAN MAUS
Ulrich Schmid: "Der Zar von Brooklyn". Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2000. 516 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Geradezu verzückt äußert sich Hans-Peter Kunisch über diesen Roman eines Schweizers, der aus der Ich-Perspektive eines russischen Journalisten über New York erzählt. Der Rezensent staunt über die Einfühlung in seinen Charakter, zu der Schmid - ehemals Moskau-, dann Amerikakorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung - fähig sei, so dass man ihm als Leser seine Anverwandlung an seinen russischen Helden durchaus abzunehmen scheint. Was auch immer in den Blick dieses jungen Russen hineingerät, ob es die in den USA so häufigen "Hochübergewichtigen" sind oder die russische Mafia - Kunisch findet es mit "körpergenauem Realismus" erzählt. Das Bedenken, ob dieser Realismus etwas Altmodisches sei, wischt Kunisch ob seiner Lesefreude mit leichter Hand bei Seite. Nein, gar nicht, und überhaupt wirke dieser Realismus heute wieder "neu". "Ulrich Schmid kann, was von der deutschsprachigen Literatur immer wieder gefordert wird: erzählen."
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH