Maggie lebt an der schottischen Küste, eine unwirtliche Gegend der schroffen Felsen und des brausenden Meeres, aber auch der atemberaubenden Schönheit. Als ihr Verlobter William, Bootsführer der Küstenwache, von der Ankunft von Schmuggelware erfährt, steht sie vor einem Dilemma: Ausgerechnet ihr hoch verschuldeter Vater ist in dieses Verbrechen verwickelt, und seine Festnahme hätte schreckliche Folgen. In einer stürmischen Nacht wagt Maggi, hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zu William und der zu ihrem Vater, einen gefährlichen Versuch, um beide zu schützen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.2020Kampf der kabbeligen See
Mehr als "Dracula": In Bram Stokers Erzählung "Der Zorn des Meeres", die jetzt erstmals auf Deutsch erscheint, steht Liebe gegen Pflicht
Alle Welt kennt Dracula, auch wenn viele Bram Stokers gleichnamigen Roman von 1897 nie gelesen haben. Die Figur zählt seither zu den stärksten Populärikonen der Moderne, weil sich in ihrer ansteckenden Blut- und Sauglust manches von dem bündelt, was Unbehagen an der Kultur schafft und nur in heimlichem Begehren oder eben Phantasien fortlebt. Als der Roman jedoch erschien, ließ der Erfolg erst einmal auf sich warten. Dabei war Stoker (1847 bis 1912) schon länger literarisch produktiv und hegte hohe Ambitionen. Ein gutes Dutzend ausgewachsener Erzähltexte veröffentlichte er im Laufe seines Lebens, während er im Hauptberuf fast drei Jahrzehnte lang Faktotum für Henry Irving war, den Schauspieler und größten Bühnencharismatiker jener Zeit, von dem einiges in der Persönlichkeit von Graf Dracula zu finden ist.
Kein anderes Werk Stokers hat die Zeiten überdauert. Jetzt lädt uns Alexander Pechmann ein, eine wilde Unwettergeschichte, die zwei Jahre vor "Dracula" herauskam, kennenzulernen. Ihr Originaltitel "The Watter's Mou'" bezeichnet den zentralen Schauplatz an der zerklüfteten schottischen Ostküste: eine Schlucht, ehemals Flussmündung, in der sich Gischt und Brandung durch die schroffen Felsen zu reißenden Strudeln steigern und bei Sturm tödliche Sogwirkung entfalten.
Von den ersten beiden Sätzen an - "Es drohte eine stürmische Nacht zu werden. Den ganzen Tag über waren vom Meer Nebelschwaden herübergeweht" - ahnen wir schon, worauf das Geschehen dieser Schreckensnacht hinausläuft. Im Mittelpunkt steht ein junges Paar, er im Dienst der Küstenwache auf der Jagd nach Schmugglern, sie eine unbescholtene Fischerstochter, deren Vater durch Verschuldung in die Hände eines skrupellosen Schurken und Schmuggelbarons geraten ist. So steht Liebe gegen Pflicht: Kann die Tochter ihren Vater retten, wenn sie den Verlobten dazu bringt, für einen kurzen Moment wegzuschauen? Darf der gestrenge Küstenwächter seine ehernen Prinzipien den romantischen Gefühlen beugen? Während sich das Fischerboot mit der fatalen Fracht unaufhaltsam nähert und der Sturm zunehmend wütet, stehen also schicksalsträchtige Entscheidungen an. Das Tosen der Elemente korrespondiert dabei aufs schönste mit dem Aufruhr der Gefühle.
Man tut Stokers Wirkung keinen Abbruch, wenn man festhält, dass sein literarisches Talent nicht in erfindungsreicher Figuren- und Charakterzeichnung liegt. Hier ist vieles pure Kolportage und zeittypisches Klischee: Männer sind viril und ernst, Frauen weiblich-schwach und opferbereit, Schurken schrecklich und jüdisch - wie auch bei "Dracula" trägt hier das Böse klar antisemitische Züge und kann zum Schluss nur durch ein Bündnis aufrechter Männer, die sich über der Frauenleiche die Hand reichen, gebannt werden.
Stokers Können liegt vielmehr in atmosphärischer Verdichtung sowie in der Ausgestaltung des dramatischen Settings aus Meer, Küste und Klüften: "die Felsen aus Gneis und Granit, aufgebrochen durch alle möglichen Erschütterungen der Natur und vom Zahn der Zeit zu jeder denkbaren Form steiniger Schönheit geschliffen". Das bietet weit mehr als nur eine Naturkulisse; es wird zur schicksalshaft treibenden Zentralgewalt. Die stärkste Passage ist denn auch eine lange Fahrt im kleinen Kahn hinaus auf die tobende See, der man wirklich mit angehaltenem Atem folgt. Zumal Pechmanns deutsche Fassung, die erste dieses Textes überhaupt, diese Fahrt wunderbar rhythmisiert und mit schönen alten Seefahrtswörtern versieht: "Der Bug der Büse wurde gegen den Wind gedreht, und in den Unbilden des Sturms und der kabbeligen See kämpfte sie sich lavierend voran, kam wie durch Zauberkraft zum Stehen und lag schließlich rollend still." (Zum Ermessen der Übersetzerleistung hier der Ausgangstext: "The coble's head was thrown round to the wind, and in that stress of storm and chopping sea she beat and buffeted and like magic her way stopped, and she lay tossing.")
Schon einige Entdeckungen aus dem Archiv der großen Seefahrts- und Reisetradition des neunzehnten Jahrhunderts haben wir Pechmann als Herausgeber und Übersetzer zu verdanken. Auch diese lohnt. Sie präsentiert sich in schöner Aufmachung als kleines Bändchen, das uns für ein, zwei Stunden ein wildes, eskapistisches Leseabenteuer schenkt. Was wollen wir mehr?
TOBIAS DÖRING
Bram Stoker: "Der Zorn des Meeres". Erzählung.
Hrsg. und aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Mare Verlag, Hamburg 2020. 176 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mehr als "Dracula": In Bram Stokers Erzählung "Der Zorn des Meeres", die jetzt erstmals auf Deutsch erscheint, steht Liebe gegen Pflicht
Alle Welt kennt Dracula, auch wenn viele Bram Stokers gleichnamigen Roman von 1897 nie gelesen haben. Die Figur zählt seither zu den stärksten Populärikonen der Moderne, weil sich in ihrer ansteckenden Blut- und Sauglust manches von dem bündelt, was Unbehagen an der Kultur schafft und nur in heimlichem Begehren oder eben Phantasien fortlebt. Als der Roman jedoch erschien, ließ der Erfolg erst einmal auf sich warten. Dabei war Stoker (1847 bis 1912) schon länger literarisch produktiv und hegte hohe Ambitionen. Ein gutes Dutzend ausgewachsener Erzähltexte veröffentlichte er im Laufe seines Lebens, während er im Hauptberuf fast drei Jahrzehnte lang Faktotum für Henry Irving war, den Schauspieler und größten Bühnencharismatiker jener Zeit, von dem einiges in der Persönlichkeit von Graf Dracula zu finden ist.
Kein anderes Werk Stokers hat die Zeiten überdauert. Jetzt lädt uns Alexander Pechmann ein, eine wilde Unwettergeschichte, die zwei Jahre vor "Dracula" herauskam, kennenzulernen. Ihr Originaltitel "The Watter's Mou'" bezeichnet den zentralen Schauplatz an der zerklüfteten schottischen Ostküste: eine Schlucht, ehemals Flussmündung, in der sich Gischt und Brandung durch die schroffen Felsen zu reißenden Strudeln steigern und bei Sturm tödliche Sogwirkung entfalten.
Von den ersten beiden Sätzen an - "Es drohte eine stürmische Nacht zu werden. Den ganzen Tag über waren vom Meer Nebelschwaden herübergeweht" - ahnen wir schon, worauf das Geschehen dieser Schreckensnacht hinausläuft. Im Mittelpunkt steht ein junges Paar, er im Dienst der Küstenwache auf der Jagd nach Schmugglern, sie eine unbescholtene Fischerstochter, deren Vater durch Verschuldung in die Hände eines skrupellosen Schurken und Schmuggelbarons geraten ist. So steht Liebe gegen Pflicht: Kann die Tochter ihren Vater retten, wenn sie den Verlobten dazu bringt, für einen kurzen Moment wegzuschauen? Darf der gestrenge Küstenwächter seine ehernen Prinzipien den romantischen Gefühlen beugen? Während sich das Fischerboot mit der fatalen Fracht unaufhaltsam nähert und der Sturm zunehmend wütet, stehen also schicksalsträchtige Entscheidungen an. Das Tosen der Elemente korrespondiert dabei aufs schönste mit dem Aufruhr der Gefühle.
Man tut Stokers Wirkung keinen Abbruch, wenn man festhält, dass sein literarisches Talent nicht in erfindungsreicher Figuren- und Charakterzeichnung liegt. Hier ist vieles pure Kolportage und zeittypisches Klischee: Männer sind viril und ernst, Frauen weiblich-schwach und opferbereit, Schurken schrecklich und jüdisch - wie auch bei "Dracula" trägt hier das Böse klar antisemitische Züge und kann zum Schluss nur durch ein Bündnis aufrechter Männer, die sich über der Frauenleiche die Hand reichen, gebannt werden.
Stokers Können liegt vielmehr in atmosphärischer Verdichtung sowie in der Ausgestaltung des dramatischen Settings aus Meer, Küste und Klüften: "die Felsen aus Gneis und Granit, aufgebrochen durch alle möglichen Erschütterungen der Natur und vom Zahn der Zeit zu jeder denkbaren Form steiniger Schönheit geschliffen". Das bietet weit mehr als nur eine Naturkulisse; es wird zur schicksalshaft treibenden Zentralgewalt. Die stärkste Passage ist denn auch eine lange Fahrt im kleinen Kahn hinaus auf die tobende See, der man wirklich mit angehaltenem Atem folgt. Zumal Pechmanns deutsche Fassung, die erste dieses Textes überhaupt, diese Fahrt wunderbar rhythmisiert und mit schönen alten Seefahrtswörtern versieht: "Der Bug der Büse wurde gegen den Wind gedreht, und in den Unbilden des Sturms und der kabbeligen See kämpfte sie sich lavierend voran, kam wie durch Zauberkraft zum Stehen und lag schließlich rollend still." (Zum Ermessen der Übersetzerleistung hier der Ausgangstext: "The coble's head was thrown round to the wind, and in that stress of storm and chopping sea she beat and buffeted and like magic her way stopped, and she lay tossing.")
Schon einige Entdeckungen aus dem Archiv der großen Seefahrts- und Reisetradition des neunzehnten Jahrhunderts haben wir Pechmann als Herausgeber und Übersetzer zu verdanken. Auch diese lohnt. Sie präsentiert sich in schöner Aufmachung als kleines Bändchen, das uns für ein, zwei Stunden ein wildes, eskapistisches Leseabenteuer schenkt. Was wollen wir mehr?
TOBIAS DÖRING
Bram Stoker: "Der Zorn des Meeres". Erzählung.
Hrsg. und aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Mare Verlag, Hamburg 2020. 176 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main