Ann langweilt sich: Statt am Strand zu spielen, würde sie lieber zu Hause lesen. "Aber Geschichten sind doch bloß Wörter und Wörter nur Zeichen", findet Ben und schreibt etwas in den Sand. Er ist hungrig und hat das Wort "Marmelade" geschrieben. Da geschieht ein Wunder: Plötzlich steht ein Schälchen Marmelade da. Und so geht es weiter. Alle Wünsche werden erfülllt: das Brot zur Marmelade, ein Baum zum Picknicken und schließlich ein ganzes Königreich. Vielleicht sind Geschichten ja doch mehr als Wörter und Zeichen ... Geschrieben und illustriert vom Autor des bekannten Comics Barnaby.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2007Silberne Schale voller Marmelade
„Der Zauberstrand”, ein postmodernes Bildermärchenbuch aus dem Jahre 1965
Die Kinder Ann und Ben spazieren am Strand entlang und phantasieren sich die Welt, wie sie ihnen gefällt: Sie schreiben Wörter in den Sand, die sich in Dinge verwandeln, wenn eine Welle die Schrift wie eine Zaubertafel löscht: Aus dem Wort „Marmelade” wird „eine silberne Schale voller Marmelade”. So besorgen sie sich alles, was sie brauchen, nicht nur Süßigkeiten, sondern auch einen Baum und einen Sonnenschirm. Da merken Ann und Ben, dass sie sich mitten in einer Geschichte befinden. Das heißt: Haben sie die Geschichte erdacht oder sind sie Produkt der Geschichte? Dass man das nicht immer klar unterscheiden kann, ist eine der philosophischen Volten von Crockett Johnsons Bilderbuch Der Zauberstrand.
Jedenfalls befinden sich Ann und Benn plötzlich in einem „verwunschenen Königreich”. Der König ist auch schon da und angelt. Sie schreiben ihm im Zaubersand ein Königreich nach seinem Geschmack auf den Leib, mit Wäldern, Bauernhöfen, Schlössern und Rittern. Kinder haben an diesem Strand die Macht, die Welt zu gestalten, und müssen sich nicht wie meist in der Realität nach den Vorstellungen der Erwachsenen richten. Die erzählte Welt ist für die beiden Hauptfiguren reicher und freier als die wirkliche: Ben will unbedingt eine Muschel haben, in der er das Meer hören kann, obwohl er direkt an der Brandung steht. Dann kommt die Flut und begräbt die ganze frisch entstandene Gedankenwelt unter sich. „Die Geschichte hat überhaupt kein richtiges Ende”, sagt Ann: „Sie hat einfach aufgehört.” Ein rätselhaft-offener Schluss für dieses Kinderbuch, das an absurdes Theater erinnert.
Crockett Johnson, der mit seinem Comic Barnaby berühmt wurde, hat mit dem 1965 erschienenen Zauberstrand ein intellektuelles Kinderbuch geschaffen, das die bildbezogene kindliche Phantasie in denkbar abstraktester Weise zu animieren sucht. Die postmoderne Selbstreflexion, die diesem Erzählmodell zugrunde liegt, dürfte den jüngeren Lesern verborgen bleiben – es sei denn, das Kind hat ein frühreifes Faible für Zeichentheorie: „Geschichten bestehen aus Wörtern. Und Wörter aus Buchstaben. Und Buchstaben sind nichts anderes als Zeichen”, eröffnet Ben programmatisch das Semiotikseminar für den Sandkasten.
Die Illustrationen sind reduktionistisch zweifarbig gezeichnet, nur Striche und Linien auf Papier – es handelt sich um Johnsons erstmals veröffentlichte Originalskizzen. In dieser von Michael Krüger übersetzten Neuausgabe müssen sie die gesamte Bildarbeit leisten, und das gelingt ihnen gut, weil sie so flüchtig und vorläufig sind wie die Ideen, auf denen die Welt des Zauberstrands aufgebaut ist. CHRISTIAN KORTMANN
CROCKETT JOHNSON: Der Zauberstrand. Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Krüger. Mit zweifarbigen Illustrationen des Autors. Hanser Verlag 2007. 64 Seiten, 14,90 Euro.
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„Der Zauberstrand”, ein postmodernes Bildermärchenbuch aus dem Jahre 1965
Die Kinder Ann und Ben spazieren am Strand entlang und phantasieren sich die Welt, wie sie ihnen gefällt: Sie schreiben Wörter in den Sand, die sich in Dinge verwandeln, wenn eine Welle die Schrift wie eine Zaubertafel löscht: Aus dem Wort „Marmelade” wird „eine silberne Schale voller Marmelade”. So besorgen sie sich alles, was sie brauchen, nicht nur Süßigkeiten, sondern auch einen Baum und einen Sonnenschirm. Da merken Ann und Ben, dass sie sich mitten in einer Geschichte befinden. Das heißt: Haben sie die Geschichte erdacht oder sind sie Produkt der Geschichte? Dass man das nicht immer klar unterscheiden kann, ist eine der philosophischen Volten von Crockett Johnsons Bilderbuch Der Zauberstrand.
Jedenfalls befinden sich Ann und Benn plötzlich in einem „verwunschenen Königreich”. Der König ist auch schon da und angelt. Sie schreiben ihm im Zaubersand ein Königreich nach seinem Geschmack auf den Leib, mit Wäldern, Bauernhöfen, Schlössern und Rittern. Kinder haben an diesem Strand die Macht, die Welt zu gestalten, und müssen sich nicht wie meist in der Realität nach den Vorstellungen der Erwachsenen richten. Die erzählte Welt ist für die beiden Hauptfiguren reicher und freier als die wirkliche: Ben will unbedingt eine Muschel haben, in der er das Meer hören kann, obwohl er direkt an der Brandung steht. Dann kommt die Flut und begräbt die ganze frisch entstandene Gedankenwelt unter sich. „Die Geschichte hat überhaupt kein richtiges Ende”, sagt Ann: „Sie hat einfach aufgehört.” Ein rätselhaft-offener Schluss für dieses Kinderbuch, das an absurdes Theater erinnert.
Crockett Johnson, der mit seinem Comic Barnaby berühmt wurde, hat mit dem 1965 erschienenen Zauberstrand ein intellektuelles Kinderbuch geschaffen, das die bildbezogene kindliche Phantasie in denkbar abstraktester Weise zu animieren sucht. Die postmoderne Selbstreflexion, die diesem Erzählmodell zugrunde liegt, dürfte den jüngeren Lesern verborgen bleiben – es sei denn, das Kind hat ein frühreifes Faible für Zeichentheorie: „Geschichten bestehen aus Wörtern. Und Wörter aus Buchstaben. Und Buchstaben sind nichts anderes als Zeichen”, eröffnet Ben programmatisch das Semiotikseminar für den Sandkasten.
Die Illustrationen sind reduktionistisch zweifarbig gezeichnet, nur Striche und Linien auf Papier – es handelt sich um Johnsons erstmals veröffentlichte Originalskizzen. In dieser von Michael Krüger übersetzten Neuausgabe müssen sie die gesamte Bildarbeit leisten, und das gelingt ihnen gut, weil sie so flüchtig und vorläufig sind wie die Ideen, auf denen die Welt des Zauberstrands aufgebaut ist. CHRISTIAN KORTMANN
CROCKETT JOHNSON: Der Zauberstrand. Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Krüger. Mit zweifarbigen Illustrationen des Autors. Hanser Verlag 2007. 64 Seiten, 14,90 Euro.
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"... eine der wohl schönsten Entdeckungen der letzten Jahre." Thomas David, Die Zeit, 22.03.07