Der Sehnsucht folgen ... William Fiennes hat sich einen Traum verwirklicht und die Schneegänse auf ihrem Zug vom Süden der USA zu ihren Brutplätzen in die kanadische Arktis begleitet. Seine Reise zu den Tieren und den großartigen Schauplätzen der Natur ist zugleich eine Reise zu den Menschen und die Suche nach Heimat, Ferne und Freiheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2004Broiler für die Ewigkeit
Federviehtrieb: William Fiennes reist auf den Spuren der Gänse
Schneegänse schmecken nach den Flugmeilen, die sie in ihrem Leben zurückgelegt haben: Für Leser, die sich ausschließlich aus kulinarischen Gründen mit Ornithologie befassen, sind sie deshalb uninteressant. Auch William Fiennes liegen die Bissen schließlich "wie Kiesel im Magen"; auch der 1970 im englischen Broughton geborene Autor hat mit Schneegänsen eigentlich wenig im Sinn, obwohl der Titel seines ersten Buchs anderes vermuten läßt. Es handelt vielmehr von Aufbruch und Heimkehr, von dem geheimnisvollen Drang fortzugehen und den Instinkten, die einen zurück nach Hause führen. Schneegänse sind ewig auf Wanderschaft, um "mit der Kipplage fertig zu werden", in der sich die Erde um die Sonne dreht. Für William Fiennes werden sie so zu Gefährten auf dem Weg von der Schattenseite zurück ans Licht.
Im Alter von fünfundzwanzig Jahren war Fiennes krank geworden. Die Erinnerung an sein im Buch namenlos bleibendes Leiden - "ein fremdes Land ..., wo ich nichts mehr erkannte oder verstand" - liegt wie eine dunkle Wolkendecke über seiner autobiographischen Erzählung, die eine Reise auf den Spuren der Gänse, von Texas bis nach Baffin Island vor der Küste Kanadas, beschreibt. Fiennes las während seiner Genesung Paul Gallicos Geschichte "Die Schneegans" und begann, "über die geheimnisvollen Signale" nachzudenken, die einen Vogel zum Aufbruch zwingen. Als er in Eagle Lake, einer Präriestadt westlich von Houston, ankam, hockten Sumpfhordenvögel auf den Telegrafendrähten.
Fiennes langweilt mit endlosen ornithologischen Details und fasziniert durch überraschende Beobachtungen aus der Vogelperspektive. Die Sumpfhordenvögel sitzen auf ihren Drähten "wie Noten auf Notenlinien"; im Sportsman's Restaurant essen die Jäger unter den toten Blicken ausgestopfter Vögel ihre Brathähnchen. Fiennes ist ein Meister der ironischen Distanzierung: Wenn er unter den blaßblauen Baumwollhosen, dem verwaschenen Sweatshirt der alten Dame, die ihm in Austin Unterschlupf gewährt, die "leichten Knochen eines Vogels" vermutet - "ihr weiches, weißes Haar hatte die zarte, flaumige Beschaffenheit von Daunen" -, dann nicht ohne das spöttische Augenzwinkern des versierten Erzählers, der um die eigene Verblendung weiß.
Fiennes fährt von Winnipeg mit dem Muskeg Express nach Churchill an der Hudson Bay; er unternimmt eine essayistische Exkursion in die Geschichte der Bahnlinie, er beschreibt Fichten- und Pappelwälder, "ein Stockentenmännchen, einen Grünkopf", das mit dem Zug "um die Wette nach Norden" rast. Unter den Menschen, denen Fiennes begegnet, bleibt vor allem der kleine Mann mit blanken Schuhen und sauberen Bügelfalten in Erinnerung, den Fiennes im Speisewagen kennenlernt.
Der Mann hat seinen Stuhl zum Fenster gedreht, sein Blick hängt an der vorbeiziehenden Landschaft: Ziellos - weil er die Züge liebt, weil er ein unstetes Leben führt - fährt er die sechsunddreißig Stunden zwischen Winnipeg und Churchill bereits zum neunzehnten Mal. "Ich fahre nur", sagt er lapidar, "fahre einfach nur Zug." Der Mann hat kein Geheimnis, seine Rastlosigkeit ist wie der pulsierende Flügelschlag der Schneegänse im Wind. "Die Wildnis", heißt es einmal, sei ein Teil von uns, "weil sie die gleichen Dinge benötigt wie wir." Daß sie ungenießbar sind, mag man den Schneegänsen angesichts dieser Erkenntnis verzeihen.
THOMAS DAVID
William Fiennes: "Der Zug der Schneegänse". Eine Reise zwischen Himmel und Erde. Aus dem Englischen übersetzt von Ilse Strasmann. Carl Hanser Verlag, München 2004. 271 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Federviehtrieb: William Fiennes reist auf den Spuren der Gänse
Schneegänse schmecken nach den Flugmeilen, die sie in ihrem Leben zurückgelegt haben: Für Leser, die sich ausschließlich aus kulinarischen Gründen mit Ornithologie befassen, sind sie deshalb uninteressant. Auch William Fiennes liegen die Bissen schließlich "wie Kiesel im Magen"; auch der 1970 im englischen Broughton geborene Autor hat mit Schneegänsen eigentlich wenig im Sinn, obwohl der Titel seines ersten Buchs anderes vermuten läßt. Es handelt vielmehr von Aufbruch und Heimkehr, von dem geheimnisvollen Drang fortzugehen und den Instinkten, die einen zurück nach Hause führen. Schneegänse sind ewig auf Wanderschaft, um "mit der Kipplage fertig zu werden", in der sich die Erde um die Sonne dreht. Für William Fiennes werden sie so zu Gefährten auf dem Weg von der Schattenseite zurück ans Licht.
Im Alter von fünfundzwanzig Jahren war Fiennes krank geworden. Die Erinnerung an sein im Buch namenlos bleibendes Leiden - "ein fremdes Land ..., wo ich nichts mehr erkannte oder verstand" - liegt wie eine dunkle Wolkendecke über seiner autobiographischen Erzählung, die eine Reise auf den Spuren der Gänse, von Texas bis nach Baffin Island vor der Küste Kanadas, beschreibt. Fiennes las während seiner Genesung Paul Gallicos Geschichte "Die Schneegans" und begann, "über die geheimnisvollen Signale" nachzudenken, die einen Vogel zum Aufbruch zwingen. Als er in Eagle Lake, einer Präriestadt westlich von Houston, ankam, hockten Sumpfhordenvögel auf den Telegrafendrähten.
Fiennes langweilt mit endlosen ornithologischen Details und fasziniert durch überraschende Beobachtungen aus der Vogelperspektive. Die Sumpfhordenvögel sitzen auf ihren Drähten "wie Noten auf Notenlinien"; im Sportsman's Restaurant essen die Jäger unter den toten Blicken ausgestopfter Vögel ihre Brathähnchen. Fiennes ist ein Meister der ironischen Distanzierung: Wenn er unter den blaßblauen Baumwollhosen, dem verwaschenen Sweatshirt der alten Dame, die ihm in Austin Unterschlupf gewährt, die "leichten Knochen eines Vogels" vermutet - "ihr weiches, weißes Haar hatte die zarte, flaumige Beschaffenheit von Daunen" -, dann nicht ohne das spöttische Augenzwinkern des versierten Erzählers, der um die eigene Verblendung weiß.
Fiennes fährt von Winnipeg mit dem Muskeg Express nach Churchill an der Hudson Bay; er unternimmt eine essayistische Exkursion in die Geschichte der Bahnlinie, er beschreibt Fichten- und Pappelwälder, "ein Stockentenmännchen, einen Grünkopf", das mit dem Zug "um die Wette nach Norden" rast. Unter den Menschen, denen Fiennes begegnet, bleibt vor allem der kleine Mann mit blanken Schuhen und sauberen Bügelfalten in Erinnerung, den Fiennes im Speisewagen kennenlernt.
Der Mann hat seinen Stuhl zum Fenster gedreht, sein Blick hängt an der vorbeiziehenden Landschaft: Ziellos - weil er die Züge liebt, weil er ein unstetes Leben führt - fährt er die sechsunddreißig Stunden zwischen Winnipeg und Churchill bereits zum neunzehnten Mal. "Ich fahre nur", sagt er lapidar, "fahre einfach nur Zug." Der Mann hat kein Geheimnis, seine Rastlosigkeit ist wie der pulsierende Flügelschlag der Schneegänse im Wind. "Die Wildnis", heißt es einmal, sei ein Teil von uns, "weil sie die gleichen Dinge benötigt wie wir." Daß sie ungenießbar sind, mag man den Schneegänsen angesichts dieser Erkenntnis verzeihen.
THOMAS DAVID
William Fiennes: "Der Zug der Schneegänse". Eine Reise zwischen Himmel und Erde. Aus dem Englischen übersetzt von Ilse Strasmann. Carl Hanser Verlag, München 2004. 271 S., geb., 19,90 [Euro].
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"Ein Buch über Zugvögel, ein Buch übers Reisen. Es ist auch ein philosophisches Buch, das den Ursachen unserer Sehnsüchte auf den Grund zu gehen versucht. Nicht zuletzt aber ist "Der Zug der Schneegänse" ein kleines literarisches Meisterwerk, dessen Anziehungskraft allein auf der Magie des Wortes beruht." Klara Obermüller, Die Weltwoche, 12/04 "Was für ein wunderschönes Buch! [...]Eine Geschichte zwischen Himmel und Erde: Lest, Leute, lest, solch ein fantastisches Buch gibt es nur alle Jahrzehnte einmal." Klaus Walther, Freie Presse Chemnitz, 19.03.04
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Gemischte Gefühle hat William Fiennes' vom Zug der Wildgänse inspirierter Erstling bei Rezensent Thomas David hinterlassen. Einerseits war er gelangweilt von endlosen ornithologischen Details, andererseits fasziniert von überraschenden Beobachtungen aus der Vogelperspektive. Manchmal interessierten ihn essayistische Exkursionen des Romans. Oft jedoch fand er die Erzählung eher zäh. Wie eine dunkle Wolldecke liegt für ihn über der autobiografischen Geschichte einer Reise von Texas bis zur Hudson Bay in Kanada außerdem eine nicht näher definierte Krankheit des Autors in seiner Jugend.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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