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Im Sommer 1913 verbringt der junge aristokratische Dichter Cecil Valance ein Wochenende bei der Familie seines Cambridge-Kommilitonen George Sawle. Besonders Georges kleine Schwester Daphne ist sofort von dem gut aussehenden Gentleman eingenommen, und Cecil widmet ihr ein Gedicht. Es wird zum lyrischen Symbol einer ganzen Generation. Nach Cecils Tod im Ersten Weltkrieg ranken sich immer neue Mythen und Geheimnisse um die Person und das Werk des Dichters. Cecils Leser und sogar seine Familie stehen vor einem Rätsel. In den folgenden Jahrzehnten werden nicht nur Daphne und George, sondern vor…mehr

Produktbeschreibung
Im Sommer 1913 verbringt der junge aristokratische Dichter Cecil Valance ein Wochenende bei der Familie seines Cambridge-Kommilitonen George Sawle. Besonders Georges kleine Schwester Daphne ist sofort von dem gut aussehenden Gentleman eingenommen, und Cecil widmet ihr ein Gedicht. Es wird zum lyrischen Symbol einer ganzen Generation. Nach Cecils Tod im Ersten Weltkrieg ranken sich immer neue Mythen und Geheimnisse um die Person und das Werk des Dichters. Cecils Leser und sogar seine Familie stehen vor einem Rätsel.
In den folgenden Jahrzehnten werden nicht nur Daphne und George, sondern vor allem Cecils literarischer Nachlass von Öffentlichkeit, Biografen und Wissenschaft instrumentalisiert entsprechend der jeweiligen literarischen und kulturellen Mode der Zeit. Doch dann macht sich ein junger Literaturfreund daran, Cecils Geheimnis zu lüften, und ein Antiquar macht eine überraschende Entdeckung ...
Ein sinfonischer Roman um eine schillernde und geheimnisvolle Figur brillant erzählt in sinnenfreudigen Bildern und kommentiert mit ironischem Witz.
Autorenporträt
Alan Hollinghurst, geboren 1954 in Stroud, Gloucestershire, zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsautoren Großbritanniens.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Ingo Arend zeigt sich angetan von Alan Hollinghursts fünftem Roman "Des Fremden Kind". Der Autor, "Chronist des schwulen Lebens in Großbritannien", vermittelt hier einmal mehr einen Blick auf die homosexuelle Liebe. Allerdings geht es in vorliegendem Werk nach Ansicht Arends etwas gediegener und subtiler als in vorangegangenen Romanen Hollinghursts zu. Die schwule Erregung scheint ihm weitgehend zu einem Gefühl von "unter der Oberfläche spürbarer Erregung" sublimiert. Das führt seines Erachtens bisweilen zu einem gewissen Spannungsabfall. Andererseits findet er in dem Werk immer wieder psychologisch höchst raffinierte Milieu- und Charakterstudien, die für ihn einmal mehr belegen, dass Hollinghurst zu den besten europäischen Erzählern zu rechnen ist.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2012

Ein Jahrhundert und drei Tage

Alan Hollinghurst entziffert in seinem Roman "Des Fremden Kind" den Aufstieg eines Gedichts und den Niedergang Englands.

Drei Mal waren Gegenwart und Erleben die Leitworte von Alan Hollinghursts Romanen. In "Die Schwimmbadbibliothek" (1988) cruiste William Beckwith in erotischem Dauerrausch durch den Londoner Sommer 1983, den letzten vor Aids. In "Die Verzauberten" (1998) waren die Helden älter und die Schatten länger geworden, es brauchte Ecstasy oder die künstliche Ruhe teurer Landhäuser, um ein fragil gewordenes Gegenwartsglück zu feiern. Im Roman "Die Schönheitslinie", der Hollinghurst 2004 den Man-Booker-Preis eingetragen hat, wurden Aufstieg und Verfall der Thatcher-Jahre so sehr ästhetisch gefeiert und satirisch decouvriert, dass sich über den Glanz der Gegenwart fast schon das Sepia des historischen Romans legte.

Nach sieben langen Jahren ist Hollinghurst nun mit "Des Fremden Kind" zurückgekehrt, einem Roman, in dem die Akzente sich ganz und gar verschoben haben. Das Historische, das in der "Schwimmbadbibliothek" und im ephebophilen Solitär "The Folding Star" (1994) in Gestalt einmontierter Dokumente immer schon präsent war, ist in den Vordergrund getreten. Statt der Gegenwart und dem Erleben dominieren nun die Vergangenheit und das Erinnern. Der Niedergang, mit dem Hollinghurst stets geflirtet hat, wird zur Grundmelodie eines Jahrhundertpanoramas. Statt einen Sommer oder ein kurzes Jahrzehnt, wie die früheren Bücher, umspannt der neue Roman fast ein ganzes Säkulum - er spielt zwischen 1913 und 2008 -, aber genau besehen durchlebt dieses Buch seine Zeit vorwiegend in der Erinnerung an wenige legendenumwobene Tage im Sommer 1913. Damals hat der junge, hinreißend schöne aristokratische Dichter Cecil Valance seinen Cambridger Kommilitonen George Sawles auf Three Acres, dem unweit von London gelegenen vergleichsweise bescheidenen Anwesen der Sawles, besucht. Er bezirzte die Mutter, verführte den Sohn, versuchte es mit der Schwester und hielt bei der Abreise in deren Poesiealbum einen Moment der Liebe in einem "Three Acres" benannten, fünfseitigen Gedicht fest. Nach dem Tod Cecils im Ersten Weltkrieg zitiert Churchill in der "Times" einige Zeilen aus dem Gedicht und macht es dadurch erst zu einer Hymne des englischen Patriotismus und dann zu einem Schulbuchklassiker.

Hollinghurst braucht 130 Seiten, um mit einem an "Brideshead Revisited" gemahnenden Zauber dieses Sommerstück zu erzählen. Die restlichen 550 Seiten dienen der Erinnerung an diese Tage und der Entzifferung des Gedichts. An wen ist es gerichtet? An Daphne? An George? An alle Sawles? Welches England beschwört es? Und was ist mit diesem England geschehen?

Das fragen sich im zweiten Teil an zwei festlichen Tagen im April 1926 die Freunde und die Familie Cecils bei einem Treffen auf Corley Court, dem enormen viktorianischen Kasten der Valances (nicht drei, sondern 3000 Morgen!). Cecil ruht in der Familienkapelle, unter seiner eigenen hochgezüchteten Grabplastik. Daphne Sawles ist als Gattin von Cecils Bruder inzwischen Lady Valance, Three Acres ist verkauft und dem Niedergang geweiht, ein konservativer Politiker, der auch in Cecil verliebt war, sammelt Material für eine kleine Biographie von Cecil und interviewt alle Gäste der Reihe nach.

Dieselben Fragen stellen sich im dritten Teil rund um Daphnes siebzigsten Geburtstag 1967 wiederum Familie, Freunde sowie zwei Neuzugänge: Peter, Lehrer und Cecil-Leser auf dem zum Internat abgesunkenen Corley Court, und Paul, junger Bankbeamter, Cecil-Fan und Geliebter Peters. Im vierten Teil befragt im Jahr 1980 Paul, inzwischen Biograph Cecils, auf länglicher Recherchentour sich, die überlebenden Familienmitglieder und die verfallenden Häuser. Und im Schlussteil wispern die Fragen im Jahr 2008 nochmals durch eine Gedenkveranstaltung zu Peters Tod und erhalten neues Leben durch ein auf den letzten Seiten überraschend auftauchendes Briefkonvolut, das uns noch einen Mann zeigt, dem Cecil seinerzeit auf Three Acres den Kopf verdreht hat.

Hier handelt es sich, wie leicht zu bemerken ist, um einen ziemlich speziellen Romankasten. Speziell ist die Wahl seines nostalgisch umsehnten halbviktorianischen Ausgangspunkts: Der Titel "The Strangers Child" stammt aus Tennysons Gedicht "In Memoriam" - das Lieblingsgedicht der Königin Victoria ist auch dasjenige von Cecil. Georges und Daphnes Vater bekam auf der Hochzeitsreise sogar noch von Tennyson persönlich einige herzhaft-derbe Ratschläge. Cecil ist von Hollinghurst nach dem Modell des Dichters Rupert Brooke gearbeitet, der als schönster Mann Englands galt; Cecils Gedicht "Three Acres" erinnert an Brookes "The Soldier", zu Ruhm gekommen durch Churchills Nachruf in der "Times".

Speziell ist der limitierte Umgang mit diesem zarten Versgebilde. Hollinghurst zitiert es nie zur Gänze. Zwei, drei Zeilen hier, und vier, fünf andere dort lassen erahnen, dass es von Liebesszenen zwischen Cecil und George in einer Hängematte und bei einem Waldspaziergang handelt. Limitiert sind auch die Fragen, die an das Gedicht gerichtet werden; sie konzentrieren sich bald recht obsessiv darauf, ob Cecil schwul war (was der Leser von Anfang an weiß) und ob er der Vater von Daphnes erstem Kind ist (was bis zum Schluss offen bleibt).

Man muss schon ein Stilist von Hollinghursts Graden sein, um auf diesem schmalen Grundsteinchen die Funken eines doch lange Zeit brillanten Romanfeuerwerks zu schlagen. Wie schon in der "Schönheitslinie" exzelliert Hollinghurst in der schwebenden Schilderung ausgedehntester Partyszenen. Die Interieurs glänzen dabei so superb und nuanciert wie die bekanntlich überaus fein codierten britischen Klassenverhältnisse. Die in den sukzessiven Zeiten aufgenommenen Gruppenbilder kriegen durch Scheidungen und Neuverheiratung einen aparten Dreh. Kriegstraumata werden ebenso miterzählt wie der lange Weg der Homosexualität vom Heimlichen und Verbotenen zur eingetragenen Partnerschaft. Und alles behält enorme Frische durch eine Erzählweise, die sich gleichsam mit der Handkamera mitten ins Getümmel stürzt und den Leser, statt ihn von oben herab ins Bild zu setzen, erst nach und nach die Zusammenhänge begreifen lässt. Der alt und dusslig werdende George ist sehr komisch. Und die zum Schluss in einem verfallenden Dienerhaus in viktorianischem Möbelchaos in sich hinein dämmernde und trinkende Daphne ist eine große Frauenfigur; die erste, die Hollinghurst geglückt ist. Ob "goodness" dabei zu "ach, Gottchen" , "a frank, convivial way" zu "gönnerhaft" und "very playful" zu "schelmisch" werden muss, kann man sich fragen.

Aber als Hollinghurst sich mit dem vierten Teil von den großen Gruppenszenen abwendet und uns mit Paul durch die Mühen der biographischen Alltagsarbeit schickt, verliert der Roman, wenn nicht gerade George oder Daphne zum Interview sitzen, seinen Charme. Dass hinter dem Gedicht Cecils eine schwule Liebe steckt, ist von Anfang an bekannt. Dass die Familie das nicht wahrhaben will, auch nicht wirklich romanfüllend. Allerhand literarisches Anspielungsgeklingel auf Strachey, Forster, Holroyd, Waugh hilft der Sache nicht auf. Und so geht es einem am Ende mit "Des Fremden Kind" wie mit diesen wunderbaren Geschenken von Hermès, bei denen die luxuriösen zehn Schichten der Verpackung bisweilen mehr Spaß machen als das zuletzt sich zeigende toutpetitrien.

ANDREAS ISENSCHMID

Alan Hollinghurst: "Des Fremden Kind". Roman.

Aus dem Englischen von Thomas Stegers. Blessing Verlag, München 2012. 687 S., geb., 24,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2012

Wo ein Grab ist, da ist England
Verborgene Leidenschaften, heimliche Geständnisse und der lautlose Untergang der alten Heimat: Aus dem Dreiklang
von Landadel, Poesie und Homosexualität hat Alan Hollinghurst einen herrlich nostalgischen Roman gemacht
VON GUSTAV SEIBT
Der britische Dreiklang von adeliger Lebensform, Dichtkunst und sexueller Ambivalenz, stilprägend seit Shakespeares Zeiten, löste sich im 20. Jahrhundert allmählich auf. Zum letzten Mal blühte er in den Zirkeln der Bloomsbury-Gruppe mit ihren akademischen und literarischen Genies, ihren Diplomaten und selbstbewussten Frauen: Virginia Woolf, Vita Sackville-West, John Maynard Keynes oder Harold Nicolson. Seither wurde die englische Aristokratie plattgemacht durch Geld und Glamour, die Dichtung wie überall auf der Welt avantgardistisch und spezialisiert, das gleichgeschlechtliche Begehren aber trat emanzipatorisch ans Licht – längst gibt es „queer theory“ und „civil partnership“ auch in England – und verlor den Zauber der geduldeten Zweideutigkeit.
  Zwei dieser säkularen Prozesse, den sozialgeschichtlichen und den erotischen, behandelt Alan Hollinghursts neuer, ein Jahr nach seinem Erscheinen auch ins Deutsche übersetzter Roman. Es ist ein schönes, altmodisches, melancholisches Buch, reich an Anspielungen und hintergründigem Humor. Wer die Lebensformen des alten England, vor allem auf seinen Landsitzen, vor Augen hat und Eindrücke bei der konservativen englischen Romankunst seit 1900 gesammelt hat, bei Henry James, Ford Maddox Ford und Evelyn Waugh, wird die Meisterschaft bewundern, mit der Hollinghurst Geist und Stil dieser Epoche wiederauferstehen lässt, bis zu den ländlichen Schauplätzen und einer am Gesellschaftston orientierten Dialogkunst.
  Und da ein paar kunstvoll erfundene, dem alten Klang nachempfundene Verse, die im Jahr 1913 geschrieben worden sein sollen, Erkennungsmelodie und Leitmotiv der durch ein ganzes Jahrhundert beobachteten Figuren – die Handlung reicht von 1913 bis 2008 – darstellen, wird ein wundervoll musikalisches Spiel daraus. Nicht umsonst hat Richard Wagner als Heros der ersten Generation einen bedeutenden Platz in dem Roman, samt einer außerordentlich komischen deutschen Dame, die Jahr für Jahr nach Bayreuth fährt. In Deutschland wäre ein solches Buch trotzdem heute unvorstellbar, weil die vergleichbaren Lebensformen, sofern sie überhaupt vorhanden waren, durch den Nationalsozialismus, der auch hier wirklich einen Kulturbruch markierte, entwertet und abgerissen wurden. So gibt es denn auch in deutscher Sprache keine melodiösen patriotischen Verse aus dem Ersten Weltkrieg, die jeder Gebildete noch zitieren könnte.
  Das klingt nach Komplexität und Voraussetzungsreichtum. Doch Hollinghursts Buch ist zugänglich und leicht, schon weil sein erotisches Thema, das Auftauchen der Homosexualität aus der Camouflage in die Sichtbarkeit der Gesellschaft, ein gemeineuropäischer Vorgang des 20. Jahrhunderts ist. Sein Resultat, und damit eine der Voraussetzungen von Hollinghursts gesamtem Œuvre, stellt sich in Deutschland nicht anders dar. Nur dass in England, das nicht die barbarischen Homosexuellenverfolgungen durch die Nazis kannte, die Bilanz auch dabei heiterer, vielschichtiger ausfällt.
  Ausgangspunkt der Geschichte ist das kurze brillante Leben eines schönen adeligen Poeten, Cecil Valance, der 1916 mit fünfundzwanzig Jahren in Frankreich fällt, nachdem er ein schmales Werk von Versen hinterlassen hat, die kanonisch für seine und die nachfolgenden Generationen wurden – posthum, nobilitiert durch den Heldentod. Das Modell von Rupert Brooke und seinem Sonett „The Soldier“ („If I should die, think only this of me:/ That there’s some corner of a foreign field/ That is for ever England . . . “) ist unverkennbar. Cecils Verse werden im Roman wie die Brookes in der Wirklichkeit berühmt gemacht auch dadurch, dass Winston Churchill sie zitiert.
  Aber Cecils Gedicht handelt von einer ländlichen Idylle, den „Zwei Morgen“ eines kleinen Landsitzes, auf dem er unmittelbar vor dem Krieg einen geliebten Studienfreund namens Georges Sawles besucht und sogleich auch dessen Schwester Daphne mit seiner apollogleichen Schönheit den Kopf verdreht hat. „Two Acres“, das Inbild pastoraler Englishness, hat einen privaten erotischen Hintergrund, es wurde erst durch nachträglich eingefügte Zeilen und den Kriegstod des Dichters zu einem patriotischen Klassiker und Ohrwurm, der in aller Munde weiterlebt, ganz wie ein „Lyrik-Hammer“ es laut Robert Gernhardt leistet.
  Das Schicksal von Cecil Valances Nachleben bei seiner Familie, seinen Freunden, seinen Geliebten, aber auch in der Literaturgeschichte und in Biografien stellt den Inhalt von Hollinghursts Romanerfindung dar. Ein herrlich dionysischer Mensch, offenbar bisexuell, der alle bezaubert und begehrt und alle in Verwirrung stürzt, hat ein hundertjähriges Nachleben als Person und als Dichter. Beides ist wichtig, die menschliche und die literarische Seite, denn erst die letztere erlaubt es, das Motiv der klandestinen, zunächst also bei den Individuen eingekapselten Homosexualität in einen ganz klassischen Familienroman einzubinden. „Familie“, das hat hier den englischen Doppelsinn, der auch die Gemeinschaft der Schwulen als „family“ bezeichnet, wo man sich einst an geheimen Zeichen, beispielsweise auch der Vorliebe für bestimmte Poeten, erkannte. Wer „Cecil“ verehrt und diesen ironisch „Sizzle“ ausspricht, mag ja selbst eine „Schwester“ sein.
  Das ist als Roman des 20. Jahrhunderts rührend und komisch. Hollinghurst erzählt die Nachwirkungen eines erotischen Schocks bei Menschen, die sich nie mehr von ihm erholen – Georges Sawles wird ein berühmter Gelehrter, der in einer Josephsehe lebt, Daphne heiratet Cecils grämlichen Bruder und zwei weitere Männer, darunter wieder einen schwulen Künstler, Dudley Valance, der überlebende Bruder, Daphnes erster Mann, wird ein höhnischer Romancier nach Evelyn-Waugh-Manier. Der Landsitz der Valances aber, ein viktorianisch überschmücktes Paradies mit dreitausend Morgen Land – so viel mehr als die zwei „acres“, denen sein Poem galt – muss zuerst schlimme Modernisierungen im neusachlichen Stil der Zwanziger Jahre und dann die Umwidmung in ein Internat über sich ergehen lassen.
  Doch durch seine Funktion als Erziehungsanstalt wächst dem Gebäude selbst die Funktion einer handelnden Person zu, die ihren späteren Benutzern, darunter einem schwulen Lehrer, die Botschaft von Cecils kurzer Erdenbahn weitergibt: Er ruht, in Carrara-Marmor gehauen, in der neogotischen Schlosskapelle. Und daneben machen sich die Biografen und Memoirenschreiber ans Werk, sie recherchieren und fahnden nach Geheimnissen – gibt es verborgene Geständnisse, unausgesprochene Leidenschaften, versteckte Botschaften? – und kosten so zum letzten Mal den Reiz von Sagen und Nichtsagen aus, mit dem das Tabu der Homosexualität die europäische Literatur um 1900 so bereicherte. Es wird gelogen und vertuscht, was das Zeug hält, und in all dem Geschnatter von Gedenktagen, Geburtstagsfeiern und Biografen-Tratsch verliert sich Cecil Valances Spur immer mehr ins Undeutlich-Mythische.
  Verwandlung und Verschwinden, das schiere Vergehen der Zeit werden zum eigentlichen Inhalt des Romans, stellvertretend für den lautlosen Untergang des alten Engländertums. An der Geschichte der beiden handlungstragenden Schauplätze, der Landsitze der Valances und Sawles, erzählt Hollinghurst aber auch die Verhässlichung der Welt im 20. Jahrhundert. Am Ende stehen Sozialbauten in Beton, werden vernutzte Altersheime abgerissen, und nebenbei verbrennen dabei die unpublizierten Manuskripte mit dem blutvollen Klartext der Leidenschaften. Auch diese Seite des Romans, seine kulturphysiognomische, ist für jeden nichtenglischen Leser vollkommen zugänglich, selbst wenn er die Diskussionen um den viktorianischen Historismus nicht kennt. Aber buchenswert ist es schon, dass in einem Roman von 2011 die Türmchen und verzierten Kamine eines gotisierenden Landhauses zu Bollwerken ästhetischer Empfindsamkeit werden.
  Durchwirkt ist diese literarische Parallelaktion und Phantasmagorie mit ihrem immer zirpenden Anspielungsgeklingel von der bei Hollinghurst gewohnten freimütigen, saftigen Erotik. Über seine von Nicholson Baker gerühmte Kunstfertigkeit beim Beschreiben männlicher Gemächte werden in der offiziellen englischsprachigen Literaturkritik ja bereits Parodien verfasst. Selbst die schwule Befreiungsgeschichte des Romans zeigt eine Gewinn- und Verlustbilanz: Nie mehr wird Sex unter Männern so aufregend sein, wenn er sich nicht mehr über ein Verbot hinwegsetzen muss! Immerhin, die Mutproben, die einstmals dazu gehörten, haben in Hollinghurst ihren Homer gefunden.
  Der englische Titel „The Stranger’s Child“ spielt auf den Klagegesang an, den der viktorianische Poeta laureatus Alfred Tennyson einem frühverstorbenen Freund widmete: Wenn die Spuren des Geliebten in der Landschaft verschwinden, kann diese doch anderen, auch dem Kind eines Fremden, vertraut werden, zu neuer Heimat. Das letzte Kapitel beschreibt die Gedächtnisfeier für einen heutigen schwulen Mann, mit Lebenspartner, Lovern, Freunden und Verwandten, im nüchternen Licht der Normalität, mit all ihren auch komischen Seiten. Aber darunter webt die verklungene Melodie eines bärtigen Lords aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, der um einen jungen Mann trauert. Und so erzählt dieser Roman im Medium von Lyrik, Architektur und Essayistik, in der ganz gewohnten Form der Familiensaga und mit dem großen Orchester überkommener Stilkunst auch die Geschichte unserer Zivilisation. Schade, dass die zuverlässige Übersetzung von Thomas Stegers nicht ganz den Schmelz des originalen Prosaklangs erreicht.
Nie mehr wird
Sex unter Männern
so aufregend sein
    
    
  
      
Alan Hollinghurst: Des Fremden Kind. Roman.
Aus dem Englischen von Thomas Stegers. Blessing Verlag, München 2012.
688 Seiten, 24,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Es ist ein schönes, altmodisches, melancholisches Buch, reich an Anspielungen und hintergründigem Humor." Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung