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Colm Tóibíns großer Roman über Thomas Mann
Von der Kindheit in Lübeck bis zur Heirat in München, von der Gegnerschaft gegen die Nazis bis zum amerikanischen Exil. Über die vielen Gesichter des weltberühmten Autors und Familienvaters, der sein Gefühlsleben verborgen hielt, innerlich zerrissen zwischen Begehren und Pflichtgefühl, zwischen Bürgerlichkeit und künstlerischer Askese, wurde selten so feinfühlig, empathisch und sachte geschrieben. Ein Künstlerroman, wie man ihn in Deutschland noch nie gelesen hat.

Produktbeschreibung
Colm Tóibíns großer Roman über Thomas Mann

Von der Kindheit in Lübeck bis zur Heirat in München, von der Gegnerschaft gegen die Nazis bis zum amerikanischen Exil. Über die vielen Gesichter des weltberühmten Autors und Familienvaters, der sein Gefühlsleben verborgen hielt, innerlich zerrissen zwischen Begehren und Pflichtgefühl, zwischen Bürgerlichkeit und künstlerischer Askese, wurde selten so feinfühlig, empathisch und sachte geschrieben. Ein Künstlerroman, wie man ihn in Deutschland noch nie gelesen hat.
Autorenporträt
Colm Tóibín, 1955 in Enniscorthy/Irland geboren, ist einer der wichtigsten irischen Autoren der Gegenwart. Er lebt in Dublin und New York, wo er an der Columbia University unterrichtet. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem internationalen IMPAC-Preis und dem David Cohen Prize for Literature.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensent Adam Soboczynski rät allen jenen zur Lektüre dieses Buches, die sich wenig mit Thomas Mann auskennen. Alle anderen werden wenig Neues erfahren, fährt der Kritiker fort, für den das aber gar kein Nachteil ist. Denn im Grunde hat Colm Toibin die erste umfassende Thomas-Mann-Biografie geschrieben, staunt Soboczynski: So nüchtern, präzise und entsprechend wenig literarisch folgt der irische Schriftsteller den Lebensstationen Manns, dass der Rezensent nach der Lektüre noch einmal bestens Bescheid weiß über homosexuelle Affären oder Manns Auseinandersetzung mit den Nazis. Dass Familie und Werk kaum behandelt werden und auch die psychologische Perspektive im Roman zu kurz kommt, stört den Rezensenten nicht besonders.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.2021

Die Erdbeeren bitte gründlich waschen
Literarische Freiheit oder übergriffige Indiskretion? Colm Tóibíns Thomas-Mann-Roman "Der Zauberer"

Er habe gelacht, aber unter seinem Niveau - zu einem solchen literarischen Urteil, waghalsig balancierend zwischen unverhohlenem Eigenlob und feiner Selbstironie, war nur Marcel Reich-Ranicki in der Lage. Wichtiger aber ist das Lektürephänomen, das er mit seinem witzigen Aperçu auf den Punkt brachte: nämlich das, sich von einem Buch unterhalten zu lassen, obwohl man sich völlig im Klaren darüber ist, dass eigentlich alles daran dagegen spricht. Genauso mag es einem bei der Lektüre des neuen, am Montag erscheinenden Romans von Colm Tóibín ergehen, der auf über 500 Seiten die Lebensgeschichte Thomas Manns erzählt, in all its completeness, von den Anfängen in Lübeck und München über die Exiljahre in Princeton und Pacific Palisades bis zu den letzten Tagen im schweizerischen Kilchberg.

Der erste Eindruck: Auf so eine Idee kann nur ein Ire, jedenfalls ein mit dem hiesigen Buchmarkt nicht allzu vertrauter Schriftsteller kommen. Und tatsächlich richtet sich Tóibín zunächst an eine anglophone, sicher auch internationale Leserschaft, die vom Zerfall der hanseatischen Bürgerwelt, dem erbitterten Bruderstreit zwischen Thomas und Heinrich, dem publizistischen Kampf gegen Hitler meist wohl nur Sporadisches weiß. Hierzulande scheint der Markt hingegen so übersättigt mit Biographien und Bildbänden über Thomas Mann und die Seinen, dass man seine Lesezeit besser zubringen kann als mit dem "Zauberer", vorzugsweise mit dessen späten Erzählungen, die jüngst im Rahmen der "großen kommentierten Frankfurter Ausgabe" der Werke Thomas Manns in einer genialen Neuedition erschienen sind.

Und wo gerade die Rede von modernem Erzählen ist: Es verblüfft schon sehr, wie bruchlos, wie frei von jeder Infragestellung Tóibín das Leben Thomas Manns ins literarische Werk setzt. Wo etwa Heinrich Breloer in seinem vielgesehenen Fernsehdreiteiler "Die Manns" beständig hin und her wechselt zwischen Zeitzeugen-Interviews, historischen Aufnahmen und nachgestellten biographischen Szenen, um so das Bewusstsein für den Konstruktionscharakter seiner Annäherung wachzuhalten, entfaltet "Der Zauberer" eine makellose Illusion, die vorgibt, Thomas Mann hätte so und nicht anders gelebt, gedacht, gefühlt, ja sogar geträumt. Auf diesem Wege, und verstärkt noch durch einen persönlichen, immer wieder intimen Erzählton, schiebt Tóibín seinen Lesern eine psychologische Gesamtinterpretation unter: Im Zweifelsfall steht für ihn hinter allem Denken, Handeln und Schreiben Thomas Manns dessen sorgsam verborgene Homosexualität - ein Konflikt, den er bereits in seinem Roman über den späten Henry James, "The Master" betitelt, ähnlich in den Mittelpunkt gestellt hat.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Dabei geht Tóibín bisweilen so weit, die Leerstellen der biographischen Überlieferung kurzerhand durch seine Imagination zu füllen. Konkret geschieht dies im Falle der frühen Tagebücher, die Thomas Mann vor dem Gang ins Schweizer Exil in München zurücklassen musste, bangend, dass die Nazis sie in die Hände bekommen würden, denn so wäre deutlich geworden, "wer er wirklich war und wovon er träumte . . ., dass sein distanzierter gelehrter Ton, seine steife Förmlichkeit, sein Interesse an Ehrungen und Hofiertwerden lediglich Masken waren, die niedere sexuelle Begierden unkenntlich machen sollten". Bis in einzelne Details hinein schildert Tóibín, was in den Journalen an Skandalösem vermeintlich zu lesen war: "Es musste ein paar weitere Einträge geben, in denen er von Klaus' Körper sprach oder davon, wie sehr ihn der Anblick von Klaus in seinem Badeanzug erregte." Ist das noch literarische Freiheit, begründetes Dazuerfinden oder schon übergriffige Indiskretion?

Die Folgen dieser thematischen Akzentuierung sind jedenfalls weitreichend, denn sie führt dazu, dass alles, was nicht unmittelbar in den eng umrissenen Deutungsrahmen passt, nur der Vollständigkeit halber miterwähnt wird. Der gigantische Josephsroman etwa wird nur ein einziges Mal namentlich genannt, gerade so, als wären die vier Bände beiläufig entstanden, während gleichzeitig "Der Tod in Venedig" zum eigentlichen Hauptwerk erkoren wird. Und auch der politische Thomas Mann, dessen Überzeugungen in Tóibíns Lesart meist nur von außen an ihn herangetragene Fremdmeinungen sind, gerät unter die erzählerischen Räder des Romans: Der chauvinistische Nationalismus, sein Eintreten für Kaiser und Krieg? Habe ihm sein damaliger Freund und Bewunderer Ernst Bertram eingeflüstert. Manns Plädoyer für die Weimarer Republik in den Zwanzigerjahren? Eine Gefälligkeit, die er mürrisch seiner Frau Katia erwiesen habe. Sein Verhalten gegenüber Präsident Roosevelt? Beruhte auf Ratschlägen seiner Förderin Agnes E. Meyer (die bei Tóibín allerdings erfreulich selbstbewusst und witzig auftritt, während sie anderswo oft nur als unterwürfig, anstrengend, letztlich peinlich erscheint).

Ein zeitgemäß menschelndes Porträt mit witzigen Momenten

Das, was einen an Thomas Mann bis heute faszinieren kann, seine anhaltende Kraft zur gedanklichen Selbstrevision, die sich in den Vereinigten Staaten noch einmal stark intensivierte - für Tóibín entspräche so etwas wohl einer nachträglichen Verklärung. Folgt man ihm, war Mann ein politisch durchaus unselbständiger Denker, dem es stets mehr um Anerkennung und Resonanz als um Haltungen und Positionierung ging. In letzter Konsequenz führt dies dazu, dass er einen Protagonisten des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem in sich selbst gefangenen, von Eitelkeit getriebenen Normalmenschen verzwergt. Es ist ein nahbares, zeitgemäß menschelndes, aber auch reduktionistisches und vor allem wenig originelles Porträt, das Tóibín zeichnet: Erinnert man sich noch an Hans Pleschinskis vor einigen Jahren erschienenen Roman "Königsallee", der von einer fiktiven Begegnung des alten Thomas Mann mit seiner früheren Liebe Klaus Heuser erzählte?

Was Tóibíns Werk demgegenüber auszeichnet, sind immerhin einige reizvolle Erzählmomente. So etwa die sensible Aufmerksamkeit für Julia Mann, die aus Brasilien stammende Mutter Thomas Manns, und ihr anhaltendes Fremdsein im kalten, nebelverhangenen Lübeck. Ihre Geschichte ist in der Tat noch lange nicht auserzählt. Erwähnenswert sind außerdem ein paar komische Episoden, die vom Versuch des Ehepaars Mann berichten, sich die englische Sprache anzueignen, zunächst und kurioserweise unter Anweisung eines italienischen Lehrers, der seinen Schülern ausgerechnet Dantes "Inferno" in englischer Übersetzung als Lehrbuch vorlegt. Irgendwann stellt Katia belustigt zu ihrem Englischunterricht fest, der ja einen tiefernsten Zweck, nämlich die Vorbereitung auf ihr Leben im Fluchtland Amerika hat: Mit Dante komme sie mittlerweile gut zurecht, "die Hälfte der Reise und der finstre Wald, und was da sonst noch alles ist", aber das helfe ihr nicht weiter, wenn sie "im Gemüseladen Möhren kaufen oder dem Klempner erklären will, dass ein Hahn tropft". Man müsse jetzt unbedingt, Hochkultur hin oder her, richtiges amerikanisches Englisch lernen.

Schließlich bietet der Roman denjenigen Lesern eine spielerische Freude, die sich in Thomas Manns Erzählwerk ein wenig auskennen. Die Erdbeeren, die Katia und ihrem Mann am italienischen Strand von einem Händler angeboten werden, weist diese mit den Worten "Die sind nicht einmal gewaschen!" resolut zurück. Katia wird so als eine Schutzinstanz erkennbar, die ihrem Ehemann vor eben jenem Schicksal bewahrt, das Gustav von Aschenbach in der Novelle zu erleiden hat - und dies gilt beileibe nicht bloß in gesundheitlicher Hinsicht.

Trotz dieser Passagen und Szenen scheitert "Der Zauberer" als Biographie wie auch als Roman: als Biographie, weil dem Buch schlicht die sachliche Ausgewogenheit fehlt, und als Roman, weil es weit unter den Möglichkeiten der Gattung bleibt. Stattdessen erweckt Tóibíns Buch den Eindruck, es handele sich um die Grundlage für eine kommende Streaming-Serie, deren souveränes Storytelling, raffinierte Dialogführung und komplexe Figurenzeichnung uns sicher glänzend unterhalten würden. Nur wäre der Preis dafür deutlich zu hoch. KAI SINA

Colm Tóibín:

"Der Zauberer". Roman.

Aus dem Englischen von Giovanni Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2021. 560 S., geb. 28,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.09.2021

Der Deutschen liebster Thomas
Zwei geniale Erzähler, aber einer scheitert hier: Colm Tóibín verwirklicht seinen Plan eines Künstlerromans über Thomas Mann.
Und alle populären Anekdoten über den Nobelpreisträger und seine Familie sind wieder dabei
VON CATRIN LORCH
Den blassen Mann hatte man zwischen zwei weiteren Autoren so an den Tisch gesetzt, dass die Lesung auch eine Versammlung hätte sein können, ausreichend Fachleute waren auch da. Irland war damals, vor etwa dreißig Jahren, das Gastland der Frankfurter Buchmesse, und drei junge Autoren sollten den Anspruch des kleinen Landes am Rand von Europa, das in der Vergangenheit so viele Literaturnobelpreise hervorgebracht hatte, in die Gegenwart verlängern. Colm Tóibín las im Literaturhaus eine Passage aus seinem Erstlingswerk „The South“ vor, was viele überraschte, die eine Kulisse aus grünen Hügeln erwartet hatten und sonnengebleichte, spanische Täler bekamen. Der Text handelt immerhin von einer Irin, und das Kapitel endet damit, dass die Frau aus der Ferne dabei zusehen muss, wie ein Jeep, in dem ihr Mann sitzt, auf einer steilen Straße verunglückt. Weil sie zufällig ein Fernglas gereicht bekommt, erahnt sie – hinter einer Scheibe – kurz vor dem Absturz noch ihren kleinen Sohn.
Danach war die Lesung so gut wie gelaufen. Die meisten Zuhörer hatten geweint, auch die anderen Autoren auf dem Podium sprachen heiser, ihr irischer Akzent klang verrotzt. Dabei ist ein Publikum, zu dem Literaturagenten, Kritiker und andere Profis gehören, empfindlich. Ein Kind der Handlung opfern – da hat man Vorbehalte. Doch Colm Tóibín schreibt so, dass so ein Unfall zwangsläufig wirkt und sich im Erzählen vor allem das Entsetzen der Mutter abbildet, das für alle Zeit im Abstand zwischen den Linsen eines Fernglases und den Autoscheiben fixiert bleibt.
Auf „The South“ ließ Colm Tóibín Bücher über irische Richter in Gewissensnöten folgen, über Abtreibung, Homosexuelle, Künstler, Witwen. Er ist die Grenze zu Nordirland abgelaufen und hat mit „Brooklyn“ sogar eine Filmvorlage geschaffen, in der die junge Eilis in der irischen Diaspora von New York auch als Vorhut aktueller Wirtschaftsflüchtlinge anlandet. Weltberühmt wurde Tóibín dann mit „The Master“, einer beunruhigend stillen, konzentrierten Erzählung, in der man dem amerikanischen Autor Henry James dabei zusieht, wie er sich im englischen Landleben einrichtet.
Die lang vergangene Lesung im Frankfurter Literaturhaus ist einem jetzt so präsent, weil im jüngsten Roman von Colm Tóibín, der jetzt unter dem Titel „Der Zauberer“ erscheint, genau so eine Lesung geschildert wird: Thomas Mann, Hauptfigur des Buchs, trägt im Kreis seiner Familie ein Kapitel aus „Doktor Faustus“ vor, die „menschlich anrührendste Stelle seines Romans“, so denkt er. „Als der kleine Junge tot war, hatte Thomas getan, was er hatte tun müssen. Er legte die Manuskriptblätter beiseite. Keiner sprach ein Wort. Schließlich schaltete Golo die Lampe ein, die neben ihm stand, und reckte sich mit einem leisen Stöhnen. Klaus Pringsheim hatte die Hände verschränkt und die Augen starr zu Boden gerichtet. Sein Sohn saß bleich neben ihm. Erika starrte ins Leere. Katia saß stumm da.“ Sie alle wissen, was auch der Leser ahnt: Thomas Mann hat den bezaubernden kleinen Frido, das jüngste Mitglied der Familie, als Vorbild für das tote Kind verwendet.
Colm Tóibín sagte kürzlich in einem Interview, die Idee, einen Roman über Thomas Mann zu schreiben, begleite ihn seit vielen Jahren. Aber erst als er um einen Essay gebeten wurde zu gleich drei neu erschienenen Biografien über den deutschen Nobelpreisträger, nahm er das Vorhaben wieder auf. Sein Titel „Der Zauberer“ bezieht sich auf einen Kosenamen, den die sechs Kinder von Katia und Thomas Mann ihrem Vater gegeben haben, der sie am Esstisch mit Zauberkunststücken unterhielt. „Du alter Zauberer“, wird ihn die erwachsene Tochter Erika noch kurz vor seinem Tod nennen, in aller Vieldeutigkeit – denn der Vater ist ja kein echter Magier, sondern einer, der Tricks beisteuert zur Unterhaltung, statt mit seinen Kindern wirklich zu sprechen.
Schon weil mit diesem Esstisch der Raum der Familie zur Bühne dieses Romans wird, gibt es auf mehr als 550 Seiten ungeheuer viel zu erzählen. Colm Tóibín will sich offensichtlich nicht darauf verlassen, dass diese deutsche Literatenfamilie seinen Lesern vertraut ist. So muss er mit dem Lübecker Kaufmannssohn „Thomas“ beginnen, dessen Begabung im Schatten seine Bruders Heinrich lange nicht auffällt. Der lernt, hinter großsprecherischen Auftritten seine literarische Seite genauso zu verstecken wie seine unausgelebte Homosexualität.
Der Aufstieg zum gefeierten Autor, die Heirat mit Katia Pringsheim, die aus einer kultivierten jüdischen Münchner Familie stammt, das alles wird hastig erzählt. Ganz offensichtlich sind mehr als drei Biografien die Quelle dieses Buchs, vor allem deutsche Leser wissen, wie viel Papier diese Manns hinterlassen haben. Während Colm Tóibín sonst selbstbewusst auswählt, ausmalt und erfindet, wirkt er nun fast hilflos, notiert vieles mehr, als dass er es erzählt – Ortswechsel, Romane, berühmte Bekanntschaft, Revolution und Krieg, verwickelte Verwandtschaftsverhältnisse und homoerotische Erlebnisse. Selten öffnet sich eine Tür, ohne dass irgendein Prominenter eintritt. Und wenn es ein Unbekannter ist, dann kommt es zügig zum, verstohlenen, Geschlechtsverkehr.
Besonders enttäuschen dann die einsilbigen Passagen, die vom Schreiben handeln, von diesem „strengen verborgenen Ort, an dem ein Thema langsam, in einem alchemistisch anmutenden Prozess ans Licht gelockt wurde“. Dass Thomas Mann seiner Arbeit seinen Tagesablauf unterordnete, ist fast anekdotisch, auch die offensichtlichen Verbindungen zwischen der Biografie des Autors und seinen Werken, angefangen mit Hanno aus den „Buddenbrooks“. Der unsichere junge Thomas, der den Zwillingen Katia und Klaus Pringsheim im Salon ihrer Eltern begegnet, beginnt sofort nachzudenken, „was sich in einer Erzählung mit Zwillingen anfangen ließe, die sich trennen mussten, weil einer von ihnen heiratete“. Schon einen Absatz weiter kann der Autor dann Vollzug melden, nicht nur, weil sich die Hochzeit anbahnt: „Er nannte die Novelle ’Wälsungenblut’.“
Blass bleibt auch das Beziehungsgeflecht dieser Familie, die Charakterisierungen und Gespräche sind hölzern, fast drollig. Colm Tóibín kann familiäre Verhältnisse und ihre verborgenen Machtkonstellationen in fast natürlich wirkenden Dialogen auflösen. Doch wo zu schnell berichtet wird, bleibt kein Raum für das Ungesagte, das Verschwiegene. Man wünscht sich, Tóibín hätte den Mut gehabt, das Kunststück aus seinen Büchern „Marias Testament“ und „Haus der Namen“ noch einmal zu wagen. Letzteres nahm den Elektra-Mythos auf, teilte die Kapitel aber den einzelnen Figuren zu, deren Innensicht die brutalen Elternmorde, den Bürgerkrieg und den Verrat färbten. Noch radikaler war „Marias Testament“, eine Interpretation des Evangeliums aus der Sicht der Gottesmutter, die als einfache, aufrichtige Frau wach ist für alles Verlogene und die Vereinnahmungen ihres geliebten Sohnes, für dessen Nachleben sie wenig Sympathie zeigt.
Colm Tóibíns aktueller Roman kann dagegen die vielen Handlungsstränge kaum zusammenhalten. „Im Geiste rekapituliert er, wie es um die einzelnen Mitglieder der Familie momentan stand“, heißt es im Kapitel „Schweden 1939“. „Elisabeth war in Princeton in Sicherheit und wartete auf ihre Hochzeit; Klaus war noch immer in New York, wo er Geldgeber für seine Zeitschrift zu finden versuchte. Und um die übrigen Kinder kümmerte man sich: Michael und seine Verlobte Gret hatten Visa für Amerika; für Monika und ihren Mann hoffte er ebenfalls Visa zu bekommen. Sobald er wieder zurück wäre, würde er sich daranmachen, die erforderlichen Papiere für Golo sowie für Heinrich und für Nelly, die Heinrich inzwischen geheiratet hatte, zu beschaffen, so dass sie Frankreich verlassen könnten. Katias Eltern waren, nachdem sie ihr Haus und ihre Gemälde, ihre kostbaren Keramiken und ihr ganzes Geld verloren hatten, endlich in Zürich und außer Gefahr.“ Das ist Verdichtung im Stil von Wikipedia.
Doch an dieser Stelle schlägt das Buch um. Und die Schilderung der Kriegszeit, die Thomas Mann mit seiner Frau zwischen Pacific Palisades, Washington, Los Angeles und – als gefragter Redner – vielen anderen US-Metropolen verbringt, führt den Bericht dann doch als bewegenden Roman zu Ende. Der weltberühmte, jedoch ewig zaudernde Romancier wird zu einem, der das Wort ergreift. Während er sich angesichts der Bilder von der Zerstörung seiner Heimatstadt Lübeck im Gespräch mit Sohn Klaus noch wünscht, „ich hätte deine Gewissheit (…) Und ich weiß nicht, was ich sagen, und ich weiß nicht, was ich empfinden soll.“
Bald begreift er die Aufgabe, die ihm zufällt, als „edlere Form von Propaganda“. Die zwingt ihn zur Positionierung: „Was er eigentlich sagen wollte, dachte er, war vielleicht zu komplex, um in dieser Zeit simpler Polaritäten Relevanz haben zu können. Er betonte immer wieder, dass alle Deutschen schuldig waren; er wollte aber darauf hinaus, dass die deutsche Kultur und die deutsche Sprache zwar den Keim des Nationalsozialismus in sich trugen, ebenso aber auch den Keim einer neuen Demokratie, die jetzt verwirklicht werden konnte, einer durch und durch deutschen Demokratie.“
Diese letzten, die dichten, vielschichtig erzählten Kapitel verschlingen Motive wie Migration, Propaganda, Krieg, politische Abhängigkeit, Meinungsmache, Aktivismus, Verfolgung und Bespitzelung, während Thomas Mann sich als berühmtester Autor seiner Zeit zur Stimme der Demokratie stilisieren lässt, zum Gewissen einer Welt, die den Krieg gegen Hitler doch noch gewinnt. Ist dieser Thomas noch „der Zauberer“, als den ihn Tochter Erika nun mit einer Mischung aus Respekt und Ironie anredet? Oder ist Thomas nicht in einer noch doppelbödigeren Rolle unterwegs, als „Botschafter seiner selbst“, wie Colm Tóibín ihn an einer Stelle beschreibt?
Dass Schriftsteller weiche, durchlässige Charaktere sind, darauf weisen diese letzten Kapitel immer wieder hin. Nicht nur weil sich Thomas Mann an einer Stelle wünscht, er könne über die Arbeit als Goethes Biograf mit dem Dichter verschmelzen und ein andermal plant, seinen eigenen Charakter auf die beiden Gegenspieler im „Doktor Faustus“ zu verteilen. Dass am Ende nur einer ihm gleicht, sogar zu einem „Doppelgänger“ geworden ist, überrascht Thomas selbst: „Beide, Autor und fiktiver Erzähler, blickten ängstlich-gespannt in die Zukunft, in eine Zeit, da Deutschland zerstört und zum Wiederaufbau bereit sein würde, eine Zeit, in der ein Buch wie dieses im Werden begriffenen vielleicht einen Platz in der Welt haben würde.“
Dieser „Doppelgänger“ ist von anderer Qualität als das Kind, der Knabe, das Kindchen, die in diesem Roman von Thomas Mann immer wieder geopfert werden. Und man hofft, dass der politisch wache, hellsichtige, hochempfindliche Thomas Mann, der sich am Ende des Romans in der Schweiz niederlässt, nicht nur eine Ausgeburt von Colm Tóibín ist, einem der wachsten, hellsichtigsten, hochempfindlichsten Autoren unserer Zeit.
Mit dem Esstisch der Manns
wird der Raum der Familie
zur Bühne dieses Romans
Mit der Exilzeit schlägt der
Bericht dann doch in einen
bewegenden Roman um
„Beide, Autor und fiktiver
Erzähler, blickten ängstlich-
gespannt in die Zukunft.“
Nach der Machtergreifung der Nazis ging Thomas Mann 1933 ins Exil und wurde, was er nie sein wollte: ein politischer Schriftsteller. War er dabei die Stimme der Demokratie oder doch auch stark „Botschafter seiner selbst“, wie Colm Tóibín schreibt?
Foto: DB/dpa
Der irische Romancier
Colm Tóibín.
Foto: Peter Hassiepen
Colm Tóibín:
Der Zauberer. Roman.
Aus dem Englischen von
Giovanni Bandini.
Hanser, München 2021.
560 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Der Roman erzählt eine Geschichte von literarischer Größe und existenzieller Gefährdung, welche die historischen Zeitläufe transzendiert und allgemeine Bedeutung erlangt. Auch deshalb ist der Roman eine schöne und instruktive Lektüre, unabhängig davon, ob man den Schriftsteller Thomas Mann mag oder nicht." Stefana Sabin, NZZ am Sonntag, 28.11.21

"Colm Tóibín hat auch hier wieder einen bunten Lebensteppich gewebt ... Ja, er hat gar schöne Spiele mit uns gespielt, dieser (Thomas) Mann, nichts in der deutschen Literatur reicht daran heran, aber sein Einsatz war immer er selber. Colm Toibin hat ihn uns neu geschenkt." Tilman Krause, Die Welt, 08.11.21

"Thomas Manns gelebtes Leben neu erzählt. Nicht nur er ist ein Zauberer, Colm Tóibín ist es auch ... Es gelingt ihm, Thomas Mann in all seiner Zerrissenheit darzustellen - und ihn damit ein wenig nahbarer zu machen." Maren Ahring, NDR Kulturjournal, 07.10.21

"Colm Tóibíns empathischer Blick auf die Familie macht die Geschichte der Manns und damit auch deutsche Literaturgeschichte für junge Leute und kommende Generationen zugänglich, ohne zu verklären. Der Roman besticht durch amüsante Dialoge... Tóibín hat in einer einfachen, aber raffinierten Prosa ein mitreißendes Zeit- und Gesellschaftsporträt geschaffen." Mareike Ilsemann, WDR 5 Scala, 28.09.21