»Benn ist der einzige Deutsche gewesen, in dem das Bewusstsein der Zeit sichtbar wurde.« (Leo Matthias)Zwischen Gottfried Benns erstem internationalen Ruhm 1929 und seinem fulminanten comeback 1949 liegen zwanzig Jahre, die das Ende der Weimarer Republik, die Jahre des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs und schließlich die frühe Nachkriegszeit umfassen.Die Position des Autors zwischen Literatur, Politik und Zeitgeschichte in diesen Jahren zu bestimmen, hat immer wieder Anlaß zu heftigen Kontroversen gegeben. Eine umfassende Biographie, die Antworten auf die vielen offenen Fragen gibt, fehlt bis heute.Joachim Dyck hat nun erstmals diesen biographisch und künstlerisch zentralen Zeitraum vor dem Hintergrund breiter Quellenkenntnis umfassend dargestellt. Die wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen Gottfried Benn seinen Beruf als Arzt ausübte werden ebenso einbezogen wie die literarischen Debatten und intellektuellen Orientierungsversuche in ei ner Zeit der intellektuellen Krisen und politischen Umbrüche. Auch Benns persönliches Umfeld, seine Liebesbeziehungen und Freundschaften, werden nicht ausgespart.So entsteht ein überraschendes und facettenreiches Bild, das Gottfried Benn nicht mehr bloß als isolierten »Phänotyp« zeigt, sondern erstmals auch das Paradigmatische in Leben und Werk dieses Zeitzeugen erfaßt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.12.2006Es war ein sehr gutes Jahr
Auch mal ein Bier zischen: Gottfried Benn in neuen Biographien
Gottfried Benn ist "der einzige Deutsche gewesen und geblieben, in dem das Bewußtsein der Zeit sichtbar wurde. Es wurde so sichtbar wie ein Uhrwerk hinter Glas." Auf diese Anschaulichkeit suggerierende Formel, die Leo Matthias 1962 im "Merkur" prägte, hat sich die Rezeption immer wieder bezogen. Der belgische Schriftsteller Pierre Mertens hat daraus in seinem Benn-Roman "Der Geblendete" 1989 einen posthum nachwirken sollenden Mythos gefertigt: "Seit vierzig Jahren verkörpert er in seiner Person alle Widersprüche seiner Zeit, seines Landes."
Auch zum Ende des Jahres seines fünfzigsten Todestages zeigt sich ein merkwürdiges Bedürfnis, in Benn die epochale Vorstellung vom Dichter des deutschen Wesens zu erblicken. Sein freundschaftlicher Biograph Walter Lennig hat 1962 geahnt, daß damit ein florierendes "Wertungs- und Deutungsgeschäft" betrieben würde. Obwohl Lennig wußte, daß der Dichter seine Rezeption hin zum Gültigen zu steuern suchte, hat er dem pathetisch die individuelle Verfassung entgegengestellt: Benn sei es weniger um die beispielhafte Attitüde gegangen als um eine Existenzform, in der er sich selbst ertragen konnte, "die ungeheure Riskiertheit seiner ganzen Anlage, die oft unerträglichen Spannungen und Hemmungen, unter denen er litt, die mörderischen Melancholien, wie sie ihn oft wochenlang niederwarfen, quälendes Schuldbewußtsein, dem nicht immer mit Zynismus beizukommen war, nicht selten sogar ein rabiater Selbsthaß".
Der emeritierte Bremer Literaturwissenschaftler Joachim Dyck greift jedoch in seiner Untersuchung der Zeitgenossenschaft des Dichters wieder auf Matthias zurück, um Benn zum exemplarischen Zeitzeugen der Jahre 1929 bis 1949 zu erklären. Im Widerspruch zum Titel aber geht es ihm, der sich schon dem Briefwechsel Benns mit dem Bremer Kaufmann Friedrich Wilhelm Oelze gewidmet hat, gar nicht darum, Benns Aussagen zu historischen Ereignissen eine allgemeine Geltung abzugewinnen, sondern vor allem darum, "Benns intellektuelle Arbeit als einen produktiven Reflex auf seine alltäglichen Lebenserfahrungen zu verstehen". Mit der bisherigen Benn-Rezeption geht Dyck recht harsch um. So will er das Bild Benns gegen die "gängigen Klischees" und "Gemeinplätze" der germanistischen Forschung in seinen Schutz nehmen, als wollte er in Benns Nachleben die Rolle des großzügigen Hanseaten Oelze spielen.
Schon in der Formulierung seines Erkenntnisinteresses tritt daher eine apologetische Haltung zutage, zu der sich Dyck aber nicht recht bekennen mag. Er hat offenbar Angst vor der Gesinnungspolizei. Einen erneuten Prozeß gegen Benn wegen Verrats am Geist erwartet jedoch in der Forschung niemand mehr, und sein europäischer Rang als Lyriker ist längst unbestritten. Was laut Wolfgang Riedel dagegen noch aussteht, ist eine wissensgeschichtliche Kontextualisierung der Anthropologie der essayistischen Schriften und öffentlichen oder brieflichen Äußerungen Benns. Es zeigt sich nämlich immer deutlicher, daß gerade Benns Prosatexte keineswegs nur auf dem eigenen exzentrischen Boden gewachsen sind. Vielmehr hat er sich ausgiebig im zeitgenössischen Schrifttum bedient, um seine Funde im "Laboratorium der Worte" emphatisch bis zur Unkenntlichkeit zu überformen.
Ansätze zu einer solchen Kontextualisierung zeigen sich bei Dyck, aber sie versickern immer wieder in einem merkwürdig relativistischen Wertungsgeschäft. So gerät die Darstellung zum Eiertanz, in der viele relevante Quellen und Informationen zum Verhältnis von Literatur und Politik zur Sprache kommen, während dennoch unerfindlich bleibt, warum gerade Benn ein exemplarischer Zeitzeuge sein soll. Im Gegenteil betont der Biograph nicht selten, daß Benns Wahrnehmung außerhalb der Wirklichkeit stattfindet und mit einer allgemeineren Sicht auf die Geschichte kaum zu vermitteln ist.
Dycks Erklärungsversuche für Benns Äußerungen zur Zeit, besonders zum Nationalsozialismus, zum Streit um die Gleichschaltung der Akademie und zu den Angriffen der Emigranten um Klaus Mann wirken in ihrer Unentschiedenheit und im gewundenen Satzbau teilweise hilflos. Statt Benns Äußerungen von 1933 um die Rundfunkrede "Der neue Staat und die Intellektuellen" mit ihren Parolen der "Opferbereitschaft und Verlust des Ich an das Totale, den Staat, die Rasse", der Geschichte "als das Elementare, das Stoßartige, das unausweichliche Phänomen" oder eines "neuen biologischen Typs" und der "Züchtung" kritisch-analytisch mit dem Ideengefüge der Zeit zu konfrontieren und in eine Perspektive zu setzen, wechselt Dyck fortwährend den Standpunkt.
Die späteren Kapitel lesen sich besser. Der Leser erhält ein facettenreiches Bild von Benns Lebensumständen, der Ertrag für die Sicht auf Benns Dichtung ist aber spärlich. Dyck findet weder ein orientierendes Verhältnis zu Benns Poetik noch zu seiner Anthropologie, und die zitierten Gedichte dienen häufig nur als Belegmaterial für Rephrasierungen von Benns revidiertem Dichterbild. Dyck verschweigt zwar kritische Positionen zu Benns gelegentlich erneut aufgedonnerter Kunstmetaphysik zwischen Makellosigkeit, Ewigkeit und Dämonie nicht, er versucht aber immer wieder, daraus kleine Orden zu fertigen.
Auch der Mainzer Literaturwissenschaftler Christian Schärf tadelt die Benn-Forschung. Sie sei "mit einer fast monomanisch zu nennenden Konsequenz den vom Autor selbst gegebenen Begriffen und Maßstäben" gefolgt. Dazu will freilich nicht recht passen, daß auch Schärfs Titel aus Benns Selbstdarstellung abgeleitet ist: "Seine Einzigartigkeit speiste sich aus dem Selbstbewußtsein des Paria, des Unberührbaren, der, wie er glaubte, den verfemten Adel der Menschheit in sich trage." Ohne die Pathosformel des exemplarisch Deutschen scheint es auch bei Schärf nicht abzugehen: Er habe den "Irrweg der deutschen Intelligenz durchdacht und durchlebt".
Der unfruchtbaren Trennung zwischen dem großartigen Dichter und dem politisch irrenden Menschen will Schärf mit einem Verfahren begegnen, das er "Bioautographie" nennt. Benn reflektiere Spaltung als Tatsache des Ich, was einen Zwang zum Schöpferischen nach sich ziehe, der selbst wieder Tatsache des Ich sei und sich als eine "Wahrheit des Stils" zeige, die freilich immer wieder nur in der Form der "Zersplitterung" erscheinen könne. Schärf sieht Benns entscheidenden, auf alle Aspekte seiner autobiographischen Werkpolitik ausstrahlenden Irrtum in einer onto-biologistischen Geschichtsauffassung. Sie habe eine "Gehorsamspflicht" impliziert, der Benn zeitweise mit selbstzerstörerischer Konsequenz gefolgt sei.
Benns von vornherein antidemokratische Haltung sei "auf dem Misthaufen deutscher Bildungssynthesen erwachsen". Die Überstilisierung der Dichtergestalt in einer dem Entwicklungsgedanken fremd gegenüberstehenden radikalästhetischen Kunstmythologie habe zum "Umschlag der Kunst in Hyperpolitik" geführt, zu dem im Grunde "bestürzend naiven" Gedanken, die Umwälzung der Verhältnisse von der Seite einer Kunst her zu betreiben, die für Benn bis hinein in Gene, Erbmasse und Substanz wirksam werden sollte. In der Formulierung habe das zwar "die Ränder des Aberwitzes" deutlich überschritten, dennoch seien Benns Thesen als Reaktion auf die politischen Druckverhältnisse am Ende der Weimarer Republik zu begreifen. Benns Umformung verschiedenster Horizonte zu einer "pseudowissenschaftlichen Erregungsmasse" erscheint als eine Radikalisierung des Geistigen, die auf einen eigenständigen Wissenstyp zielte. Das sei nicht nur anachronistische Irrationalität, sondern müsse als "tatsächliche Erlebnisweise" aufgefaßt werden.
Ob freilich Benn seine eigenen Konstruktionen immer ganz ernst nahm, bezweifelt Schärf. Die Überzeichnung des Avantgardismus habe auch Momente des Spielerischen gehabt. Manches Gedicht habe es als "Substantiv- und Namensgewitter der europäischen Machtkämpfe" auf bestimmte Wirkung gar nicht abgesehen. In den letzten Jahren zerfällt das metaphysische Fundament, auf das sich Artistik wie Hyperpolitik gegründet hatten. Im Diktum von 1950, heute sei der "Satzbau das Primäre", sieht Schärf die ironische Leerformel poetologischer Perspektiven. Die Faszination der "Worte" (1955) bleibt, aber deren Bedeutung entzieht sich auch dem Dichter: "Du siehst ihnen in die Seele / nach Vor- und Urgesicht / Jahre um Jahre - quäle / dich ab, du findest nicht." Was nach dem Essay "Probleme der Lyrik" in den fünfziger Jahren zum "poetologischen Kompaß" einer ganzen Generation wurde, hatte sich für Benn schon aufgelöst.
Benn tritt als Repräsentant des deutschen Wesens und Unwesens im Verlauf von Christian Schärfs differenzierender Darstellung weitgehend zurück, seine innere Biographie erscheint als Lehrstück der Wirrungen und Abgründe der Produktivität und als "Dokumentation der Verwerfungen und der Hoffnungen des Menschen im zwanzigsten Jahrhundert, der in der Literatur seine ureigene Sphäre sucht und darüber immer erst selbst bestimmen muß, was das sein soll - Literatur".
Der Bremer Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich hat sich an die Neufassung der Rowohlt-Monographie gemacht. Der Band ersetzt die Darstellung Walter Lennigs von 1962, die sicherlich, wie es oft vorschnell heißt, veraltet ist, aber gerade durch die persönliche Sicht, die Benn manchmal peinlich nahe tritt, ein beeindruckendes und trotz des zeitlich signierten Vokabulars heute noch lebendig wirkendes Dokument. Emmerich zeigt sich da etwas undankbar, wenn er seinen Vorgänger lediglich als "Feuilletonisten" erwähnt, der mit Benn in der Schöneberger Eckkneipe gern ein Bier "zischte".
Die Aufgabe aber, er sehr respektabel bewältigt, als Einführung in Leben und Werk ist seine Monographie uneingeschränkt zu empfehlen. Gemäß dem Erfordernis der Reihe folgt Emmerich zwar jener von Schärf kritisierten Orientierung an Benns Begriffen, vom "Doppelleben" über die "aristokratische Form der Emigrierung" bis zum "Ptolemäer" als Lebensform; jedoch formuliert er klare Urteile und Distanzierungen und vermeidet relativistische Flauheiten, wie sie die Lektüre bei Dyck passagenweise zur Qual machen.
So kann Emmerich auch unumwunden seine Sympathie für einen Dichter und Menschen ausdrücken, den seine Bereitschaft zur radikalen Grenzüberschreitung, zum grotesken Irrtum und zum Leiden an der eigenen Schuld, aber auch zu einer "unvergleichlichen Wortkunst" und schließlich zu einer einzigartig ehrlichen Anerkennung geschichtlicher Sachverhalte führte.
FRIEDMAR APEL
Joachim Dyck: "Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929-1949". Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 464 S., geb., 39,- [Euro].
Christian Schärf: "Der Unberührbare. Gottfried Benn - Dichter im 20. Jahrhundert". Aisthesis Verlag, Bielefeld 2006. 415 S., kart., 25,- [Euro].
Wolfgang Emmerich: "Gottfried Benn". Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006. 160 S., br., 8,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch mal ein Bier zischen: Gottfried Benn in neuen Biographien
Gottfried Benn ist "der einzige Deutsche gewesen und geblieben, in dem das Bewußtsein der Zeit sichtbar wurde. Es wurde so sichtbar wie ein Uhrwerk hinter Glas." Auf diese Anschaulichkeit suggerierende Formel, die Leo Matthias 1962 im "Merkur" prägte, hat sich die Rezeption immer wieder bezogen. Der belgische Schriftsteller Pierre Mertens hat daraus in seinem Benn-Roman "Der Geblendete" 1989 einen posthum nachwirken sollenden Mythos gefertigt: "Seit vierzig Jahren verkörpert er in seiner Person alle Widersprüche seiner Zeit, seines Landes."
Auch zum Ende des Jahres seines fünfzigsten Todestages zeigt sich ein merkwürdiges Bedürfnis, in Benn die epochale Vorstellung vom Dichter des deutschen Wesens zu erblicken. Sein freundschaftlicher Biograph Walter Lennig hat 1962 geahnt, daß damit ein florierendes "Wertungs- und Deutungsgeschäft" betrieben würde. Obwohl Lennig wußte, daß der Dichter seine Rezeption hin zum Gültigen zu steuern suchte, hat er dem pathetisch die individuelle Verfassung entgegengestellt: Benn sei es weniger um die beispielhafte Attitüde gegangen als um eine Existenzform, in der er sich selbst ertragen konnte, "die ungeheure Riskiertheit seiner ganzen Anlage, die oft unerträglichen Spannungen und Hemmungen, unter denen er litt, die mörderischen Melancholien, wie sie ihn oft wochenlang niederwarfen, quälendes Schuldbewußtsein, dem nicht immer mit Zynismus beizukommen war, nicht selten sogar ein rabiater Selbsthaß".
Der emeritierte Bremer Literaturwissenschaftler Joachim Dyck greift jedoch in seiner Untersuchung der Zeitgenossenschaft des Dichters wieder auf Matthias zurück, um Benn zum exemplarischen Zeitzeugen der Jahre 1929 bis 1949 zu erklären. Im Widerspruch zum Titel aber geht es ihm, der sich schon dem Briefwechsel Benns mit dem Bremer Kaufmann Friedrich Wilhelm Oelze gewidmet hat, gar nicht darum, Benns Aussagen zu historischen Ereignissen eine allgemeine Geltung abzugewinnen, sondern vor allem darum, "Benns intellektuelle Arbeit als einen produktiven Reflex auf seine alltäglichen Lebenserfahrungen zu verstehen". Mit der bisherigen Benn-Rezeption geht Dyck recht harsch um. So will er das Bild Benns gegen die "gängigen Klischees" und "Gemeinplätze" der germanistischen Forschung in seinen Schutz nehmen, als wollte er in Benns Nachleben die Rolle des großzügigen Hanseaten Oelze spielen.
Schon in der Formulierung seines Erkenntnisinteresses tritt daher eine apologetische Haltung zutage, zu der sich Dyck aber nicht recht bekennen mag. Er hat offenbar Angst vor der Gesinnungspolizei. Einen erneuten Prozeß gegen Benn wegen Verrats am Geist erwartet jedoch in der Forschung niemand mehr, und sein europäischer Rang als Lyriker ist längst unbestritten. Was laut Wolfgang Riedel dagegen noch aussteht, ist eine wissensgeschichtliche Kontextualisierung der Anthropologie der essayistischen Schriften und öffentlichen oder brieflichen Äußerungen Benns. Es zeigt sich nämlich immer deutlicher, daß gerade Benns Prosatexte keineswegs nur auf dem eigenen exzentrischen Boden gewachsen sind. Vielmehr hat er sich ausgiebig im zeitgenössischen Schrifttum bedient, um seine Funde im "Laboratorium der Worte" emphatisch bis zur Unkenntlichkeit zu überformen.
Ansätze zu einer solchen Kontextualisierung zeigen sich bei Dyck, aber sie versickern immer wieder in einem merkwürdig relativistischen Wertungsgeschäft. So gerät die Darstellung zum Eiertanz, in der viele relevante Quellen und Informationen zum Verhältnis von Literatur und Politik zur Sprache kommen, während dennoch unerfindlich bleibt, warum gerade Benn ein exemplarischer Zeitzeuge sein soll. Im Gegenteil betont der Biograph nicht selten, daß Benns Wahrnehmung außerhalb der Wirklichkeit stattfindet und mit einer allgemeineren Sicht auf die Geschichte kaum zu vermitteln ist.
Dycks Erklärungsversuche für Benns Äußerungen zur Zeit, besonders zum Nationalsozialismus, zum Streit um die Gleichschaltung der Akademie und zu den Angriffen der Emigranten um Klaus Mann wirken in ihrer Unentschiedenheit und im gewundenen Satzbau teilweise hilflos. Statt Benns Äußerungen von 1933 um die Rundfunkrede "Der neue Staat und die Intellektuellen" mit ihren Parolen der "Opferbereitschaft und Verlust des Ich an das Totale, den Staat, die Rasse", der Geschichte "als das Elementare, das Stoßartige, das unausweichliche Phänomen" oder eines "neuen biologischen Typs" und der "Züchtung" kritisch-analytisch mit dem Ideengefüge der Zeit zu konfrontieren und in eine Perspektive zu setzen, wechselt Dyck fortwährend den Standpunkt.
Die späteren Kapitel lesen sich besser. Der Leser erhält ein facettenreiches Bild von Benns Lebensumständen, der Ertrag für die Sicht auf Benns Dichtung ist aber spärlich. Dyck findet weder ein orientierendes Verhältnis zu Benns Poetik noch zu seiner Anthropologie, und die zitierten Gedichte dienen häufig nur als Belegmaterial für Rephrasierungen von Benns revidiertem Dichterbild. Dyck verschweigt zwar kritische Positionen zu Benns gelegentlich erneut aufgedonnerter Kunstmetaphysik zwischen Makellosigkeit, Ewigkeit und Dämonie nicht, er versucht aber immer wieder, daraus kleine Orden zu fertigen.
Auch der Mainzer Literaturwissenschaftler Christian Schärf tadelt die Benn-Forschung. Sie sei "mit einer fast monomanisch zu nennenden Konsequenz den vom Autor selbst gegebenen Begriffen und Maßstäben" gefolgt. Dazu will freilich nicht recht passen, daß auch Schärfs Titel aus Benns Selbstdarstellung abgeleitet ist: "Seine Einzigartigkeit speiste sich aus dem Selbstbewußtsein des Paria, des Unberührbaren, der, wie er glaubte, den verfemten Adel der Menschheit in sich trage." Ohne die Pathosformel des exemplarisch Deutschen scheint es auch bei Schärf nicht abzugehen: Er habe den "Irrweg der deutschen Intelligenz durchdacht und durchlebt".
Der unfruchtbaren Trennung zwischen dem großartigen Dichter und dem politisch irrenden Menschen will Schärf mit einem Verfahren begegnen, das er "Bioautographie" nennt. Benn reflektiere Spaltung als Tatsache des Ich, was einen Zwang zum Schöpferischen nach sich ziehe, der selbst wieder Tatsache des Ich sei und sich als eine "Wahrheit des Stils" zeige, die freilich immer wieder nur in der Form der "Zersplitterung" erscheinen könne. Schärf sieht Benns entscheidenden, auf alle Aspekte seiner autobiographischen Werkpolitik ausstrahlenden Irrtum in einer onto-biologistischen Geschichtsauffassung. Sie habe eine "Gehorsamspflicht" impliziert, der Benn zeitweise mit selbstzerstörerischer Konsequenz gefolgt sei.
Benns von vornherein antidemokratische Haltung sei "auf dem Misthaufen deutscher Bildungssynthesen erwachsen". Die Überstilisierung der Dichtergestalt in einer dem Entwicklungsgedanken fremd gegenüberstehenden radikalästhetischen Kunstmythologie habe zum "Umschlag der Kunst in Hyperpolitik" geführt, zu dem im Grunde "bestürzend naiven" Gedanken, die Umwälzung der Verhältnisse von der Seite einer Kunst her zu betreiben, die für Benn bis hinein in Gene, Erbmasse und Substanz wirksam werden sollte. In der Formulierung habe das zwar "die Ränder des Aberwitzes" deutlich überschritten, dennoch seien Benns Thesen als Reaktion auf die politischen Druckverhältnisse am Ende der Weimarer Republik zu begreifen. Benns Umformung verschiedenster Horizonte zu einer "pseudowissenschaftlichen Erregungsmasse" erscheint als eine Radikalisierung des Geistigen, die auf einen eigenständigen Wissenstyp zielte. Das sei nicht nur anachronistische Irrationalität, sondern müsse als "tatsächliche Erlebnisweise" aufgefaßt werden.
Ob freilich Benn seine eigenen Konstruktionen immer ganz ernst nahm, bezweifelt Schärf. Die Überzeichnung des Avantgardismus habe auch Momente des Spielerischen gehabt. Manches Gedicht habe es als "Substantiv- und Namensgewitter der europäischen Machtkämpfe" auf bestimmte Wirkung gar nicht abgesehen. In den letzten Jahren zerfällt das metaphysische Fundament, auf das sich Artistik wie Hyperpolitik gegründet hatten. Im Diktum von 1950, heute sei der "Satzbau das Primäre", sieht Schärf die ironische Leerformel poetologischer Perspektiven. Die Faszination der "Worte" (1955) bleibt, aber deren Bedeutung entzieht sich auch dem Dichter: "Du siehst ihnen in die Seele / nach Vor- und Urgesicht / Jahre um Jahre - quäle / dich ab, du findest nicht." Was nach dem Essay "Probleme der Lyrik" in den fünfziger Jahren zum "poetologischen Kompaß" einer ganzen Generation wurde, hatte sich für Benn schon aufgelöst.
Benn tritt als Repräsentant des deutschen Wesens und Unwesens im Verlauf von Christian Schärfs differenzierender Darstellung weitgehend zurück, seine innere Biographie erscheint als Lehrstück der Wirrungen und Abgründe der Produktivität und als "Dokumentation der Verwerfungen und der Hoffnungen des Menschen im zwanzigsten Jahrhundert, der in der Literatur seine ureigene Sphäre sucht und darüber immer erst selbst bestimmen muß, was das sein soll - Literatur".
Der Bremer Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich hat sich an die Neufassung der Rowohlt-Monographie gemacht. Der Band ersetzt die Darstellung Walter Lennigs von 1962, die sicherlich, wie es oft vorschnell heißt, veraltet ist, aber gerade durch die persönliche Sicht, die Benn manchmal peinlich nahe tritt, ein beeindruckendes und trotz des zeitlich signierten Vokabulars heute noch lebendig wirkendes Dokument. Emmerich zeigt sich da etwas undankbar, wenn er seinen Vorgänger lediglich als "Feuilletonisten" erwähnt, der mit Benn in der Schöneberger Eckkneipe gern ein Bier "zischte".
Die Aufgabe aber, er sehr respektabel bewältigt, als Einführung in Leben und Werk ist seine Monographie uneingeschränkt zu empfehlen. Gemäß dem Erfordernis der Reihe folgt Emmerich zwar jener von Schärf kritisierten Orientierung an Benns Begriffen, vom "Doppelleben" über die "aristokratische Form der Emigrierung" bis zum "Ptolemäer" als Lebensform; jedoch formuliert er klare Urteile und Distanzierungen und vermeidet relativistische Flauheiten, wie sie die Lektüre bei Dyck passagenweise zur Qual machen.
So kann Emmerich auch unumwunden seine Sympathie für einen Dichter und Menschen ausdrücken, den seine Bereitschaft zur radikalen Grenzüberschreitung, zum grotesken Irrtum und zum Leiden an der eigenen Schuld, aber auch zu einer "unvergleichlichen Wortkunst" und schließlich zu einer einzigartig ehrlichen Anerkennung geschichtlicher Sachverhalte führte.
FRIEDMAR APEL
Joachim Dyck: "Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929-1949". Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 464 S., geb., 39,- [Euro].
Christian Schärf: "Der Unberührbare. Gottfried Benn - Dichter im 20. Jahrhundert". Aisthesis Verlag, Bielefeld 2006. 415 S., kart., 25,- [Euro].
Wolfgang Emmerich: "Gottfried Benn". Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006. 160 S., br., 8,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Joachim Dycks Studie über Gottfried Benn hat Rezensent Thomas Meyer herbe enttäuscht. Er hält dem Autor zwar zu Gute, alle bedeutenden Fragen- und Themenstellungen ausführlich zu behandeln. Auch äußert er sich zustimmend über Dycks Einschätzung, Benn sei ein Solitär gewesen. Schließlich will er nicht unterschlagen, dass dem Autor einige "klug durchkomponierte Kapitel" gelungen seien. Aber diese Pluspunkte können für Meyer den großen Minuspunkt des Werks nicht aufwiegen: Der "apologetische Grundton" des Buchs geht ihm einfach gewaltig gegen den Strich. Schmerzlich vermisst er bei Dyck eine Historisierung seines Gegenstandes sowie Vorsicht gegenüber den Selbstaussagen Benns. So hat Dyck nach Ansicht Meyer letztlich die Chance verspielt, dem Leser den "problematischen" Zeitzeugen Benn nahe zu bringen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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