Auf diese große, allerdings Fragment gebliebene Biographie Thomas Manns berufen sich die Autoren späterer Lebensschilderungen nahezu alle - und mit gutem Grund. Peter de Mendelssohn "baut mit höchst findig gewählten und treffend placierten Zitaten aus den Briefen (und anderen Quellen) ein Lebens- und Charakterbild des Mannes auf, das rund, plastisch, vielfältig facettiert sich vor unseren Augen gleichsam von selbst zusammensetzt" - wie Thomas Mann es in "Der alte Fontane" selbst exemplifiziert hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.1997Mutter aller Biographien
Der Mann-Clan spricht: Peter de Mendelssohns "Zauberer"
Der Gemeinplatz, daß Bücher ihre Schicksale haben, erwies sich auch an der Thomas-Mann-Biographie von Peter de Mendelssohn als gültig. Der 1969 festgelegten Planung zufolge sollte diese Lebensbeschreibung 1975, zum hundertsten Geburtstag des Autors, fertig sein. Da erschien dann zwar ein fast 1200 Seiten starkes Buch, aber es reichte nur bis 1918. Kein Hinweis verriet, ob diesem "ersten Teil" etwa nur ein zweiter oder vielleicht gar ein dritter folgen solle. Die Leser wurden statt dessen vertröstet, daß Literaturverzeichnis, Quellennachweise, Anmerkungen und Register sich "am Ende des abgeschlossenen Werkes" finden würden. Kein Wunder daher, daß einem Rezensenten der Gedanke kam, hochzurechnen, auf wie viele Seiten bei gleichbleibend breitem Darstellungsverfahren diese Biographie, die ja bis zum Todesjahr 1955 reichen würde, anschwellen mußte. Der Kritiker - es war Peter Wapnewski im "Spiegel" - kam auf sechs- bis siebentausend Seiten. Dazu bemerkte Marcel Reich-Ranicki in seiner Rezension (F.A.Z. vom 19. Juli 1975), einem veritablen Verriß mit Folgen, Wapnewski könne sich zwar um ein- oder zweitausend Seiten verrechnet haben, aber auch für eine Biographie von viertausend Seiten gäbe es keine Leser.
Die Probe auf das Exempel - sowohl was die prognostizierte Länge wie eine damit etwa herausgeforderte Leserschaft angeht - hat das von Thomas Mann selbst präparierte Schicksal verhindert. Es meldete sich bereits am 12. August 1975 energisch zu Wort. Denn da durften, nach zwanzigjähriger Sperrfrist, die versiegelten Pakete der Tagebücher geöffnet werden. Zwar dauerte es noch eine Weile bis zur Entscheidung, ob und in welcher Form die intimen, vom Verfasser selbst für literarisch wertlos erklärten Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen seien. Hingegen war sogleich klar, daß für die Fortsetzung von de Mendelssohns quasi familienamtlicher Biographie eine grundlegend neue Situation entstanden war. Und zwar nicht nur für die ab März 1933 lückenlos in den Tagebüchern dokumentierten Jahre. Denn in den Paketen fanden sich auch noch Diarien aus der Zeit von 1918 bis 1921. Alle übrigen aus den Jahren vor Hitlers Herrschaft hatte Thomas Mann 1945 im kalifornischen Exil verbrannt.
Die Herausgabe der Tagebücher wurde bald zu de Mendelssohns Hauptgeschäft. In den wenigen Jahren, die ihm noch bis zum Tod 1982 verblieben, erschienen die ersten fünf Bände. Hingegen gedieh die Fortsetzung der Biographie nur bis zu einem Kapitel über das Jahr 1919 und einem über 1933. Unabhängig von der nicht zu beantwortenden Frage, ob de Mendelssohn diese Kapitel später so noch hätte gelten lassen, präsentierten sie sich im Nachlaß doch als ausgearbeitete Texte. Zusammen mit einem durch Albert von Schirnding erstellten Kommentar und mit Registern wurden sie 1992 als stattlicher Zusatzband publiziert.
Daß die von de Mendelssohn bis zum Abschluß des Ganzen verschobenen Nachweise weiterhin für den Hauptband fehlten, blieb ein gravierendes Manko. Es wird erst jetzt mit einer auch im Text revidierten, von Cristina Klostermann betreuten Neuausgabe beseitigt. Das Manko hatte übrigens den seltsamen Nebeneffekt, daß Texte von Thomas Mann in der Sekundär-und Tertiärliteratur der vergangenen zwei Jahrzehnte häufig nach de Mendelssohn zitiert wurden. Vor allem jene Autoren, die ohnehin den "Zauberer", diese Stammesmutter aller nachfolgenden Biographien, bis an den Rand des Erlaubten und darüber hinaus plünderten, offenbarten mit solcher Zitierweise, daß es ihnen entweder am Fleiß, an den nötigen Kenntnissen oder an beidem für die eigentlich selbstverständliche Verifikation der Originale fehlte.
Wie schon der Untertitel durch seine Anspielung auf jenen des "Doktor Faustus" - "Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde" - verrät, war es de Mendelssohns Ehrgeiz, das Leben seines Protagonisten höchst ausführlich, unter Aufwand möglichst vieler Quellen, zu erzählen. Was dergestalt als dokumentarisches Großepos gedacht war, dient inzwischen vermutlich weniger als Lese- denn als Nachschlagwerk. Zum einen wegen der wahrhaft barocken Fülle und Länge der Zitate, zum anderen, weil hier vieles von dem vor dem Vergessen bewahrt wird, was man die oral history des Mann-Clans nennen darf. Auch sie besteht aus Geschichten. Da ist der Erzähler in seinem Element, und er hat keine Scheu, die Grenze zu überschreiten, hinter der das Land der Spekulationen liegt und wo die Legenden blühen. Wie es dazu kam, daß der große Ernährer der Seinen vertraulich "Zauberer", in Briefen nach einfach "Z.", genannt wurde, ist offenbar nicht mehr so recht zu klären. Von Erika Mann war 1954 zu hören, die Kinder hätten den Vater so genannt, "nicht mehr ganz sicher, warum". 1968 hingegen glaubte sie sich zu erinnern, der Name sei "ganz harmlos und ganz natürlich" gekommen: sie habe den Vater für ein privates Faschingsfest als Zauberer kostümiert; "von Stund an nannte ich ihn so". Als de Mendelssohn den Kosenamen zum Buchtitel machte, konnte er den inflationären Gebrauch des Wortes nicht vorhersehen. Daß die mehr und mehr mit Bedeutung aufgeladene intime Anrede derweilen zum abgegriffensten Thomas-Mann-Klischee verkommen ist, sollte man dem neuen, alten Buch daher nicht unbesehen aufs Minuskonto setzen. ECKHARD HEFTRICH
Peter de Mendelssohn: "Der Zauberer". Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe in drei Bänden. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1996. 2550 S., geb., 128,- DM.
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Der Mann-Clan spricht: Peter de Mendelssohns "Zauberer"
Der Gemeinplatz, daß Bücher ihre Schicksale haben, erwies sich auch an der Thomas-Mann-Biographie von Peter de Mendelssohn als gültig. Der 1969 festgelegten Planung zufolge sollte diese Lebensbeschreibung 1975, zum hundertsten Geburtstag des Autors, fertig sein. Da erschien dann zwar ein fast 1200 Seiten starkes Buch, aber es reichte nur bis 1918. Kein Hinweis verriet, ob diesem "ersten Teil" etwa nur ein zweiter oder vielleicht gar ein dritter folgen solle. Die Leser wurden statt dessen vertröstet, daß Literaturverzeichnis, Quellennachweise, Anmerkungen und Register sich "am Ende des abgeschlossenen Werkes" finden würden. Kein Wunder daher, daß einem Rezensenten der Gedanke kam, hochzurechnen, auf wie viele Seiten bei gleichbleibend breitem Darstellungsverfahren diese Biographie, die ja bis zum Todesjahr 1955 reichen würde, anschwellen mußte. Der Kritiker - es war Peter Wapnewski im "Spiegel" - kam auf sechs- bis siebentausend Seiten. Dazu bemerkte Marcel Reich-Ranicki in seiner Rezension (F.A.Z. vom 19. Juli 1975), einem veritablen Verriß mit Folgen, Wapnewski könne sich zwar um ein- oder zweitausend Seiten verrechnet haben, aber auch für eine Biographie von viertausend Seiten gäbe es keine Leser.
Die Probe auf das Exempel - sowohl was die prognostizierte Länge wie eine damit etwa herausgeforderte Leserschaft angeht - hat das von Thomas Mann selbst präparierte Schicksal verhindert. Es meldete sich bereits am 12. August 1975 energisch zu Wort. Denn da durften, nach zwanzigjähriger Sperrfrist, die versiegelten Pakete der Tagebücher geöffnet werden. Zwar dauerte es noch eine Weile bis zur Entscheidung, ob und in welcher Form die intimen, vom Verfasser selbst für literarisch wertlos erklärten Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen seien. Hingegen war sogleich klar, daß für die Fortsetzung von de Mendelssohns quasi familienamtlicher Biographie eine grundlegend neue Situation entstanden war. Und zwar nicht nur für die ab März 1933 lückenlos in den Tagebüchern dokumentierten Jahre. Denn in den Paketen fanden sich auch noch Diarien aus der Zeit von 1918 bis 1921. Alle übrigen aus den Jahren vor Hitlers Herrschaft hatte Thomas Mann 1945 im kalifornischen Exil verbrannt.
Die Herausgabe der Tagebücher wurde bald zu de Mendelssohns Hauptgeschäft. In den wenigen Jahren, die ihm noch bis zum Tod 1982 verblieben, erschienen die ersten fünf Bände. Hingegen gedieh die Fortsetzung der Biographie nur bis zu einem Kapitel über das Jahr 1919 und einem über 1933. Unabhängig von der nicht zu beantwortenden Frage, ob de Mendelssohn diese Kapitel später so noch hätte gelten lassen, präsentierten sie sich im Nachlaß doch als ausgearbeitete Texte. Zusammen mit einem durch Albert von Schirnding erstellten Kommentar und mit Registern wurden sie 1992 als stattlicher Zusatzband publiziert.
Daß die von de Mendelssohn bis zum Abschluß des Ganzen verschobenen Nachweise weiterhin für den Hauptband fehlten, blieb ein gravierendes Manko. Es wird erst jetzt mit einer auch im Text revidierten, von Cristina Klostermann betreuten Neuausgabe beseitigt. Das Manko hatte übrigens den seltsamen Nebeneffekt, daß Texte von Thomas Mann in der Sekundär-und Tertiärliteratur der vergangenen zwei Jahrzehnte häufig nach de Mendelssohn zitiert wurden. Vor allem jene Autoren, die ohnehin den "Zauberer", diese Stammesmutter aller nachfolgenden Biographien, bis an den Rand des Erlaubten und darüber hinaus plünderten, offenbarten mit solcher Zitierweise, daß es ihnen entweder am Fleiß, an den nötigen Kenntnissen oder an beidem für die eigentlich selbstverständliche Verifikation der Originale fehlte.
Wie schon der Untertitel durch seine Anspielung auf jenen des "Doktor Faustus" - "Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde" - verrät, war es de Mendelssohns Ehrgeiz, das Leben seines Protagonisten höchst ausführlich, unter Aufwand möglichst vieler Quellen, zu erzählen. Was dergestalt als dokumentarisches Großepos gedacht war, dient inzwischen vermutlich weniger als Lese- denn als Nachschlagwerk. Zum einen wegen der wahrhaft barocken Fülle und Länge der Zitate, zum anderen, weil hier vieles von dem vor dem Vergessen bewahrt wird, was man die oral history des Mann-Clans nennen darf. Auch sie besteht aus Geschichten. Da ist der Erzähler in seinem Element, und er hat keine Scheu, die Grenze zu überschreiten, hinter der das Land der Spekulationen liegt und wo die Legenden blühen. Wie es dazu kam, daß der große Ernährer der Seinen vertraulich "Zauberer", in Briefen nach einfach "Z.", genannt wurde, ist offenbar nicht mehr so recht zu klären. Von Erika Mann war 1954 zu hören, die Kinder hätten den Vater so genannt, "nicht mehr ganz sicher, warum". 1968 hingegen glaubte sie sich zu erinnern, der Name sei "ganz harmlos und ganz natürlich" gekommen: sie habe den Vater für ein privates Faschingsfest als Zauberer kostümiert; "von Stund an nannte ich ihn so". Als de Mendelssohn den Kosenamen zum Buchtitel machte, konnte er den inflationären Gebrauch des Wortes nicht vorhersehen. Daß die mehr und mehr mit Bedeutung aufgeladene intime Anrede derweilen zum abgegriffensten Thomas-Mann-Klischee verkommen ist, sollte man dem neuen, alten Buch daher nicht unbesehen aufs Minuskonto setzen. ECKHARD HEFTRICH
Peter de Mendelssohn: "Der Zauberer". Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe in drei Bänden. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1996. 2550 S., geb., 128,- DM.
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