Barbara Stollberg-Rilinger erhält den Preis des Historischen Kollegs 2013
Eine der besten Kennerinnen der Geschichte des Alten Reiches erhellt das faszinierende Wechselspiel von schriftlich fixierter Verfassung und im Ritual gelebter Verfassungswirklichkeit. Zum ersten Mal wird Verfassungsgeschichte konsequent von den symbolisch-rituellen Formen und ihrem Wandel her verständlich.
Wie wurden Vasallen des Reiches belehnt? Wie verständigte man sich auf den Reichstagen? Wie verkehrten die Gesandten an den Höfen der Fürsten? Was über diese Fragen in der Verfassung bestimmt war, war die eine Sache, doch ob und in wieweit diese Regeln mit Leben erfüllt wurden, war eine andere - war abhängig von sehr komplexem symbolisch-rituellen Handeln. Barbara Stollberg-Rilinger zeigt in ihrem spannenden Buch, wie eine politische Formensprache, die alle Beteiligten beherrschten - gleichsam eine Art symbolischer Grundwortschatz - unverzichtbar war, um sich über die gemeinsame Ordnung zu verständigen.
Eine der besten Kennerinnen der Geschichte des Alten Reiches erhellt das faszinierende Wechselspiel von schriftlich fixierter Verfassung und im Ritual gelebter Verfassungswirklichkeit. Zum ersten Mal wird Verfassungsgeschichte konsequent von den symbolisch-rituellen Formen und ihrem Wandel her verständlich.
Wie wurden Vasallen des Reiches belehnt? Wie verständigte man sich auf den Reichstagen? Wie verkehrten die Gesandten an den Höfen der Fürsten? Was über diese Fragen in der Verfassung bestimmt war, war die eine Sache, doch ob und in wieweit diese Regeln mit Leben erfüllt wurden, war eine andere - war abhängig von sehr komplexem symbolisch-rituellen Handeln. Barbara Stollberg-Rilinger zeigt in ihrem spannenden Buch, wie eine politische Formensprache, die alle Beteiligten beherrschten - gleichsam eine Art symbolischer Grundwortschatz - unverzichtbar war, um sich über die gemeinsame Ordnung zu verständigen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2008Dabei sein ist alles
Der Code des Gemeinwesens: Barbara Stollberg-Rilinger schreibt eine Geschichte der politischen Formenlehre
Das Buch der Münsteraner Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger hat einen erstaunlich lockeren Titel, der es aber nicht hindern wird, schnell zu einem Standardwerk der modernen Verfassungsgeschichte zu werden. Er lässt den Leser hintersinnig das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern assoziieren: In Andersens Spottstunde steht der Kaiser am Ende ohne Ansehen dar, weil er auf Betrüger hereingefallen ist; sie versprachen dem Herrscher Einsicht durch die Probe der Sinnlichkeit. Erst die Stimme eines unschuldigen Kindes spricht die nackte Wahrheit aus.
Andersens Märchen verweist auf einen Verblendungszusammenhang, in dem die Einsicht vom Ansehen entkoppelt ist. Es wird der Vormoderne zugeschrieben und ist antihöfisch und antimonarchisch gedacht. Man kann es somit als antizeremonielles Stück lesen, und es wäre eine typische Sicht des neunzehnten Jahrhunderts auf jene Sinnlichkeit, die die Vormoderne zuhauf produzierte. Standen dort Strategien der Sichtbarkeit hoch im Kurs, so schüttete die bürgerliche moderne Kritik Unverständnis und Spott darüber aus. Von Symbolen, Ritualen und Zeremonien hielt sie nicht viel, und die ältere Verfassungsgeschichte duplizierte dieses Unverständnis.
Die Kleider des Kaisers
Das hat die moderne, interdisziplinär arbeitende Forschung sattsam überwunden, und Stollberg-Rilinger gehört in die erste Reihe jener, die die Festung sturmreif geschossen haben. Auf diesen Trümmern errichtet sie nun ein neues Gebäude, das die bleibenden Verdienste der älteren, juristisch-normativ geprägten Verfassungsgeschichte zusammenführt mit Einsichten der Kultursoziologie. Das hat sie jahrelang mit bedeutenden Aufsätzen vorbereitet, die aus dem Münsteraner Sonderforschungsbereich "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme" hervorgegangen sind. Ihre reife Frucht ist dieses eindrucksvolle Buch, dessen Klarheit, Präzision und Originalität keinen Zweifel daran lassen, dass dieser große Wurf das Fach endgültig ins 21. Jahrhundert katapultiert.
Stollberg-Rilingers programmatischer Titel meint freilich etwa anderes als eine Geißelung zeremonieller Verblendungszusammenhänge im Sinne Andersens. Der gemeinsame Nenner endet bei den reichen Fiktionen, deren die Politik der Vormoderne zweifellos bedurfte und auf die sie sich sinnlich stützte. Traditionen wie die angeblich alten Kleider des Kaisers wurden allenthalben mobilisiert und inszeniert. Ihre Verfassungsgeschichte wiederholt jedoch den Andersenschen Vorwurf der Lüge oder Täuschung an die Akteure; wo Stollberg-Rilinger die gemeinsam geglaubten Fiktionen in ihrer Wirkungsweise soziologisch und verfassungsrechtlich analysiert, geht es ihr um öffentliches Auftreten und seine performative Wirkung.
Diese Idee wird in vorbildlich transparenter Weise in Einleitung und Epilog des Buches entfaltet. Sie besagt, dass die Verfassung des Alten Reiches in der Teilnahme an seinen öffentlichen, symbolisch-rituellen Akten, den Solennitäten, gründete. Dabei sein war alles, denn wer dabei war, signalisierte Zustimmung, er bekräftigte, dass er sich auch künftig an die normative Ordnung halten würde: "Anwesenheit bedeutete Akzeptanz" - alle Gefahren inbegriffen.
Umgekehrt musste daher, wer nicht oder nur bedingt zustimmen wollte, seinen Protest durch glattes Fernbleiben oder abgemilderte kommunikative Strategien demonstrativ zum Ausdruck bringen. Das verlieh Zeremoniell, Symbolen, Ritualen, Gesten und Verfahren eine konstitutive Bedeutung und verkomplizierte sie zugleich ungeheuer. Hier tradierte sich ein gutes Stück Mittelalter: Es herrschte eine politische Kultur der Präsenz, die der Schriftlichkeit nur einen verminderten Rang zuwies. "Verfassung" war nicht das, was abstrakt in einem gedruckten, veröffentlichten Text stand und von einem Gesetzgeber erlassen wurde (so aber unser Verständnis seit 1789), sondern ein Geflecht aus personalen Beziehungen, das immer wieder aufs Neue bekräftigt werden musste.
Dieser kollektive Glaube hielt die Formen ebenso für unverfügbar, wie er sie gleichzeitig kritisierte und zu modifizieren suchte. Diese durchaus paradox zu nennende Symbolfixierung hielt das System gewissermaßen am Leben. Die politischen Akteure - Kaiser, Stände, Gesandte - beschäftigten sich unablässig mit äußerlichen Details, weil diese der eigentliche Code des Gemeinwesens waren, und sie brachten einen spezifischen Rechtsbegriff hervor. Seine Normativität müsste freilich noch genauer untersucht werden. Was ihnen aus heutiger Sicht scheinbar an Exaktheit in den staatstheoretischen Begriffen fehlte, das fanden sie in den konkreten Formen. Weil wir zu lange das eine nicht verstanden haben, so Stollberg-Rilinger, kritisierten wir das Fehlen des anderen umso schärfer. Beides missachtete das genuin Vormoderne dieses Systems.
Logik der Zugehörigkeit
Stollberg-Rilinger dekliniert im Hauptteil diese politische Formenlehre anhand der verfassungsgeschichtlich maßgeblichen Stationen des Alten Reiches durch: 1495, 1530, 1653/54, 1764/65. Die Zäsuren sind tradiert, neu sind die soziologischen Deutungsmuster, die auf Logiken der Zugehörigkeit und die Macht der Zeichen abstellen statt primär auf normative Texte. Eines der symptomatischen Kennzeichen war die jahrhundertelange parallele Existenz von faktischer Praxis mit einer Vielzahl konkurrierender Ansprüche. Ein Schlussstein fehlt in diesem komplizierten Bau. Als 1806 das Ende kam, wurde es anders als bei den anderen Wegmarken nicht versinnbildlicht; symbolisch-rituelle Repräsentationen des Endes aller vormodernen Repräsentationskultur fehlen.
Trotz aller Verschiebungen, die im Verlauf dieser 300 Jahre stattfanden, gibt es doch konstitutive Gemeinsamkeiten der politisch-juristischen Kultur. Wenn man eine grobe Schätzung abgeben müsste, dürfte man vermuten, dass diese Gemeinsamkeiten die Unterschiede deutlich überwiegen. Dennoch betont Stollberg-Rilinger unablässig die vielfachen Umbrüche, denen ihr Altes Reich unterliegt: Reichsreform, Glaubensspaltung, Europäisierung der Friedensordnung des Reiches sowie Antitraditionalisten und Antiritualisten auf den Thronen trieben Wandel und Zerfall der symbolischen Praxis voran.
Diese Akzente sind wichtig und richtig, denn ohne die sich zunächst leise andeutenden Verschiebungen verstünde man am Ende das unverhohlene Befremden der letzten Reichspublizisten nicht. Johann Jakob Moser kritisiert die "schwere Menge weitläufftiger, mir selbst eckelhaffter und auswärtigen Nationen billig unbegreifflich scheinender Ceremoniel-Streit- und Kleinigkeiten". Der mehrfach und immer sehr passend zitierte junge Hegel notiert 1802 "Aberglauben an die ganz äußeren Formen" - distanzierte Abgesänge der Zeitgenossen auf eine Kultur, die sich überlebt hatte. Sie werden später nahtlos übergehen in die wissenschaftliche Missachtung jener symbolischen Formen, die diesen durch die Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts zuteil wird.
Zugleich wirft aber diese Erzählung die Frage nach der Grenze der Spezifika auf, und sie ist eine doppelte. Erstens fragt man sich nach alledem, inwieweit die Dichotomie von Vormoderne und Moderne getrieben werden darf. Wie sehr hat unser Politikstil der Moderne mit jener personalisierenden Kultur gebrochen? Ihm schreibt die Autorin in weberianischem Klassizismus "Sachlichkeit, Nüchternheit, Schriftlichkeit und Professionalität" zu. Indes könnten moderne Politiker wie Projektmanager vormodernen Zeremonialbüchern beipflichten, welcher gesteigerte Verpflichtungsgrad durch Anwesenheit erreicht wird - und was im Konfliktfall das Gegenteil bedeutet. Anders gesagt: Wir sind vielleicht niemals so modern gewesen, wie wir mal geglaubt haben.
Von der Vormoderne zum Alten Reich weitergedacht, stellt sich zweitens die Frage nach der Vergleichbarkeit dieser Strukturen im internationalen Kontext. Die deutschen Verhältnisse begünstigten solchen eigenwilligen Umgang mit politischen Konflikten: Viele Herrschaftsträger, schwache Zentralgewalt, Neigung zur Visualisierung bei intensiver Gelehrsamkeit der Berater führten zu rangrechtlichen Obsessionen, über die die europäischen Nachbarn spotteten. Doch wurde auch an Universitäten anderer Länder über das Recht, mit sechs Pferden zu fahren, disputiert oder über rot- versus schwarzsamtene Sessel, und wenn ja, mit welchen Abweichungen? Schließlich: Was könnte der momentane Wandel der Staatlichkeit mit der Wahrnehmungsverschiebung in der Verfassungsgeschichte zu tun haben? Stollberg-Rilinger bietet der Verfassungsgeschichte nicht nur Perspektiven, sondern hat die Arena für weitere Kontroversen geöffnet.
MILOS VEC
Barbara Stollberg-Rilinger: "Des Kaisers alte Kleider". Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. Verlag C. H. Beck, München 2008. 439 S., 17 Abb., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Code des Gemeinwesens: Barbara Stollberg-Rilinger schreibt eine Geschichte der politischen Formenlehre
Das Buch der Münsteraner Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger hat einen erstaunlich lockeren Titel, der es aber nicht hindern wird, schnell zu einem Standardwerk der modernen Verfassungsgeschichte zu werden. Er lässt den Leser hintersinnig das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern assoziieren: In Andersens Spottstunde steht der Kaiser am Ende ohne Ansehen dar, weil er auf Betrüger hereingefallen ist; sie versprachen dem Herrscher Einsicht durch die Probe der Sinnlichkeit. Erst die Stimme eines unschuldigen Kindes spricht die nackte Wahrheit aus.
Andersens Märchen verweist auf einen Verblendungszusammenhang, in dem die Einsicht vom Ansehen entkoppelt ist. Es wird der Vormoderne zugeschrieben und ist antihöfisch und antimonarchisch gedacht. Man kann es somit als antizeremonielles Stück lesen, und es wäre eine typische Sicht des neunzehnten Jahrhunderts auf jene Sinnlichkeit, die die Vormoderne zuhauf produzierte. Standen dort Strategien der Sichtbarkeit hoch im Kurs, so schüttete die bürgerliche moderne Kritik Unverständnis und Spott darüber aus. Von Symbolen, Ritualen und Zeremonien hielt sie nicht viel, und die ältere Verfassungsgeschichte duplizierte dieses Unverständnis.
Die Kleider des Kaisers
Das hat die moderne, interdisziplinär arbeitende Forschung sattsam überwunden, und Stollberg-Rilinger gehört in die erste Reihe jener, die die Festung sturmreif geschossen haben. Auf diesen Trümmern errichtet sie nun ein neues Gebäude, das die bleibenden Verdienste der älteren, juristisch-normativ geprägten Verfassungsgeschichte zusammenführt mit Einsichten der Kultursoziologie. Das hat sie jahrelang mit bedeutenden Aufsätzen vorbereitet, die aus dem Münsteraner Sonderforschungsbereich "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme" hervorgegangen sind. Ihre reife Frucht ist dieses eindrucksvolle Buch, dessen Klarheit, Präzision und Originalität keinen Zweifel daran lassen, dass dieser große Wurf das Fach endgültig ins 21. Jahrhundert katapultiert.
Stollberg-Rilingers programmatischer Titel meint freilich etwa anderes als eine Geißelung zeremonieller Verblendungszusammenhänge im Sinne Andersens. Der gemeinsame Nenner endet bei den reichen Fiktionen, deren die Politik der Vormoderne zweifellos bedurfte und auf die sie sich sinnlich stützte. Traditionen wie die angeblich alten Kleider des Kaisers wurden allenthalben mobilisiert und inszeniert. Ihre Verfassungsgeschichte wiederholt jedoch den Andersenschen Vorwurf der Lüge oder Täuschung an die Akteure; wo Stollberg-Rilinger die gemeinsam geglaubten Fiktionen in ihrer Wirkungsweise soziologisch und verfassungsrechtlich analysiert, geht es ihr um öffentliches Auftreten und seine performative Wirkung.
Diese Idee wird in vorbildlich transparenter Weise in Einleitung und Epilog des Buches entfaltet. Sie besagt, dass die Verfassung des Alten Reiches in der Teilnahme an seinen öffentlichen, symbolisch-rituellen Akten, den Solennitäten, gründete. Dabei sein war alles, denn wer dabei war, signalisierte Zustimmung, er bekräftigte, dass er sich auch künftig an die normative Ordnung halten würde: "Anwesenheit bedeutete Akzeptanz" - alle Gefahren inbegriffen.
Umgekehrt musste daher, wer nicht oder nur bedingt zustimmen wollte, seinen Protest durch glattes Fernbleiben oder abgemilderte kommunikative Strategien demonstrativ zum Ausdruck bringen. Das verlieh Zeremoniell, Symbolen, Ritualen, Gesten und Verfahren eine konstitutive Bedeutung und verkomplizierte sie zugleich ungeheuer. Hier tradierte sich ein gutes Stück Mittelalter: Es herrschte eine politische Kultur der Präsenz, die der Schriftlichkeit nur einen verminderten Rang zuwies. "Verfassung" war nicht das, was abstrakt in einem gedruckten, veröffentlichten Text stand und von einem Gesetzgeber erlassen wurde (so aber unser Verständnis seit 1789), sondern ein Geflecht aus personalen Beziehungen, das immer wieder aufs Neue bekräftigt werden musste.
Dieser kollektive Glaube hielt die Formen ebenso für unverfügbar, wie er sie gleichzeitig kritisierte und zu modifizieren suchte. Diese durchaus paradox zu nennende Symbolfixierung hielt das System gewissermaßen am Leben. Die politischen Akteure - Kaiser, Stände, Gesandte - beschäftigten sich unablässig mit äußerlichen Details, weil diese der eigentliche Code des Gemeinwesens waren, und sie brachten einen spezifischen Rechtsbegriff hervor. Seine Normativität müsste freilich noch genauer untersucht werden. Was ihnen aus heutiger Sicht scheinbar an Exaktheit in den staatstheoretischen Begriffen fehlte, das fanden sie in den konkreten Formen. Weil wir zu lange das eine nicht verstanden haben, so Stollberg-Rilinger, kritisierten wir das Fehlen des anderen umso schärfer. Beides missachtete das genuin Vormoderne dieses Systems.
Logik der Zugehörigkeit
Stollberg-Rilinger dekliniert im Hauptteil diese politische Formenlehre anhand der verfassungsgeschichtlich maßgeblichen Stationen des Alten Reiches durch: 1495, 1530, 1653/54, 1764/65. Die Zäsuren sind tradiert, neu sind die soziologischen Deutungsmuster, die auf Logiken der Zugehörigkeit und die Macht der Zeichen abstellen statt primär auf normative Texte. Eines der symptomatischen Kennzeichen war die jahrhundertelange parallele Existenz von faktischer Praxis mit einer Vielzahl konkurrierender Ansprüche. Ein Schlussstein fehlt in diesem komplizierten Bau. Als 1806 das Ende kam, wurde es anders als bei den anderen Wegmarken nicht versinnbildlicht; symbolisch-rituelle Repräsentationen des Endes aller vormodernen Repräsentationskultur fehlen.
Trotz aller Verschiebungen, die im Verlauf dieser 300 Jahre stattfanden, gibt es doch konstitutive Gemeinsamkeiten der politisch-juristischen Kultur. Wenn man eine grobe Schätzung abgeben müsste, dürfte man vermuten, dass diese Gemeinsamkeiten die Unterschiede deutlich überwiegen. Dennoch betont Stollberg-Rilinger unablässig die vielfachen Umbrüche, denen ihr Altes Reich unterliegt: Reichsreform, Glaubensspaltung, Europäisierung der Friedensordnung des Reiches sowie Antitraditionalisten und Antiritualisten auf den Thronen trieben Wandel und Zerfall der symbolischen Praxis voran.
Diese Akzente sind wichtig und richtig, denn ohne die sich zunächst leise andeutenden Verschiebungen verstünde man am Ende das unverhohlene Befremden der letzten Reichspublizisten nicht. Johann Jakob Moser kritisiert die "schwere Menge weitläufftiger, mir selbst eckelhaffter und auswärtigen Nationen billig unbegreifflich scheinender Ceremoniel-Streit- und Kleinigkeiten". Der mehrfach und immer sehr passend zitierte junge Hegel notiert 1802 "Aberglauben an die ganz äußeren Formen" - distanzierte Abgesänge der Zeitgenossen auf eine Kultur, die sich überlebt hatte. Sie werden später nahtlos übergehen in die wissenschaftliche Missachtung jener symbolischen Formen, die diesen durch die Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts zuteil wird.
Zugleich wirft aber diese Erzählung die Frage nach der Grenze der Spezifika auf, und sie ist eine doppelte. Erstens fragt man sich nach alledem, inwieweit die Dichotomie von Vormoderne und Moderne getrieben werden darf. Wie sehr hat unser Politikstil der Moderne mit jener personalisierenden Kultur gebrochen? Ihm schreibt die Autorin in weberianischem Klassizismus "Sachlichkeit, Nüchternheit, Schriftlichkeit und Professionalität" zu. Indes könnten moderne Politiker wie Projektmanager vormodernen Zeremonialbüchern beipflichten, welcher gesteigerte Verpflichtungsgrad durch Anwesenheit erreicht wird - und was im Konfliktfall das Gegenteil bedeutet. Anders gesagt: Wir sind vielleicht niemals so modern gewesen, wie wir mal geglaubt haben.
Von der Vormoderne zum Alten Reich weitergedacht, stellt sich zweitens die Frage nach der Vergleichbarkeit dieser Strukturen im internationalen Kontext. Die deutschen Verhältnisse begünstigten solchen eigenwilligen Umgang mit politischen Konflikten: Viele Herrschaftsträger, schwache Zentralgewalt, Neigung zur Visualisierung bei intensiver Gelehrsamkeit der Berater führten zu rangrechtlichen Obsessionen, über die die europäischen Nachbarn spotteten. Doch wurde auch an Universitäten anderer Länder über das Recht, mit sechs Pferden zu fahren, disputiert oder über rot- versus schwarzsamtene Sessel, und wenn ja, mit welchen Abweichungen? Schließlich: Was könnte der momentane Wandel der Staatlichkeit mit der Wahrnehmungsverschiebung in der Verfassungsgeschichte zu tun haben? Stollberg-Rilinger bietet der Verfassungsgeschichte nicht nur Perspektiven, sondern hat die Arena für weitere Kontroversen geöffnet.
MILOS VEC
Barbara Stollberg-Rilinger: "Des Kaisers alte Kleider". Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. Verlag C. H. Beck, München 2008. 439 S., 17 Abb., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.04.2009Wie man eine unübersichtliche Ordnung sichtbar macht
Barbara Stollberg-Rilinger vergegenwärtigt die Symbolsprache des Alten Reiches
„Das Volk bedarf anschaulicher und nicht begrifflicher Wahrheiten”, bemerkte unter dem Eindruck der Französischen Revolution Graf Antoine de Rivarol. Er resümierte mit diesem Satz noch einmal die Überzeugungen des ancien régime, die im Laufe des 18. Jahrhunderts von den Verfechtern einer vernünftigen Aufklärung um ihre ganz eigene Vernunft gebracht worden waren. Die alten Formen höfisch-kirchlicher Repräsentation wurden nicht nur von den revolutionären Jakobinern als Mummenschanz, weltlich-eitle Üppigkeit oder asiatische Prunksucht verlästert. Juristen und Historiker, bald biedere Bürger und Demokraten, beachteten seitdem die einst so wichtige Ceremonialwissenschaft nicht weiter und verstanden nicht mehr, warum ehedem mit gutem Grund die Caeremonialia pro essentialibus für etwas Wesentliches gehalten wurden.
Dem Wort verpflichtet, übersahen die modernen „Schriftgelehrten”, dass Zeichen und Substanz, Form und Sache in der alten Welt voneinander nicht zu trennen waren. Als Rationalisten fürchteten sie in den Bildern die Übermacht des Irrationalen. Also Götzenbilder, die ablenken vom Kult des höchsten Wesens, der selig mit sich selbst beschäftigten Vernunft, die körperlos im Reiche der reinen Begrifflichkeiten schwingt und schwebt. „Und so wird denn allmählich das einzeln konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein friste, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet”. Diese Warnung Schillers wird nicht mehr leichtsinnig überhört, seitdem die Bildersprache und deren Ausdrucksmacht überhaupt neu entdeckt werden.
Das Reich als Körper
Barbara Stollberg-Rilinger vergegenwärtigt die Symbolsprache des Alten Reiches und mit ihr eine anschauliche Vernunft und deren dem Leben zugewandte Leistungskraft in ihrem Buch über „Des Kaisers alte Kleider”. Wer im Heiligen Römischen Reich unverhohlen bekundete, neuer Dinge begierig zu sein, machte sich, wie etwa Catilina im alten Rom, verdächtig, die hergebrachte und anerkannte Ordnung umstürzen zu wollen. „Catilinarische Existenzen” gefährdeten das System, wie es immer wieder hieß. Aber mitten ins Römische Reich brach eine neue Kunde, eine frohe Botschaft, dass Christus der Retter und Befreier in die Welt als Geschichte eingetreten war, bereit mit dem alten Adam einen neuen Bund zu schließen.
Omnia nova placet – alles Neue gefällt, so lautete seitdem die frohe und rettende Botschaft. Alles Neue, Überraschende, Veränderliche war mit dem Rex und Imperator Christus verbunden. Das Ungewohnte und Außergewöhnliche, das wie ein Wunder dennoch in die Wirklichkeit einbricht und sie verändert, konnte sich deshalb nur aus dem ungestörten Zusammenhang mit dem Ewigen, dem immer Gewohnten rechtfertigen. Die Rituale, die symbolischen Handlungen, die Kaiserwahl und Kaiserkrönungen,die Hof- und Reichstage der Fürsten um den Kaiser, mit denen sich Barbara Stollberg-Rilinger beschäftigt, bleiben sich fast gleich im Lauf der Jahrhunderte. Doch als „Lebensformen” erlaubten sie eine ungemeine Beweglichkeit.
Es gab keine Gewissheit darüber, ob der Kaiser das Reich repräsentiere oder der Reichstag oder der Kaiser gemeinsam mit den Kurfürsten und den Fürsten. Es war gar nicht so sicher, wer überhaupt zum Reich gehörte oder, obschon ein Reichsstand, davon befreit war, zu Reichsdiensten verpflichtet werden zu können. Ausgerechnet das Allerhöchste Kaiserhaus mit seinen Reichslehen hatte ein allerdings habsburgischer Kaiser – Friedrich III. – aus allen Verpflichtungen dem Reich gegenüber gelöst. Der König von Böhmen gehörte zu den sieben Kurfürsten, die den deutschen König, den Römischen genannt, wählten. Er gehörte zum Römischen Reich, aber nicht zum regnum teutonicum innerhalb des Imperium Romanum.
Manche Fürsten, wie der Herzog von Lothringen, der Herzog von Savoyen oder der Herzog von Mailand wurden immer als Reichsfürsten aufgeführt, ob sie zu Reichstagen kamen oder nicht. Andere wie der König von Spanien waren als Herzöge von Burgund oder Mailand ein Reichsstand. Ihre Gesandten auf den Reichstagen traten aber selbstverständlich als Repräsentanten einer Großmacht auf und nicht als kaiserliche Vasallen. Karl V., der Römische Kaiser und König von Spanien, nahm in sein Gefolge, wenn er ins engere deutsche Reich kam, Italiener und Burgunder, auch Spanier auf, soweit in „Reichsitalien” tätig. Diese Aristokraten waren genaugenommen keine Ausländer, keine Fremden. Aber Karl V. umgab sich auch im Reich bewusst mit ihnen, um den Deutschen zu zeigen, dass er tatsächlich Römischer Kaiser in Europa war, ja mehr noch ein Weltmonarch, der zu Wasser und zu Lande, in der Alten wie in der Neuen Welt herrscht und Ozeane wie Kontinente miteinander verknüpft.
Das Römische Reich war eine Wahlmonarchie. Es gab in ihm keine Erbfolge und dennoch kamen seit dem 14. Jahrhundert stets aus dem Hause Österreich die Kaiser, die schon zu Lebzeiten ihre Nachfolge regelten, obgleich das der Goldenen Bulle, dem Reichsgrundgesetz widersprach. Eine solch unübersichtliche Ordnung musste „sichtbar” gemacht werden, um zur Tatsache zu werden. Davon handelt dies Buch. Trotz aller religiösen und anderweitigen politischen Widersprüche gelang es immer wieder, das Reich als einen „Körper”, als eine Wirklichkeit in der Wirklichkeit erfahrbar zu machen, zu der es in wunderbarem oder wunderlichem Widerspruch stand.
Glanz und Herrlichkeit
Das verwirrte Deutsche, Italiener, Wallonen oder Slowenen überhaupt nicht, eingeübt, in die complexio oppositorum, die Harmonie des Sowohl-als-auch, die Nikolaus von Cues ihnen gleichsam als Reichsphilosophie beigebracht hatte. Als allergehorsamste Vasallen des Kaisers protestierten die evangelischen Stände seit 1529. Sie protestierten als Gutkaiserliche ununterbrochen. Paradoxerweise war ihr Anführer auch nach August des Starken Übertritt zur Römischen Kirche weiterhin der sächsische Kurfürst. Die sächsischen Lutheraner, nicht die bayerischen Katholiken, waren die zuverlässigsten Freunde der Kaiser. Die Kaiser nach dem sogenannten Dreißigjährigen Krieg, Leopold I., von manchen auch der Große genannt, Joseph I. und Karl VI. gewannen noch einmal ein großes Ansehen und verliehen mit ihrer Kaiserherrlichkeit dem Reich Glanz und eine Herrlichkeit, die bis heute die Kaisersäle in oberdeutschen Reichsstiften und an der Donau eindringlich vors Auge stellen.
Deutsche Freiheit, das ehrwürdige Kaisertum und das Heilige Reich konnten vielleicht die Vernunft herausfordern. Als Bilder und Symbole wirkten sie auf die Einbildungskraft und das Gemüt und hielten dies seltsame Reich, das der Vernunft aller Vernünftigen spottete, beisammen. Barbara Stollberg-Rilinger führt nicht nur hinein in die Überzeugungsmacht der Bilder. Sie bestätigt mit ihrer anschaulichen, dem konkreten Moment zugewandten Vergegenwärtigung des Fernen und Vergangenen, dass auch die Poesie den Dingen Dauer verschafft. EBERHARD STRAUB
BARBARA STOLLBERG-RILINGERl: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. Verlag C.H. Beck München 2008. 439 Seiten, 38 Euro.
Der Kaisersaal in der Benediktinerabtei Ottobeuren Foto: bpk / Georg Christ
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Barbara Stollberg-Rilinger vergegenwärtigt die Symbolsprache des Alten Reiches
„Das Volk bedarf anschaulicher und nicht begrifflicher Wahrheiten”, bemerkte unter dem Eindruck der Französischen Revolution Graf Antoine de Rivarol. Er resümierte mit diesem Satz noch einmal die Überzeugungen des ancien régime, die im Laufe des 18. Jahrhunderts von den Verfechtern einer vernünftigen Aufklärung um ihre ganz eigene Vernunft gebracht worden waren. Die alten Formen höfisch-kirchlicher Repräsentation wurden nicht nur von den revolutionären Jakobinern als Mummenschanz, weltlich-eitle Üppigkeit oder asiatische Prunksucht verlästert. Juristen und Historiker, bald biedere Bürger und Demokraten, beachteten seitdem die einst so wichtige Ceremonialwissenschaft nicht weiter und verstanden nicht mehr, warum ehedem mit gutem Grund die Caeremonialia pro essentialibus für etwas Wesentliches gehalten wurden.
Dem Wort verpflichtet, übersahen die modernen „Schriftgelehrten”, dass Zeichen und Substanz, Form und Sache in der alten Welt voneinander nicht zu trennen waren. Als Rationalisten fürchteten sie in den Bildern die Übermacht des Irrationalen. Also Götzenbilder, die ablenken vom Kult des höchsten Wesens, der selig mit sich selbst beschäftigten Vernunft, die körperlos im Reiche der reinen Begrifflichkeiten schwingt und schwebt. „Und so wird denn allmählich das einzeln konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein friste, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet”. Diese Warnung Schillers wird nicht mehr leichtsinnig überhört, seitdem die Bildersprache und deren Ausdrucksmacht überhaupt neu entdeckt werden.
Das Reich als Körper
Barbara Stollberg-Rilinger vergegenwärtigt die Symbolsprache des Alten Reiches und mit ihr eine anschauliche Vernunft und deren dem Leben zugewandte Leistungskraft in ihrem Buch über „Des Kaisers alte Kleider”. Wer im Heiligen Römischen Reich unverhohlen bekundete, neuer Dinge begierig zu sein, machte sich, wie etwa Catilina im alten Rom, verdächtig, die hergebrachte und anerkannte Ordnung umstürzen zu wollen. „Catilinarische Existenzen” gefährdeten das System, wie es immer wieder hieß. Aber mitten ins Römische Reich brach eine neue Kunde, eine frohe Botschaft, dass Christus der Retter und Befreier in die Welt als Geschichte eingetreten war, bereit mit dem alten Adam einen neuen Bund zu schließen.
Omnia nova placet – alles Neue gefällt, so lautete seitdem die frohe und rettende Botschaft. Alles Neue, Überraschende, Veränderliche war mit dem Rex und Imperator Christus verbunden. Das Ungewohnte und Außergewöhnliche, das wie ein Wunder dennoch in die Wirklichkeit einbricht und sie verändert, konnte sich deshalb nur aus dem ungestörten Zusammenhang mit dem Ewigen, dem immer Gewohnten rechtfertigen. Die Rituale, die symbolischen Handlungen, die Kaiserwahl und Kaiserkrönungen,die Hof- und Reichstage der Fürsten um den Kaiser, mit denen sich Barbara Stollberg-Rilinger beschäftigt, bleiben sich fast gleich im Lauf der Jahrhunderte. Doch als „Lebensformen” erlaubten sie eine ungemeine Beweglichkeit.
Es gab keine Gewissheit darüber, ob der Kaiser das Reich repräsentiere oder der Reichstag oder der Kaiser gemeinsam mit den Kurfürsten und den Fürsten. Es war gar nicht so sicher, wer überhaupt zum Reich gehörte oder, obschon ein Reichsstand, davon befreit war, zu Reichsdiensten verpflichtet werden zu können. Ausgerechnet das Allerhöchste Kaiserhaus mit seinen Reichslehen hatte ein allerdings habsburgischer Kaiser – Friedrich III. – aus allen Verpflichtungen dem Reich gegenüber gelöst. Der König von Böhmen gehörte zu den sieben Kurfürsten, die den deutschen König, den Römischen genannt, wählten. Er gehörte zum Römischen Reich, aber nicht zum regnum teutonicum innerhalb des Imperium Romanum.
Manche Fürsten, wie der Herzog von Lothringen, der Herzog von Savoyen oder der Herzog von Mailand wurden immer als Reichsfürsten aufgeführt, ob sie zu Reichstagen kamen oder nicht. Andere wie der König von Spanien waren als Herzöge von Burgund oder Mailand ein Reichsstand. Ihre Gesandten auf den Reichstagen traten aber selbstverständlich als Repräsentanten einer Großmacht auf und nicht als kaiserliche Vasallen. Karl V., der Römische Kaiser und König von Spanien, nahm in sein Gefolge, wenn er ins engere deutsche Reich kam, Italiener und Burgunder, auch Spanier auf, soweit in „Reichsitalien” tätig. Diese Aristokraten waren genaugenommen keine Ausländer, keine Fremden. Aber Karl V. umgab sich auch im Reich bewusst mit ihnen, um den Deutschen zu zeigen, dass er tatsächlich Römischer Kaiser in Europa war, ja mehr noch ein Weltmonarch, der zu Wasser und zu Lande, in der Alten wie in der Neuen Welt herrscht und Ozeane wie Kontinente miteinander verknüpft.
Das Römische Reich war eine Wahlmonarchie. Es gab in ihm keine Erbfolge und dennoch kamen seit dem 14. Jahrhundert stets aus dem Hause Österreich die Kaiser, die schon zu Lebzeiten ihre Nachfolge regelten, obgleich das der Goldenen Bulle, dem Reichsgrundgesetz widersprach. Eine solch unübersichtliche Ordnung musste „sichtbar” gemacht werden, um zur Tatsache zu werden. Davon handelt dies Buch. Trotz aller religiösen und anderweitigen politischen Widersprüche gelang es immer wieder, das Reich als einen „Körper”, als eine Wirklichkeit in der Wirklichkeit erfahrbar zu machen, zu der es in wunderbarem oder wunderlichem Widerspruch stand.
Glanz und Herrlichkeit
Das verwirrte Deutsche, Italiener, Wallonen oder Slowenen überhaupt nicht, eingeübt, in die complexio oppositorum, die Harmonie des Sowohl-als-auch, die Nikolaus von Cues ihnen gleichsam als Reichsphilosophie beigebracht hatte. Als allergehorsamste Vasallen des Kaisers protestierten die evangelischen Stände seit 1529. Sie protestierten als Gutkaiserliche ununterbrochen. Paradoxerweise war ihr Anführer auch nach August des Starken Übertritt zur Römischen Kirche weiterhin der sächsische Kurfürst. Die sächsischen Lutheraner, nicht die bayerischen Katholiken, waren die zuverlässigsten Freunde der Kaiser. Die Kaiser nach dem sogenannten Dreißigjährigen Krieg, Leopold I., von manchen auch der Große genannt, Joseph I. und Karl VI. gewannen noch einmal ein großes Ansehen und verliehen mit ihrer Kaiserherrlichkeit dem Reich Glanz und eine Herrlichkeit, die bis heute die Kaisersäle in oberdeutschen Reichsstiften und an der Donau eindringlich vors Auge stellen.
Deutsche Freiheit, das ehrwürdige Kaisertum und das Heilige Reich konnten vielleicht die Vernunft herausfordern. Als Bilder und Symbole wirkten sie auf die Einbildungskraft und das Gemüt und hielten dies seltsame Reich, das der Vernunft aller Vernünftigen spottete, beisammen. Barbara Stollberg-Rilinger führt nicht nur hinein in die Überzeugungsmacht der Bilder. Sie bestätigt mit ihrer anschaulichen, dem konkreten Moment zugewandten Vergegenwärtigung des Fernen und Vergangenen, dass auch die Poesie den Dingen Dauer verschafft. EBERHARD STRAUB
BARBARA STOLLBERG-RILINGERl: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. Verlag C.H. Beck München 2008. 439 Seiten, 38 Euro.
Der Kaisersaal in der Benediktinerabtei Ottobeuren Foto: bpk / Georg Christ
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit großem Interesse hat Eberhard Straub Barbara Stollberg-Rilingers Buch über die Verfassungsgeschichte des Alten Reiches und wie diese in Symbolen, Bildern und Ritualen repräsentiert wurde, gelesen. Die von den Aufklärern als "Mummenschanz" verachtete Repräsentationskunst der Kaiser, des Reichstags oder der Fürstenhöfe zeigt die Autorin in ihrer Kraft als "Ausdrucksmacht" einer nicht selten verwirrenden und paradoxen Ordnung, betont der Rezensent gefesselt. Er findet, dass es der Autorin sehr gut gelingt, diese Vergegenwärtigungen eines komplexen Reichsgebildes plastisch hervortreten zu lassen und irgendwie entdeckt Straub in ihrer eingehenden Untersuchung der Symbolsprache des Alten Reiches auch eine "Poesie", die den "Dingen Dauer" verleiht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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