Karl Loewenstein (1891-1973) zählt zu den bedeutendsten Emigranten der Rechts- und Politikwissenschaft. 50 Jahre nach seinem Tod werden seine Lebenserinnerungen nun ediert. Sie sind ein Porträt der deutschen und auch amerikanischen Geschichte: der zugrunde gehenden Monarchie, der Konflikte in der Weimarer Republik, einer akademischen Karriere unter den Schwierigkeiten der Emigration in die USA, dem Wechsel von der Rechts- in die Politikwissenschaft, der Tätigkeit in der amerikanischen Militärregierung nach 1945, dem Wiederaufbau der Bundesrepublik. Loewensteins Analysen und treffsichere Urteile erlauben einen Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive des Demokraten und Pluralismustheoretikers. Hier spricht das "andere Deutschland". Viele Größen säumten Loewensteins Weg, darunter Max Weber, Lujo Brentano, Thomas Mann, Lucius D. Clay und Theodor Heuss.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Tilman Allert kann nur staunen, wie lebendig Karl Loewensteins Lebensbilanz ausfällt. An die Vorlesungen des Rechtswissenschaftlers und Soziologen erinnert sich Allert noch gern. In Loewensteins Autobiografie sucht Allert nicht den Werkkommentar, sondern schreitet gemeinsam mit dem Autor den geistigen Raum ab, in dem Loewensteins Arbeiten zum Verfassungsrecht gedeihten, von Loewensteins Anfängen als Rechtsanwalt über seine Emigration in die USA bis zur Beratertätigkeit für den Kontrollrat der Alliierten. Die "historische Tiefe" von Loewenstein beeindruckt den Kritiker sowie auch die Abwesenheit von Groll gegenüber Deutschland, aus dem er doch vertrieben wurde. Bei der Lektüre zieht ein ganzes Jahrhundert vorüber, stellt Allert freudig fest.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.01.2024Ungebrochener
Optimist
Verfassungsrechtler Karl Loewenstein half nach
1945 als „eingewanderter amerikanischer Neubürger“
entscheidend beim Aufbau der Demokratie.
VON TILMAN ALLERT
Es ist kein Geheimnis, dass die viel gerühmte Aufbauleistung Westdeutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ohne die umfassende Unterstützung durch die Vereinigten Staates nicht möglich gewesen wäre. Die Amerikaner setzten in sozioökonomischer und verfassungspolitischer Hinsicht den Rahmen. Sie traten als Sieger auf, wollten allerdings bei der Neuordnung Deutschlands das Selbstverständnis einer offenen Gesellschaft zur Geltung bringen, ein ambivalenter Kulturtransfer, für den sich der Begriff „Westernisierung“ (Anselm Doering-Manteuffel) eingebürgert hat.
Mit Westdeutschland als Hauptaustragungsort sollte die Reorganisation Europas unter einer liberalen Mission erfolgen. Situationen der politischen Zäsur und des Staatszerfalls, wie sie die deutsche Gesellschaft erfahren hatte, erfordern ein Nachdenken darüber, wie die Konstitution einer tragfähigen politischen Ordnung zu sichern ist. Bei den Diskussionen zum bundesdeutschen Grundgesetz ging es beispielsweise darum, Konstruktionsfehler der Weimarer Verfassung zu vermeiden, die Erfahrung mit der selbstzerstörerischen Wirkung des präsidialen Ermächtigungsgesetzes vor Augen. Bonn sollte nicht Weimar sein.
Ordnungsstiftung gelingt über institutionalisierte Verfassungen. Unterschiedliche Modelle und Verfahren zur Konstitution einer selbstbewussten demokratischen Ordnung erörtert bekanntlich das Werk von Karl Loewenstein (1891–1973), das profunde Analysen zu Staatsrecht und Verfassungsrecht enthält. Wie das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung sowie ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Regierung, Parlament und dem Volk als Souverän institutionell zu sichern ist, entwirft Loewenstein in einer historischen Komparatistik von Verfassungen, deren Innovationsgehalt bis heute noch nicht systematisch erschlossen ist. Die juristische Diskussion um die Dimension der Voraussetzungs- und Folgenanalyse zu erweitern, ist sein bleibendes Verdienst. Politische Herrschaft konstituiert sich über Verwaltungsstab und Legitimationsidee, heißt es bei Max Weber. Loewenstein, der daran anschließt, rückt die Verfassung ins Zentrum seiner Staatstheorie.
Mit der Autobiografie „Des Lebens Überfluß“ liegt nun die Bilanz dieses herausragenden Wissenschaftlers vor, eines Grenzgängers zwischen Rechtswissenschaft und politischer Soziologie, eines durch die Staatssoziologie Webers inspirierten Intellektuellen. Seine Erinnerungen liefern nicht etwa einen Werkkommentar, vielmehr bieten sie eine Gelegenheit, den geistigen Raum abzuschreiten, in dem seine Grundlagentexte zum modernen Verfassungsstaat gereift sind.
Loewensteins außergewöhnliche berufliche Karriere ist einer Spezialisierung gleichsam contre cœur geschuldet. Für den Sohn einer im Münchner bürgerlichen Milieu gut vernetzten jüdischen Kaufmannsfamilie kristallisiert sich die Aufmerksamkeit auf die Jurisprudenz erst allmählich heraus. Er soll Kaufmann werden. Doch künstlerische Vorlieben bestimmen den Lebenszuschnitt der Familie. Mit seinen Brüdern spielte er mit holzgeschnitzten Lokomotiven, die der Maler Lyonel Feininger Anfang des Jahrhunderts für die Spielzeugfabrik des Vaters anfertigte. Der musikalischen Begabung folgen erste Überlegungen zur Berufswahl, die hingegen zugunsten eines Jurastudiums aufgegeben werden, wenngleich die Musik alle späteren Lebensstationen überbrücken wird.
Nach Abschluss des Studiums führt Loewenstein in München eine gut gehende Anwaltskanzlei, verfolgt hingegen gleichzeitig seine an der Universität geweckten intellektuellen Interessen. Allerdings als akademischer Außenseiter. Er promoviert und habilitiert sich ohne größere Anbindung an das akademische Kollegium der Universität, an der er von 1931 an als Privatdozent Vorlesungen in Staatsrecht anbietet. Nachdem die Nationalsozialisten die Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Karriere verwehren, „weil die Staatslehre und Staatsrecht im nationalsozialistischen Staat von einem Nichtarier nicht gelesen werden können“, emigriert er in die USA und lehrt zunächst an der Yale Universität in New Haven, dann am Amherst College in Amherst, Massachusetts. 1945 kehrt er nach Deutschland zurück, wird Berater der amerikanischen Militärregierung und nimmt Ende der Fünfzigerjahre seine Tätigkeit als Universitätslehrer wieder auf, mit Gastdozenturen an verschiedenen Universitäten.
Der Rezensent erinnert lebhaft Loewensteins Vorlesung über den englischen Parlamentarismus aus dem Sommersemester 1967 an der Universität Freiburg, temperamentvoll und engagiert, ohne Manuskript, gespickt mit spöttischen Seitenhieben auf die Politik Königin Viktorias, jedoch vorgetragen in einer Souveränität, die vergessen ließ, dass es sich beim Vortragenden um einen heimgekehrten Vertriebenen handelte. Loewensteins Erinnerungen dokumentieren den Lebensweg eines politikwissenschaftlichen Pioniers, fundiert durch ein stupendes historisches Wissen, getragen von der Überzeugung, die politische Ordnung des Staates mit institutionellen Garantien zu versehen.
Die sechzehn Kapitel der Autobiografie, die sowohl die Anfänge als Rechtsanwalt als auch die akademischen Erfahrungen im College-System der USA sowie schließlich das Wiedersehen mit Deutschland und seine Beratertätigkeit für den alliierten Kontrollrat umspannen, lassen beinahe ein ganzes Jahrhundert lebendig werden. Seinen Friktionen und Zivilisationsbrüchen stellt Loewenstein ein funktional gedachtes Ordnungskonzept der Demokratie entgegen: ohne substantialistische Verherrlichung des Volks und ohne idealistische Überhöhung des Staates. Die Diskriminierungserfahrung und Vertreibung durch den Nationalsozialismus, die Marginalisierung im Wissenschaftssystem bilden Stufen der Lebenseinschränkung, vor deren Horizont sich der unerschütterliche Mut und geistige Elan sich umso heller abzeichnet.
Die lebendig erzählte Bilanz beeindruckt in ihrer ausgreifenden historischen Tiefe, die gleich mehrere Lektüren eröffnet: Loewenstein versteht sich nicht als Emigrant, viel mehr als einen „eingewanderten amerikanischen Neubürger“. Aus dem „ausgewanderten Juristen“, der 1933 Deutschland verlassen musste, ist ein Theoretiker geworden, ein Politologe avant la lettre, dessen Schriften zu den Gründungstexten einer vergleichenden Politikforschung gezählt werden. Der anekdotenreich erzählte Lebensbericht spiegelt eine Generationserfahrung, der Loewenstein die Zuversicht in einen ungebrochenen Gestaltungsoptimismus entnimmt, nachdem er in die geliebte Heimat zurückgekehrt ist, um sich in Debatten um Weichenstellungen der entstehenden Bundesrepublik zu engagieren.
Er schreibt im demonstrativen Gestus des Gelingens, ohne Groll oder Ressentiment gegenüber dem Land, aus dem er vertrieben wurde. Getragen ist der Optimismus von einer beeindruckenden Vernetzung in bildungsbürgerliche Kreise, deren Zusammenkünfte lebendig kommentiert werden. Seine Hingabe an die Musik, in Konzerterlebnissen, Begegnungen mit Interpreten und Dirigenten, ausführlich beschrieben, sind ihm ein eigenes Kapitel wert, gleichermaßen seine zahlreichen Reisen. Hervorzuheben ist an dem Buch, das im „Hausverlag“ Max Webers erschienen ist, nicht zuletzt die schlicht bewundernswerte Sorgfalt, in der die Herausgeber in umfassenden kontextualisierenden Anmerkungen den Erfahrungsraum Karl Loewensteins und somit das enorm breite Spektrum seiner Freundschaften und darüber die kulturelle Atmosphäre seiner Zeit aufleben lassen. Eine Fundgrube, eine Enzyklopädie des Jahrhunderts im Prisma eines wachsamen und weltläufigen Forschers.
Tilman Allert lehrte Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt.
Die Autobiografie
gleicht einer Enzyklopädie
des 20. Jahrhunderts
Karl Loewenstein:
Des Lebens Überfluß.
Erinnerungen eines
ausgewanderten Juristen.
Herausgegeben von
Oliver Lepsius, Robert van Ooyen und Frank Schale. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2023.
400 Seiten, 39 Euro.
Nach dem Weltkrieg kehrte Karl Loewenstein aus den USA nach Deutschland zurück und machte sich voller Elan ans Werk.
Foto: Amherst College
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Optimist
Verfassungsrechtler Karl Loewenstein half nach
1945 als „eingewanderter amerikanischer Neubürger“
entscheidend beim Aufbau der Demokratie.
VON TILMAN ALLERT
Es ist kein Geheimnis, dass die viel gerühmte Aufbauleistung Westdeutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ohne die umfassende Unterstützung durch die Vereinigten Staates nicht möglich gewesen wäre. Die Amerikaner setzten in sozioökonomischer und verfassungspolitischer Hinsicht den Rahmen. Sie traten als Sieger auf, wollten allerdings bei der Neuordnung Deutschlands das Selbstverständnis einer offenen Gesellschaft zur Geltung bringen, ein ambivalenter Kulturtransfer, für den sich der Begriff „Westernisierung“ (Anselm Doering-Manteuffel) eingebürgert hat.
Mit Westdeutschland als Hauptaustragungsort sollte die Reorganisation Europas unter einer liberalen Mission erfolgen. Situationen der politischen Zäsur und des Staatszerfalls, wie sie die deutsche Gesellschaft erfahren hatte, erfordern ein Nachdenken darüber, wie die Konstitution einer tragfähigen politischen Ordnung zu sichern ist. Bei den Diskussionen zum bundesdeutschen Grundgesetz ging es beispielsweise darum, Konstruktionsfehler der Weimarer Verfassung zu vermeiden, die Erfahrung mit der selbstzerstörerischen Wirkung des präsidialen Ermächtigungsgesetzes vor Augen. Bonn sollte nicht Weimar sein.
Ordnungsstiftung gelingt über institutionalisierte Verfassungen. Unterschiedliche Modelle und Verfahren zur Konstitution einer selbstbewussten demokratischen Ordnung erörtert bekanntlich das Werk von Karl Loewenstein (1891–1973), das profunde Analysen zu Staatsrecht und Verfassungsrecht enthält. Wie das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung sowie ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Regierung, Parlament und dem Volk als Souverän institutionell zu sichern ist, entwirft Loewenstein in einer historischen Komparatistik von Verfassungen, deren Innovationsgehalt bis heute noch nicht systematisch erschlossen ist. Die juristische Diskussion um die Dimension der Voraussetzungs- und Folgenanalyse zu erweitern, ist sein bleibendes Verdienst. Politische Herrschaft konstituiert sich über Verwaltungsstab und Legitimationsidee, heißt es bei Max Weber. Loewenstein, der daran anschließt, rückt die Verfassung ins Zentrum seiner Staatstheorie.
Mit der Autobiografie „Des Lebens Überfluß“ liegt nun die Bilanz dieses herausragenden Wissenschaftlers vor, eines Grenzgängers zwischen Rechtswissenschaft und politischer Soziologie, eines durch die Staatssoziologie Webers inspirierten Intellektuellen. Seine Erinnerungen liefern nicht etwa einen Werkkommentar, vielmehr bieten sie eine Gelegenheit, den geistigen Raum abzuschreiten, in dem seine Grundlagentexte zum modernen Verfassungsstaat gereift sind.
Loewensteins außergewöhnliche berufliche Karriere ist einer Spezialisierung gleichsam contre cœur geschuldet. Für den Sohn einer im Münchner bürgerlichen Milieu gut vernetzten jüdischen Kaufmannsfamilie kristallisiert sich die Aufmerksamkeit auf die Jurisprudenz erst allmählich heraus. Er soll Kaufmann werden. Doch künstlerische Vorlieben bestimmen den Lebenszuschnitt der Familie. Mit seinen Brüdern spielte er mit holzgeschnitzten Lokomotiven, die der Maler Lyonel Feininger Anfang des Jahrhunderts für die Spielzeugfabrik des Vaters anfertigte. Der musikalischen Begabung folgen erste Überlegungen zur Berufswahl, die hingegen zugunsten eines Jurastudiums aufgegeben werden, wenngleich die Musik alle späteren Lebensstationen überbrücken wird.
Nach Abschluss des Studiums führt Loewenstein in München eine gut gehende Anwaltskanzlei, verfolgt hingegen gleichzeitig seine an der Universität geweckten intellektuellen Interessen. Allerdings als akademischer Außenseiter. Er promoviert und habilitiert sich ohne größere Anbindung an das akademische Kollegium der Universität, an der er von 1931 an als Privatdozent Vorlesungen in Staatsrecht anbietet. Nachdem die Nationalsozialisten die Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Karriere verwehren, „weil die Staatslehre und Staatsrecht im nationalsozialistischen Staat von einem Nichtarier nicht gelesen werden können“, emigriert er in die USA und lehrt zunächst an der Yale Universität in New Haven, dann am Amherst College in Amherst, Massachusetts. 1945 kehrt er nach Deutschland zurück, wird Berater der amerikanischen Militärregierung und nimmt Ende der Fünfzigerjahre seine Tätigkeit als Universitätslehrer wieder auf, mit Gastdozenturen an verschiedenen Universitäten.
Der Rezensent erinnert lebhaft Loewensteins Vorlesung über den englischen Parlamentarismus aus dem Sommersemester 1967 an der Universität Freiburg, temperamentvoll und engagiert, ohne Manuskript, gespickt mit spöttischen Seitenhieben auf die Politik Königin Viktorias, jedoch vorgetragen in einer Souveränität, die vergessen ließ, dass es sich beim Vortragenden um einen heimgekehrten Vertriebenen handelte. Loewensteins Erinnerungen dokumentieren den Lebensweg eines politikwissenschaftlichen Pioniers, fundiert durch ein stupendes historisches Wissen, getragen von der Überzeugung, die politische Ordnung des Staates mit institutionellen Garantien zu versehen.
Die sechzehn Kapitel der Autobiografie, die sowohl die Anfänge als Rechtsanwalt als auch die akademischen Erfahrungen im College-System der USA sowie schließlich das Wiedersehen mit Deutschland und seine Beratertätigkeit für den alliierten Kontrollrat umspannen, lassen beinahe ein ganzes Jahrhundert lebendig werden. Seinen Friktionen und Zivilisationsbrüchen stellt Loewenstein ein funktional gedachtes Ordnungskonzept der Demokratie entgegen: ohne substantialistische Verherrlichung des Volks und ohne idealistische Überhöhung des Staates. Die Diskriminierungserfahrung und Vertreibung durch den Nationalsozialismus, die Marginalisierung im Wissenschaftssystem bilden Stufen der Lebenseinschränkung, vor deren Horizont sich der unerschütterliche Mut und geistige Elan sich umso heller abzeichnet.
Die lebendig erzählte Bilanz beeindruckt in ihrer ausgreifenden historischen Tiefe, die gleich mehrere Lektüren eröffnet: Loewenstein versteht sich nicht als Emigrant, viel mehr als einen „eingewanderten amerikanischen Neubürger“. Aus dem „ausgewanderten Juristen“, der 1933 Deutschland verlassen musste, ist ein Theoretiker geworden, ein Politologe avant la lettre, dessen Schriften zu den Gründungstexten einer vergleichenden Politikforschung gezählt werden. Der anekdotenreich erzählte Lebensbericht spiegelt eine Generationserfahrung, der Loewenstein die Zuversicht in einen ungebrochenen Gestaltungsoptimismus entnimmt, nachdem er in die geliebte Heimat zurückgekehrt ist, um sich in Debatten um Weichenstellungen der entstehenden Bundesrepublik zu engagieren.
Er schreibt im demonstrativen Gestus des Gelingens, ohne Groll oder Ressentiment gegenüber dem Land, aus dem er vertrieben wurde. Getragen ist der Optimismus von einer beeindruckenden Vernetzung in bildungsbürgerliche Kreise, deren Zusammenkünfte lebendig kommentiert werden. Seine Hingabe an die Musik, in Konzerterlebnissen, Begegnungen mit Interpreten und Dirigenten, ausführlich beschrieben, sind ihm ein eigenes Kapitel wert, gleichermaßen seine zahlreichen Reisen. Hervorzuheben ist an dem Buch, das im „Hausverlag“ Max Webers erschienen ist, nicht zuletzt die schlicht bewundernswerte Sorgfalt, in der die Herausgeber in umfassenden kontextualisierenden Anmerkungen den Erfahrungsraum Karl Loewensteins und somit das enorm breite Spektrum seiner Freundschaften und darüber die kulturelle Atmosphäre seiner Zeit aufleben lassen. Eine Fundgrube, eine Enzyklopädie des Jahrhunderts im Prisma eines wachsamen und weltläufigen Forschers.
Tilman Allert lehrte Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt.
Die Autobiografie
gleicht einer Enzyklopädie
des 20. Jahrhunderts
Karl Loewenstein:
Des Lebens Überfluß.
Erinnerungen eines
ausgewanderten Juristen.
Herausgegeben von
Oliver Lepsius, Robert van Ooyen und Frank Schale. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2023.
400 Seiten, 39 Euro.
Nach dem Weltkrieg kehrte Karl Loewenstein aus den USA nach Deutschland zurück und machte sich voller Elan ans Werk.
Foto: Amherst College
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