Nach seinem gefeierten Roman "Als ich jung war" - Norbert Gstreins atemberaubendes Buch über die Abgründe der Menschheit. Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2021
"Natürlich will niemand sechzig werden." Damit beginnt Jakobs Lebensgeständnis. Dem bekannten Schauspieler, über den ein Verlag eine Biografie plant, graust es vor dem Kommenden. Da stellt ihm seine Tochter die Frage, die alles sprengt: "Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?" Jakob erinnert sich an einen Filmdreh an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Die Morde an Frauen und das Elend dort bekam er bloß distanziert mit - aber zwei Mal war er plötzlich mittendrin. Er schämt sich, ringt mit den simplen Urteilen der Welt und sehnt sich in gleißenden Erinnerungen nach dem Glück. Warum ist er kein Original, sondern stets nur "der zweite Jakob"? Norbert Gstrein schreibt einen Roman, der mitreißende, große Kunst ist.
"Natürlich will niemand sechzig werden." Damit beginnt Jakobs Lebensgeständnis. Dem bekannten Schauspieler, über den ein Verlag eine Biografie plant, graust es vor dem Kommenden. Da stellt ihm seine Tochter die Frage, die alles sprengt: "Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?" Jakob erinnert sich an einen Filmdreh an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Die Morde an Frauen und das Elend dort bekam er bloß distanziert mit - aber zwei Mal war er plötzlich mittendrin. Er schämt sich, ringt mit den simplen Urteilen der Welt und sehnt sich in gleißenden Erinnerungen nach dem Glück. Warum ist er kein Original, sondern stets nur "der zweite Jakob"? Norbert Gstrein schreibt einen Roman, der mitreißende, große Kunst ist.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Als ziemlich unangenehm empfindet Rezensentin Judith von Sternburg die Lektüre von Norbert Gstreins für den Deutschen Buchpreis nominiertem Roman. So stehe man als Leser der Geschichte um einen Schauspieler, der vornehmlich als Frauenmörder gecasted wird und früh Zweifel an der eigenen Selbstdarstellung äußert, von der ersten Seite an misstrauisch gegenüber - was stimmt hier, und steckt nicht vielleicht doch etwas von der Rolle in ihm selbst, fragt die Kritikerin sich. An der Vertuschung eines Unfalltodes war der Protagonist einst zumindest beteiligt, wie sie später erfährt. Aber von einer bequemen Kriminalhandlung keine Spur - stattdessen ein selbst für Gstrein besonders "rigoroser" Roman, der Sternburg "einsam" und hilflos zurücklässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.02.2021Kalte Wut
Der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein fragt sich in seinen Romanen immer wieder, ob man die Schuld, die einer im Laufe
seines Lebens auf sich lädt, durch das Erzählen einholen kann. In „Der zweite Jakob“ versucht er es noch einmal
VON HILMAR KLUTE
Im Spätsommer 2019 veröffentlichte Norbert Gstrein in der NZZ einen seltsam erregten Essay, eine Schmährede auf den dreizehnjährigen Freund seiner Tochter. Man blickte darin auf das unverhohlen zornig skizzierte Porträt eines Besserwissers und Abmahners, der triumphierend das Marmeladenglas aus dem Mülleimer fischt und es seiner stolzen Mutter als Beweis für die ökologische Verantwortungslosigkeit des Hausherrn Gstrein präsentiert. Bei Tisch fragt der Junge altklug, ob man Trump nicht einfach ermorden dürfe. Gstrein schaut in das Gesicht der Mutter, „und ich schwöre, ich habe nie eine grössere Seligkeit und nie ein grösseres Glück gesehen, einen solchen Bastard auf die Welt gebracht zu haben“. Dieser heftige Satz kehrt beinahe wörtlich in Norbert Gstreins neuem Roman „Der zweite Jakob“ wieder.
Im Roman ist der zur Ermordung vorgeschlagene Tyrann Trumps republikanischer Amtsvorgänger George W. Bush, der überdies eine Stellvertreterfigur für das Hauptthema des Buches ist: die vielfache, reale oder gefühlte, Verstrickung in Schuld und die daraus resultierende, gelegentlich narzisstisch verdrehte Selbstverachtung. Der Mann, der all dies und zudem die Demütigung des Alters zu spüren bekommt, ist ein Schauspieler, sein Name lautet Jakob Thurner. Eigentlich hat er einen anderen Namen, einen „mit vier aufeinanderfolgenden Konsonanten“. Seinem Regisseur hat er vorgeschlagen, sich
„Gestirn“ zu nennen, statt, natürlich: Gstrein wie sein Schöpfer, der 1961 in Mils in der Steiermark geboren wurde, dem Ort, aus dem auch die Rennrodlerin Helene Thurner und der Mediziner Josef Thurner stammen.
Man muss sich bei der Lektüre selbst ein bisschen zur Ordnung rufen, um nicht zum willfährigen Dekonstruktivisten des biografischen Fährtenlegers Gstrein zu werden. Denn Norbert Gstrein will mit diesem an historischen und literarischen Referenzen reichen Roman eigentlich kein postmodernes Spiegelkabinett aufmachen, sondern die Tragödie eines Mannes erzählen, der sich kurz vor seinem 60. Geburtstag den Wunsch erfüllen möchte, aus den Trümmern seines Lebens zu türmen. Die eigentümliche erzählerische Wut, die aus jeder Zeile des Essays über den kleinen Bastard blitzt, treibt auch die Dramaturgie des Romans an. Und aus der bewusst hergestellten Nähe der Hauptfigur zum Autor Gstrein – Jakob versucht sich zeitweise sogar als Romancier – wird ein Projekt der autobiografischen Annäherung, das nicht ohne Abweisungen auskommen will. Seine kaum bezwingbare Abneigung gegen den ambitionierten Jungen hat Gstrein im Roman auf zwei weitere Figuren verteilt. Die augenscheinlichste ist Mirko, der aus Bosnien stammende aktuelle Freund von Jakobs Tochter Luzie, „Mitglied einer Aktivistengruppe, die sich gegen den Transitverkehr engagierte“. Die zweite Figur ist Mirkos kiffender Vorgänger, den Jakob mit 5000 Euro zum Verschwindibus gemacht hat.
Am Anfang will Jakob mit seiner Tochter Luzie in die USA reisen, um den Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag zu entgehen, vor allem dem Fest in seinem steirischen Heimatdorf. Dort lebt noch ein alter Onkel, der den nächsten Stellvertreterposten für das schlechte Gewissen besetzt: Jakob, der von der Großmutter während der NS-Zeit in ein Heim gegeben wurde und dort nur knapp der Euthanasie entkam. Ihn, den beinahe Geopferten, als Kind verleugnet und verspottet zu haben, belastet das Gewissenskonto des „zweiten Jakob“, wie sich Thurner, in gespielter oder echt empfundener Reumütigkeit nennt.
Zudem steht eine Reihe von Gesprächen mit dem in allen Facetten der Schmierigkeit gezeichneten Journalisten Elmar Pflegerl an, einem publizistischen Serientäter, der die neueste seiner routiniert hingeflegelten Prominentenbiografien über Jakob Thurner schreiben möchte. Pflegerls Übergriffigkeit, seine unverhohlene Sensationslust am privaten Desaster Jakobs, wird von Luzie, die bei den ersten Gesprächen anwesend ist, aggressiv korrigiert. Eine seiner Fragen lautet, ob Jakobs Verbrauch an Ehefrauen etwas mit dem Hang dazu zu tun habe, Frauenmörder zu spielen. Die Rolle des Wiener Mörders Jack Unterweger hat Jakob allerdings abgelehnt, weil er die hündische Liebe der Schickeria zu diesem in den Neunzigerjahren sehr bekannten Serienkiller und Pseudopoeten verachtet. Die Rolle übernahm, im Roman wie in der Wirklichkeit, John Malkovich.
Beinahe unbeabsichtigt erzählt Jakob Thurner seiner Tochter Luzie, dass er einmal als Beifahrer an einem Unfall mit Fahrerflucht beteiligt gewesen sei, bei dem eine Frau starb. Luzie bricht daraufhin mit dem Vater, und die Erzählung beginnt sich aufzufalten in die Geschichte einer von Anfang an problematischen Vater-Tochter-Beziehung, die klinische Züge annimmt, sowie in die Erinnerung an zehn Jahre zurückliegende Dreharbeiten bei El Paso an der Grenze zu Mexiko. Jenseits der Grenze wurden damals serienweise Frauen ermordet, Prostituierte vor allem. Mit einer von ihnen ist Jakob während des Filmdrehs selbst intim und wird damit auf vertrackte Weise schuldig an ihr. Die Schuld liegt in einem diffusen Zwischenbereich zwischen tatsächlich Geschehenem und dem vermuteten Fortgang des Schicksals. Verschwindet die Prostituierte, weil sie andere Kunden hat, wird sie ermordet? Und die Frau, die auf einer einsamen Landstraße überfahren wird – starb sie in dem Augenblick oder krepierte sie qualvoll am Straßenrand?
Gstrein nähert sich den Schlüsselszenen seines Romans mit einer raffiniert konstruierten Kameraführung. Annäherung ans und Abkehr vom Geschehen wechseln einander ab, bis irgendwann die schonungslose Nahaufnahme den letzten Zweifel ausräumt, dass hier jemand eine nicht mehr durch Erzählen tilgbare Lebensschuld auf sich geladen hat. Es ist beeindruckend, wie kalkuliert Norbert Gstrein seine literarischen Mittel wählt. Das Filmische wird zum literarischen Prinzip, während die Hauptfigur, eigentlich Schauspieler, mehr und mehr Wesenszüge und Techniken des Schriftstellers annimmt. Gegen Ende spricht er seine Verwunderung über die Wahrnehmung von Schriftstellern aus, „die ihren Blick einfach nach außen richteten, wenn ihnen gar nichts mehr einfiel, die Kamera auf Weitwinkel stellten und ihrer inneren Leere mit seiner Beschreibungswut begegneten“. An anderer Stelle schimpft er über „Schriftsteller mit kitschigen Safthirnen“, die sich für die Freilassung ihres als Kollegen begriffenen Mörders Unterweger eingesetzt hätten.
Überhaupt hat Gstrein seinen Roman mit literarischen Verweisen vollgepackt. Zwei Zitate von Onetti sind gekennzeichnet, den berühmten Vers „Bin gar keine Russin, echt deutsch“ aus T. S. Eliots „Waste Land“ legt er heimlich Jakobs Ärztin Frau Dr. Maier in den Mund. Apropos: Einen gewissen Makel an Gstreins fabelhaft komponiertem Buch bildet die Überbesetzung mit Nebenfiguren, deren Funktionen nicht immer einleuchten. Wozu braucht es das Kapitel über die verflossene Maja? Jakobs Verlorenheit ist längst augenfällig geworden.
Gegen Ende reisen Luzie und Jakob in sein Heimatdorf, und hier kehrt sich in merkwürdiger und auch nicht ganz schlüssiger Weise das Sorgeverhältnis der beiden um. Die vor Kurzem noch hospitalisierte Tochter wird nun zur Moderatorin, die ihren Vater zu erden bemüht ist, den in Hotelkellern vermuteten Onkel Jakob ausfindig macht und von dessen schönem, glücklichen Gesicht zu berichten weiß. Sie tröstet ihren Vater nun auch über die Peinlichkeit hinweg, dass die Gemeindeverwaltung ihm eine lebensgroße Statue im öffentlichen Raum spendiert. Das Denkmal stammt aus einer chinesischen Serienproduktion, der Bronze-Jakob trägt sogar asiatische Gesichtszüge. Jakob selbst hat sich die Groteske in einer rhetorischen Frage erklärt: „War ich eine ebenso tragische wie lächerliche Figur, bei der sich am Ende Kunst und Leben nicht mehr unterscheiden ließen?“
Der Hang zur Selbstzerschmetterung macht das brutale Spiel dieses Romans mit Identitäten zu einer beeindruckenden Kunstleistung. Es ist ein Spiel mit dem Runterkühlen, das sich im eiskalten Weißwein, den Jakob immer griffbereit hat, bis hin zum Bekenntnis entfaltet, Jakob sei immer ein Kind des Winters gewesen, das Wärme nur aushielt, wenn es zuvor lange genug in der Kälte war. „Der zweite Jakob“ ist ein Schriftsteller-Roman, eine poetologische und autobiografische Standortbestimmung des Autors Gstrein und deshalb, weniger inhaltlich als prinzipiell, die Fortsetzung, besser: die Umkehrung seines Vorgängers „Als ich jung war“. Jakob Thurner ist ein Mann, der zuschlagen möchte und Leuten an die Kehle geht, dem Journalisten Pflegerl zum Beispiel. Er ist ein Kombattant, der die Wucht des körperlichen Zugriffs genauso in sich trägt wie eine heiße, in Wahrheit durch nichts herunterzukühlende Wut auf die Gegenwart.
Man darf sich nicht zu willfährig
auf die Spuren des biografischen
Fährtenlegers Gstrein begeben
Dem Schriftsteller wird in der
Steiermark ein Denkmal gebaut.
Es trägt chinesische Züge
Norbert Gstrein:
Der zweite Jakob. Roman. Hanser, München 2021.
448 Seiten, 25 Euro.
Schicksalslandschaften: Nachts, in der Nähe der Grenze zwischen den USA und Mexiko geschieht in Norbert Gstreins Roman „Der zweite Jakob"“ ein Unfall mit Fahrerflucht, der die Hauptfigur Jakob noch Jahre später verfolgt.
Foto: Gregory Bull/AP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein fragt sich in seinen Romanen immer wieder, ob man die Schuld, die einer im Laufe
seines Lebens auf sich lädt, durch das Erzählen einholen kann. In „Der zweite Jakob“ versucht er es noch einmal
VON HILMAR KLUTE
Im Spätsommer 2019 veröffentlichte Norbert Gstrein in der NZZ einen seltsam erregten Essay, eine Schmährede auf den dreizehnjährigen Freund seiner Tochter. Man blickte darin auf das unverhohlen zornig skizzierte Porträt eines Besserwissers und Abmahners, der triumphierend das Marmeladenglas aus dem Mülleimer fischt und es seiner stolzen Mutter als Beweis für die ökologische Verantwortungslosigkeit des Hausherrn Gstrein präsentiert. Bei Tisch fragt der Junge altklug, ob man Trump nicht einfach ermorden dürfe. Gstrein schaut in das Gesicht der Mutter, „und ich schwöre, ich habe nie eine grössere Seligkeit und nie ein grösseres Glück gesehen, einen solchen Bastard auf die Welt gebracht zu haben“. Dieser heftige Satz kehrt beinahe wörtlich in Norbert Gstreins neuem Roman „Der zweite Jakob“ wieder.
Im Roman ist der zur Ermordung vorgeschlagene Tyrann Trumps republikanischer Amtsvorgänger George W. Bush, der überdies eine Stellvertreterfigur für das Hauptthema des Buches ist: die vielfache, reale oder gefühlte, Verstrickung in Schuld und die daraus resultierende, gelegentlich narzisstisch verdrehte Selbstverachtung. Der Mann, der all dies und zudem die Demütigung des Alters zu spüren bekommt, ist ein Schauspieler, sein Name lautet Jakob Thurner. Eigentlich hat er einen anderen Namen, einen „mit vier aufeinanderfolgenden Konsonanten“. Seinem Regisseur hat er vorgeschlagen, sich
„Gestirn“ zu nennen, statt, natürlich: Gstrein wie sein Schöpfer, der 1961 in Mils in der Steiermark geboren wurde, dem Ort, aus dem auch die Rennrodlerin Helene Thurner und der Mediziner Josef Thurner stammen.
Man muss sich bei der Lektüre selbst ein bisschen zur Ordnung rufen, um nicht zum willfährigen Dekonstruktivisten des biografischen Fährtenlegers Gstrein zu werden. Denn Norbert Gstrein will mit diesem an historischen und literarischen Referenzen reichen Roman eigentlich kein postmodernes Spiegelkabinett aufmachen, sondern die Tragödie eines Mannes erzählen, der sich kurz vor seinem 60. Geburtstag den Wunsch erfüllen möchte, aus den Trümmern seines Lebens zu türmen. Die eigentümliche erzählerische Wut, die aus jeder Zeile des Essays über den kleinen Bastard blitzt, treibt auch die Dramaturgie des Romans an. Und aus der bewusst hergestellten Nähe der Hauptfigur zum Autor Gstrein – Jakob versucht sich zeitweise sogar als Romancier – wird ein Projekt der autobiografischen Annäherung, das nicht ohne Abweisungen auskommen will. Seine kaum bezwingbare Abneigung gegen den ambitionierten Jungen hat Gstrein im Roman auf zwei weitere Figuren verteilt. Die augenscheinlichste ist Mirko, der aus Bosnien stammende aktuelle Freund von Jakobs Tochter Luzie, „Mitglied einer Aktivistengruppe, die sich gegen den Transitverkehr engagierte“. Die zweite Figur ist Mirkos kiffender Vorgänger, den Jakob mit 5000 Euro zum Verschwindibus gemacht hat.
Am Anfang will Jakob mit seiner Tochter Luzie in die USA reisen, um den Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag zu entgehen, vor allem dem Fest in seinem steirischen Heimatdorf. Dort lebt noch ein alter Onkel, der den nächsten Stellvertreterposten für das schlechte Gewissen besetzt: Jakob, der von der Großmutter während der NS-Zeit in ein Heim gegeben wurde und dort nur knapp der Euthanasie entkam. Ihn, den beinahe Geopferten, als Kind verleugnet und verspottet zu haben, belastet das Gewissenskonto des „zweiten Jakob“, wie sich Thurner, in gespielter oder echt empfundener Reumütigkeit nennt.
Zudem steht eine Reihe von Gesprächen mit dem in allen Facetten der Schmierigkeit gezeichneten Journalisten Elmar Pflegerl an, einem publizistischen Serientäter, der die neueste seiner routiniert hingeflegelten Prominentenbiografien über Jakob Thurner schreiben möchte. Pflegerls Übergriffigkeit, seine unverhohlene Sensationslust am privaten Desaster Jakobs, wird von Luzie, die bei den ersten Gesprächen anwesend ist, aggressiv korrigiert. Eine seiner Fragen lautet, ob Jakobs Verbrauch an Ehefrauen etwas mit dem Hang dazu zu tun habe, Frauenmörder zu spielen. Die Rolle des Wiener Mörders Jack Unterweger hat Jakob allerdings abgelehnt, weil er die hündische Liebe der Schickeria zu diesem in den Neunzigerjahren sehr bekannten Serienkiller und Pseudopoeten verachtet. Die Rolle übernahm, im Roman wie in der Wirklichkeit, John Malkovich.
Beinahe unbeabsichtigt erzählt Jakob Thurner seiner Tochter Luzie, dass er einmal als Beifahrer an einem Unfall mit Fahrerflucht beteiligt gewesen sei, bei dem eine Frau starb. Luzie bricht daraufhin mit dem Vater, und die Erzählung beginnt sich aufzufalten in die Geschichte einer von Anfang an problematischen Vater-Tochter-Beziehung, die klinische Züge annimmt, sowie in die Erinnerung an zehn Jahre zurückliegende Dreharbeiten bei El Paso an der Grenze zu Mexiko. Jenseits der Grenze wurden damals serienweise Frauen ermordet, Prostituierte vor allem. Mit einer von ihnen ist Jakob während des Filmdrehs selbst intim und wird damit auf vertrackte Weise schuldig an ihr. Die Schuld liegt in einem diffusen Zwischenbereich zwischen tatsächlich Geschehenem und dem vermuteten Fortgang des Schicksals. Verschwindet die Prostituierte, weil sie andere Kunden hat, wird sie ermordet? Und die Frau, die auf einer einsamen Landstraße überfahren wird – starb sie in dem Augenblick oder krepierte sie qualvoll am Straßenrand?
Gstrein nähert sich den Schlüsselszenen seines Romans mit einer raffiniert konstruierten Kameraführung. Annäherung ans und Abkehr vom Geschehen wechseln einander ab, bis irgendwann die schonungslose Nahaufnahme den letzten Zweifel ausräumt, dass hier jemand eine nicht mehr durch Erzählen tilgbare Lebensschuld auf sich geladen hat. Es ist beeindruckend, wie kalkuliert Norbert Gstrein seine literarischen Mittel wählt. Das Filmische wird zum literarischen Prinzip, während die Hauptfigur, eigentlich Schauspieler, mehr und mehr Wesenszüge und Techniken des Schriftstellers annimmt. Gegen Ende spricht er seine Verwunderung über die Wahrnehmung von Schriftstellern aus, „die ihren Blick einfach nach außen richteten, wenn ihnen gar nichts mehr einfiel, die Kamera auf Weitwinkel stellten und ihrer inneren Leere mit seiner Beschreibungswut begegneten“. An anderer Stelle schimpft er über „Schriftsteller mit kitschigen Safthirnen“, die sich für die Freilassung ihres als Kollegen begriffenen Mörders Unterweger eingesetzt hätten.
Überhaupt hat Gstrein seinen Roman mit literarischen Verweisen vollgepackt. Zwei Zitate von Onetti sind gekennzeichnet, den berühmten Vers „Bin gar keine Russin, echt deutsch“ aus T. S. Eliots „Waste Land“ legt er heimlich Jakobs Ärztin Frau Dr. Maier in den Mund. Apropos: Einen gewissen Makel an Gstreins fabelhaft komponiertem Buch bildet die Überbesetzung mit Nebenfiguren, deren Funktionen nicht immer einleuchten. Wozu braucht es das Kapitel über die verflossene Maja? Jakobs Verlorenheit ist längst augenfällig geworden.
Gegen Ende reisen Luzie und Jakob in sein Heimatdorf, und hier kehrt sich in merkwürdiger und auch nicht ganz schlüssiger Weise das Sorgeverhältnis der beiden um. Die vor Kurzem noch hospitalisierte Tochter wird nun zur Moderatorin, die ihren Vater zu erden bemüht ist, den in Hotelkellern vermuteten Onkel Jakob ausfindig macht und von dessen schönem, glücklichen Gesicht zu berichten weiß. Sie tröstet ihren Vater nun auch über die Peinlichkeit hinweg, dass die Gemeindeverwaltung ihm eine lebensgroße Statue im öffentlichen Raum spendiert. Das Denkmal stammt aus einer chinesischen Serienproduktion, der Bronze-Jakob trägt sogar asiatische Gesichtszüge. Jakob selbst hat sich die Groteske in einer rhetorischen Frage erklärt: „War ich eine ebenso tragische wie lächerliche Figur, bei der sich am Ende Kunst und Leben nicht mehr unterscheiden ließen?“
Der Hang zur Selbstzerschmetterung macht das brutale Spiel dieses Romans mit Identitäten zu einer beeindruckenden Kunstleistung. Es ist ein Spiel mit dem Runterkühlen, das sich im eiskalten Weißwein, den Jakob immer griffbereit hat, bis hin zum Bekenntnis entfaltet, Jakob sei immer ein Kind des Winters gewesen, das Wärme nur aushielt, wenn es zuvor lange genug in der Kälte war. „Der zweite Jakob“ ist ein Schriftsteller-Roman, eine poetologische und autobiografische Standortbestimmung des Autors Gstrein und deshalb, weniger inhaltlich als prinzipiell, die Fortsetzung, besser: die Umkehrung seines Vorgängers „Als ich jung war“. Jakob Thurner ist ein Mann, der zuschlagen möchte und Leuten an die Kehle geht, dem Journalisten Pflegerl zum Beispiel. Er ist ein Kombattant, der die Wucht des körperlichen Zugriffs genauso in sich trägt wie eine heiße, in Wahrheit durch nichts herunterzukühlende Wut auf die Gegenwart.
Man darf sich nicht zu willfährig
auf die Spuren des biografischen
Fährtenlegers Gstrein begeben
Dem Schriftsteller wird in der
Steiermark ein Denkmal gebaut.
Es trägt chinesische Züge
Norbert Gstrein:
Der zweite Jakob. Roman. Hanser, München 2021.
448 Seiten, 25 Euro.
Schicksalslandschaften: Nachts, in der Nähe der Grenze zwischen den USA und Mexiko geschieht in Norbert Gstreins Roman „Der zweite Jakob"“ ein Unfall mit Fahrerflucht, der die Hauptfigur Jakob noch Jahre später verfolgt.
Foto: Gregory Bull/AP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2021Ein Kind im Winter
Mit "Der zweite Jakob", seinem fulminanten Roman über einen Mann auf der Flucht vor der eigenen Lebensgeschichte, zählt Norbert Gstrein zu den Favoriten für den deutschen Buchpreis.
Ein Mann zieht Bilanz: drei Ehen ruiniert, drei Morde begangen, wenngleich nur als Schauspieler in seinen Filmen. Die eigene Tochter "weggegeben" und in ein englisches Internat gesteckt, mit der Familie und dem Heimatdorf gebrochen, sich verhasst gemacht, den Namen gewechselt, aber Provinzherkunft und Vergangenheit nie abgeschüttelt. Eine Berühmtheit geworden, aber auch, wie Tochter Luzie es formuliert, bekannt als der große Schauspieler, "der so blöd gewesen ist, eine Rolle auszuschlagen, die dann John Malkovich angenommen hat". Was soll so einer sagen, wenn seine Tochter ihn fragt, was das Schlimmste sei, was er im Leben getan habe?
Jakob Thurner hat reichlich Auswahl, aber er muss nicht lange nachdenken. Vor Jahren war er an einer Sache beteiligt, "die nicht gut ausgegangen ist". Dann erzählt er, was er nie zuvor jemandem erzählt hatte, und für Thurners Tochter Luzie bricht eine Welt zusammen - "es war unsere gemeinsame Welt". Wir erfahren zwar sofort, was damals während der Dreharbeiten zu einem Film im Grenzgebiet zwischen Texas und Mexiko geschehen ist, aber erst 150 Seiten später schildert Gstrein das Geschehen ausführlich, mit allen Details, allen Widersprüchen, allen Zweifeln. Eine Schauspielerkollegin und Thurner haben in New Mexico nachts einen Menschen überfahren, sie saß am Steuer, er hat die Leiche ins Gebüsch gezerrt und versucht, alle Spuren zu verwischen. Danach gingen die Dreharbeiten weiter,und Thurner spielte wieder, was er schon einmal gespielt hatte: einen Frauenmörder.
Norbert Gstreins Roman "Der zweite Jakob" beginnt als abgründige Vater-Tochter-Geschichte, die der Autor geschickt nutzt, um die Fliehkräfte in Schach zu halten, die an seiner komplexen Erzählkonstruktion zerren. Denn Gstrein entfaltet mit beachtlichem Tempo und großem Geschick ein ganzes Bündel von Themen und Motiven, lädt es mit literarischen Verweisen auf eigene und fremde Werke und deutlichen, mitunter allzu deutlichen autobiographischen Anspielungen auf, um all das einem Mann in den Mund zu legen, der unverkennbar zur Kernfamilie der Gstrein-Figuren gehört: Künstler, aus Tirol stammend, als Ich-Erzähler notorisch unzuverlässig. Wieder so einer, möchte man sagen, und könnte dabei an jenen ersten Satz der Erzählung "Einer" denken, mit der Gstrein 1988 debütierte: "Jetzt kommen sie und holen Jakob."
Mit "Der zweite Jakob" knüpft Gstrein an die frühe Geschichte über einen Außenseiter an, der als Ausgestoßener am Rande der Dorfgemeinschaft ein trostloses Dasein führte. Im neuen Roman ist Jakob der wunderliche Onkel des Ich-Erzählers, der als Kind in ein Heim gegeben wurde, weil er menschenscheu und wortkarg war und in seiner eigenen Welt zu leben schien. Nur mit Mühe und gleichsam in letzter Sekunde konnte Jakob vor der drohenden Ermordung durch die Nazis bewahrt werden. Thurner, der in einem Akt der Identifikation als Kompensation von Schuldgefühlen den Namen des Onkels als Künstlernamen annimmt, sollte das Erbe von Onkel Jakob verwalten, hat sich mit dem Geld aber lieber seinen luxuriösen Lebensstil finanziert. Was ist das Schlimmste, dass einer in seinem Leben getan hat?
Kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag, vor dem ihm nicht nur graut, weil ihm die Heimatgemeinde eine Feier samt aus China importierter Billig-Statue in Beinahe-Lebensgröße spendieren will, legt Jakob Thurner sich Rechenschaft ab über sein Leben. Er versucht es zumindest, aber die Spurensuche gerät immer wieder zur Spurenverwischung. Ein schmieriger Biograph namens Elmar Pflegerl, der zu Beginn des Romans die ganze Sachen ins Rollen bringt, erscheint Thurner immer mehr als Feind, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, Tochter Luzie wendet sich zwischenzeitlich vom Vater ab. Sich selbst sieht er in der Tradition Onkel Jakobs als Unangepassten, für die Tochter fürchtet er indes, dass sie nach Onkel Jakob schlägt, also lebensuntüchtig wird, irgendwie anders als die anderen, als wäre das ein Makel. Dabei erweist sich Luzie am Ende als weit hellsichtiger als ihr Vater, den sie da längst durchschaut hat: "Du weißt manchmal so wenig über dich, dass es erschreckend ist, wie du damit überhaupt hast so alt werden können."
"Der zweite Jakob" ist ein ganz und gar erstaunlicher Roman. Erstaunlich wegen der Virtuosität, mit der Gstrein hier einige seiner alten Themen und literarischen Verfahren aufgreift, variiert und weiterentwickelt, erstaunlich, weil man sich verwundert die Augen reibt und sich fragt, wie dieser Autor es eigentlich verhindert, dass ihm die Vielzahl der Themen und Motive, die hier verhandelt werden, um die Ohren fliegt. In fliegendem Wechsel geht es von Innsbruck nach Montana oder New Mexico, von den Dreharbeiten in den neunziger Jahren in die erzählte Gegenwart, in der Thurner seinem sechzigsten Geburtstag entgegensieht, als würde er zum Schafott geführt. Weitere Themen: Femizid und organisiertes Verbrechen, der Mikrokosmos des Filmsets, der Aufstieg des nur "Dubya" genannten George W. Bush vom Provinzgouverneur zum amerikanischen Präsidenten, Herkunftsstolz und Herkunftsscham und über alldem zwei große Fragezeichen: Was können wir über uns selbst wissen, und wie viel von diesem Wissen können wir überhaupt ertragen?
Gstreins Ich-Erzähler stellt sich diese Fragen nicht. Aber er ahnt sie doch und hält sie tunlichst dort, wo er alles hinschiebt, was ihm unangenehm ist: in der sicheren Halbdistanz. Er ist gefangen in einem Panzer aus Scham und Schuld, die meiste Zeit über unfähig, sich von außen zu betrachten. Ein Halbdistanzleben, ein Leben in der Nähe des Gefrierpunkts. Schöner und barmherziger ausgedrückt: Vielleicht, so sagt sich Jakob Thurner am Ende seines Berichts, sei er "nie etwas anderes als ein Kind im Winter gewesen, das Wärme nur aushielt, wenn es davor lange genug in der Kälte sein konnte". Mit Jakob Thurner hat Norbert Gstrein ein literarisches Monster geschaffen, das einem zu Herzen geht. HUBERT SPIEGEL
Norbert Gstrein: "Der zweite Jakob". Roman.
Verlag Carl Hanser,
München 2021. 448 S.,
geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit "Der zweite Jakob", seinem fulminanten Roman über einen Mann auf der Flucht vor der eigenen Lebensgeschichte, zählt Norbert Gstrein zu den Favoriten für den deutschen Buchpreis.
Ein Mann zieht Bilanz: drei Ehen ruiniert, drei Morde begangen, wenngleich nur als Schauspieler in seinen Filmen. Die eigene Tochter "weggegeben" und in ein englisches Internat gesteckt, mit der Familie und dem Heimatdorf gebrochen, sich verhasst gemacht, den Namen gewechselt, aber Provinzherkunft und Vergangenheit nie abgeschüttelt. Eine Berühmtheit geworden, aber auch, wie Tochter Luzie es formuliert, bekannt als der große Schauspieler, "der so blöd gewesen ist, eine Rolle auszuschlagen, die dann John Malkovich angenommen hat". Was soll so einer sagen, wenn seine Tochter ihn fragt, was das Schlimmste sei, was er im Leben getan habe?
Jakob Thurner hat reichlich Auswahl, aber er muss nicht lange nachdenken. Vor Jahren war er an einer Sache beteiligt, "die nicht gut ausgegangen ist". Dann erzählt er, was er nie zuvor jemandem erzählt hatte, und für Thurners Tochter Luzie bricht eine Welt zusammen - "es war unsere gemeinsame Welt". Wir erfahren zwar sofort, was damals während der Dreharbeiten zu einem Film im Grenzgebiet zwischen Texas und Mexiko geschehen ist, aber erst 150 Seiten später schildert Gstrein das Geschehen ausführlich, mit allen Details, allen Widersprüchen, allen Zweifeln. Eine Schauspielerkollegin und Thurner haben in New Mexico nachts einen Menschen überfahren, sie saß am Steuer, er hat die Leiche ins Gebüsch gezerrt und versucht, alle Spuren zu verwischen. Danach gingen die Dreharbeiten weiter,und Thurner spielte wieder, was er schon einmal gespielt hatte: einen Frauenmörder.
Norbert Gstreins Roman "Der zweite Jakob" beginnt als abgründige Vater-Tochter-Geschichte, die der Autor geschickt nutzt, um die Fliehkräfte in Schach zu halten, die an seiner komplexen Erzählkonstruktion zerren. Denn Gstrein entfaltet mit beachtlichem Tempo und großem Geschick ein ganzes Bündel von Themen und Motiven, lädt es mit literarischen Verweisen auf eigene und fremde Werke und deutlichen, mitunter allzu deutlichen autobiographischen Anspielungen auf, um all das einem Mann in den Mund zu legen, der unverkennbar zur Kernfamilie der Gstrein-Figuren gehört: Künstler, aus Tirol stammend, als Ich-Erzähler notorisch unzuverlässig. Wieder so einer, möchte man sagen, und könnte dabei an jenen ersten Satz der Erzählung "Einer" denken, mit der Gstrein 1988 debütierte: "Jetzt kommen sie und holen Jakob."
Mit "Der zweite Jakob" knüpft Gstrein an die frühe Geschichte über einen Außenseiter an, der als Ausgestoßener am Rande der Dorfgemeinschaft ein trostloses Dasein führte. Im neuen Roman ist Jakob der wunderliche Onkel des Ich-Erzählers, der als Kind in ein Heim gegeben wurde, weil er menschenscheu und wortkarg war und in seiner eigenen Welt zu leben schien. Nur mit Mühe und gleichsam in letzter Sekunde konnte Jakob vor der drohenden Ermordung durch die Nazis bewahrt werden. Thurner, der in einem Akt der Identifikation als Kompensation von Schuldgefühlen den Namen des Onkels als Künstlernamen annimmt, sollte das Erbe von Onkel Jakob verwalten, hat sich mit dem Geld aber lieber seinen luxuriösen Lebensstil finanziert. Was ist das Schlimmste, dass einer in seinem Leben getan hat?
Kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag, vor dem ihm nicht nur graut, weil ihm die Heimatgemeinde eine Feier samt aus China importierter Billig-Statue in Beinahe-Lebensgröße spendieren will, legt Jakob Thurner sich Rechenschaft ab über sein Leben. Er versucht es zumindest, aber die Spurensuche gerät immer wieder zur Spurenverwischung. Ein schmieriger Biograph namens Elmar Pflegerl, der zu Beginn des Romans die ganze Sachen ins Rollen bringt, erscheint Thurner immer mehr als Feind, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, Tochter Luzie wendet sich zwischenzeitlich vom Vater ab. Sich selbst sieht er in der Tradition Onkel Jakobs als Unangepassten, für die Tochter fürchtet er indes, dass sie nach Onkel Jakob schlägt, also lebensuntüchtig wird, irgendwie anders als die anderen, als wäre das ein Makel. Dabei erweist sich Luzie am Ende als weit hellsichtiger als ihr Vater, den sie da längst durchschaut hat: "Du weißt manchmal so wenig über dich, dass es erschreckend ist, wie du damit überhaupt hast so alt werden können."
"Der zweite Jakob" ist ein ganz und gar erstaunlicher Roman. Erstaunlich wegen der Virtuosität, mit der Gstrein hier einige seiner alten Themen und literarischen Verfahren aufgreift, variiert und weiterentwickelt, erstaunlich, weil man sich verwundert die Augen reibt und sich fragt, wie dieser Autor es eigentlich verhindert, dass ihm die Vielzahl der Themen und Motive, die hier verhandelt werden, um die Ohren fliegt. In fliegendem Wechsel geht es von Innsbruck nach Montana oder New Mexico, von den Dreharbeiten in den neunziger Jahren in die erzählte Gegenwart, in der Thurner seinem sechzigsten Geburtstag entgegensieht, als würde er zum Schafott geführt. Weitere Themen: Femizid und organisiertes Verbrechen, der Mikrokosmos des Filmsets, der Aufstieg des nur "Dubya" genannten George W. Bush vom Provinzgouverneur zum amerikanischen Präsidenten, Herkunftsstolz und Herkunftsscham und über alldem zwei große Fragezeichen: Was können wir über uns selbst wissen, und wie viel von diesem Wissen können wir überhaupt ertragen?
Gstreins Ich-Erzähler stellt sich diese Fragen nicht. Aber er ahnt sie doch und hält sie tunlichst dort, wo er alles hinschiebt, was ihm unangenehm ist: in der sicheren Halbdistanz. Er ist gefangen in einem Panzer aus Scham und Schuld, die meiste Zeit über unfähig, sich von außen zu betrachten. Ein Halbdistanzleben, ein Leben in der Nähe des Gefrierpunkts. Schöner und barmherziger ausgedrückt: Vielleicht, so sagt sich Jakob Thurner am Ende seines Berichts, sei er "nie etwas anderes als ein Kind im Winter gewesen, das Wärme nur aushielt, wenn es davor lange genug in der Kälte sein konnte". Mit Jakob Thurner hat Norbert Gstrein ein literarisches Monster geschaffen, das einem zu Herzen geht. HUBERT SPIEGEL
Norbert Gstrein: "Der zweite Jakob". Roman.
Verlag Carl Hanser,
München 2021. 448 S.,
geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Mit gutem Grund stand der Roman 2021 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Außergewöhnlich die Technik, mit der das Leben eines Mannes, der kurz vor seinem 60. Geburtstag steht, besichtigt wird." Stefan Michalzik, Frankfurter Rundschau, 20.01.22
"Ein ganz und gar erstaunlicher Roman. Erstaunlich wegen der Virtuosität, mit der Gstrein hier einige seiner alten Themen und literarischen Verfahren aufgreift, variiert und weiterentwickelt, erstaunlich, weil man sich verwundert die Augen reibt und sich fragt, wie dieser Autor es eigentlich verhindert, dass ihm die Vielzahl der Themen und Motive, die hier verhandelt werden, um die Ohren fliegt." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.09.21
"Ein fulminant konstruierter Roman, der alles dafür tut, keine endgültige Wirklichkeit zuzulassen." Hubert Winkels, Die Zeit, 08.04.21
"Norbert Gstrein versteht sich hervorragend darauf, die inneren Konflikte seiner Helden in Form einer bewegten Romanhandlung bildhaft, dramatisch, figurenreich und mit zahlreichen farbig geschilderten Schauplätzen darzustellen." Eberhard Falck, BR2 Diwan, 23.03.21
"Heimat, Identität, Schuld und das Spiel mit der Autofiktion - es sind Gstreins gewohnte Themen, die er im jüngsten Roman mit erzählerischer Brillanz aufgreift. ... Der Versuch, ein ganzes Leben in Worte zu fassen, kann nur ein Versuch bleiben. Im Fall von 'Der zweite Jakob' ist er geglückt." 3sat Kulturzeit, 22.03.21
"Sowohl intellektuelle als auch sinnliche Prosa. ... Was bei der Lektüre dieses so intensiven Romans den Atem verschlägt, ist nicht nur der gekonnte Wirbel mit den Identitätsdiskursen unserer Zeit, sondern auch die biografische Dringlichkeit." Carsten Otte, Der Tagesspiegel, 21.02.21
"Eine große literarische Zirkelbewegung aus Schuld und Sühne, Reue und Buße, Fluch und Segen, Scheusal und Schwermut." Wolfgang Paterno, Profil, 21.02.21
"Gstrein treibt das Spiel mit Fakten und Fiktion, mit Realität und Möglichkeit, mit der Wahrheit, die immer nur im Plural zu haben ist, ebenso lust- wie kunstvoll bis an den Punkt, da aus einem Leben ein unbeschriebenes Blatt wird, das auch ganz anders gefüllt werden könnte. ... Immer wieder aufs Neue schafft er große Literatur." Andreas Wirthensohn, Wiener Zeitung, 20.02.21
"Dass seine Bücher sich ... mit so großem Genuss lesen lassen, liegt an Gstreins unverwechselbar eleganter Sprache, an den langen melodiösen Satzbögen, die etwas Umschmeichelndes haben. ... Gstrein beschwört eine Stimmung herauf, wie man sie aus den Filmen David Lynchs kennt. Bilder von geradezu pathetischer Schönheit gehen nahtlos über in surreale Szenarien, über denen etwas Bedrohliches liegt." Christoph Schröder, Deutschlandfunk, 14.02.21
"Was es heißt, eine Prophezeiung zu erfüllen bei dem Versuch, ihr zu entgehen, demonstriert Gstrein nach allen Regeln der Kunst." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 16.02.21
"Das ist das Tolle an diesem Buch: Wie durch das Erzählen eines Lebens ein Leben zur Geltung kommt. ... Ein echter Page-Turner, der einen auf die zentrale Frage bringt: Wie spricht man über sich selbst und das eigene Leben und welche Lügen gehören dazu, um eine wie auch immer geschaffene Wahrheit zu bilden." Jörg Magenau, rbb Kulturradio, 18.02.21
"Ein mitreißender Roman über den verzweifelten Versuch, sich der eigenen Herkunft und einer beschämenden Biografie zu entledigen." Carsten Otte, SWR2 Literatur, 15.02.21
"Norbert Gstrein ist der Meister des Unzuverlässigen. ... Kaum ein deutschsprachiger Autor hat das literaturtheoretische Konzept des 'unreliable narrator' so perfektioniert und immer wieder originell variiert wie Gstrein." Richard Kämmerlings, Die Welt, 13.02.21
"Es ist beeindruckend, wie kalkuliert Norbert Gstrein seine literarischen Mittel wählt. ... Ein fabelhaft komponiertes Buch." Hilmar Klute, Süddeutsche Zeitung, 15.02.21
"Gründlich nachdenken, was ein gründliches Leben ist ... So ist Norbert Gstrein: Selbst bei drei Wörtern (Der zweite Jakob) kann man nicht aufhören, darüber nachzudenken. Wie soll das nach 447 Seiten enden, wenn der Autor in Höchstform ist? Wahrscheinlich kann es nie enden." Peter Pisa, Kurier, 13.02.21
"Ein ganz und gar erstaunlicher Roman. Erstaunlich wegen der Virtuosität, mit der Gstrein hier einige seiner alten Themen und literarischen Verfahren aufgreift, variiert und weiterentwickelt, erstaunlich, weil man sich verwundert die Augen reibt und sich fragt, wie dieser Autor es eigentlich verhindert, dass ihm die Vielzahl der Themen und Motive, die hier verhandelt werden, um die Ohren fliegt." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.09.21
"Ein fulminant konstruierter Roman, der alles dafür tut, keine endgültige Wirklichkeit zuzulassen." Hubert Winkels, Die Zeit, 08.04.21
"Norbert Gstrein versteht sich hervorragend darauf, die inneren Konflikte seiner Helden in Form einer bewegten Romanhandlung bildhaft, dramatisch, figurenreich und mit zahlreichen farbig geschilderten Schauplätzen darzustellen." Eberhard Falck, BR2 Diwan, 23.03.21
"Heimat, Identität, Schuld und das Spiel mit der Autofiktion - es sind Gstreins gewohnte Themen, die er im jüngsten Roman mit erzählerischer Brillanz aufgreift. ... Der Versuch, ein ganzes Leben in Worte zu fassen, kann nur ein Versuch bleiben. Im Fall von 'Der zweite Jakob' ist er geglückt." 3sat Kulturzeit, 22.03.21
"Sowohl intellektuelle als auch sinnliche Prosa. ... Was bei der Lektüre dieses so intensiven Romans den Atem verschlägt, ist nicht nur der gekonnte Wirbel mit den Identitätsdiskursen unserer Zeit, sondern auch die biografische Dringlichkeit." Carsten Otte, Der Tagesspiegel, 21.02.21
"Eine große literarische Zirkelbewegung aus Schuld und Sühne, Reue und Buße, Fluch und Segen, Scheusal und Schwermut." Wolfgang Paterno, Profil, 21.02.21
"Gstrein treibt das Spiel mit Fakten und Fiktion, mit Realität und Möglichkeit, mit der Wahrheit, die immer nur im Plural zu haben ist, ebenso lust- wie kunstvoll bis an den Punkt, da aus einem Leben ein unbeschriebenes Blatt wird, das auch ganz anders gefüllt werden könnte. ... Immer wieder aufs Neue schafft er große Literatur." Andreas Wirthensohn, Wiener Zeitung, 20.02.21
"Dass seine Bücher sich ... mit so großem Genuss lesen lassen, liegt an Gstreins unverwechselbar eleganter Sprache, an den langen melodiösen Satzbögen, die etwas Umschmeichelndes haben. ... Gstrein beschwört eine Stimmung herauf, wie man sie aus den Filmen David Lynchs kennt. Bilder von geradezu pathetischer Schönheit gehen nahtlos über in surreale Szenarien, über denen etwas Bedrohliches liegt." Christoph Schröder, Deutschlandfunk, 14.02.21
"Was es heißt, eine Prophezeiung zu erfüllen bei dem Versuch, ihr zu entgehen, demonstriert Gstrein nach allen Regeln der Kunst." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 16.02.21
"Das ist das Tolle an diesem Buch: Wie durch das Erzählen eines Lebens ein Leben zur Geltung kommt. ... Ein echter Page-Turner, der einen auf die zentrale Frage bringt: Wie spricht man über sich selbst und das eigene Leben und welche Lügen gehören dazu, um eine wie auch immer geschaffene Wahrheit zu bilden." Jörg Magenau, rbb Kulturradio, 18.02.21
"Ein mitreißender Roman über den verzweifelten Versuch, sich der eigenen Herkunft und einer beschämenden Biografie zu entledigen." Carsten Otte, SWR2 Literatur, 15.02.21
"Norbert Gstrein ist der Meister des Unzuverlässigen. ... Kaum ein deutschsprachiger Autor hat das literaturtheoretische Konzept des 'unreliable narrator' so perfektioniert und immer wieder originell variiert wie Gstrein." Richard Kämmerlings, Die Welt, 13.02.21
"Es ist beeindruckend, wie kalkuliert Norbert Gstrein seine literarischen Mittel wählt. ... Ein fabelhaft komponiertes Buch." Hilmar Klute, Süddeutsche Zeitung, 15.02.21
"Gründlich nachdenken, was ein gründliches Leben ist ... So ist Norbert Gstrein: Selbst bei drei Wörtern (Der zweite Jakob) kann man nicht aufhören, darüber nachzudenken. Wie soll das nach 447 Seiten enden, wenn der Autor in Höchstform ist? Wahrscheinlich kann es nie enden." Peter Pisa, Kurier, 13.02.21
»Sowohl intellektuelle als auch sinnliche Prosa.« Der Tagesspiegel