Dieses Buch enthält einhundert deutsche Gedichte aus einem Zeitraum von fast tausend Jahren. Die Herausgeber haben die wichtigsten Anthologien, die zwischen den Jahren 1900 und 1999 erschienen sind, zu Rate gezogen und daraus eine âEUR_HitlisteâEUR_ der beliebtesten Gedichte zusammengestellt. Goethe, Heine und Schiller sind hier ebenso vertreten wie die moderne Lyrik mit Rainer Maria Rilke, Stefan George, Georg Trakl, Bertolt Brecht, Erich Kästner und Paul Celan. Neben Gedichten, die jeder aus der Schule kennt, stehen solche, die für manchen Leser eine Wieder- oder Neuentdeckung bedeuten. Eine Sammlung, die viele Menschen ansprechen wird - ein populäres Hausbuch für einen großen Leserkreis.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2001Wer nie den Vers im Bette las
Was heißt denn eigentlich beliebt? Eine Anthologie geibelt und miegelt sich durchs deutsche Gedicht · Von Thomas Kling
Wohnen Sie auch im Dichterviertel? Goethestraße, Schillerplatz? Da ist die Uhlandstraße nicht weit; die Uhland-Apotheke haben Sie da gleich mit. Und die wird man eventuell brauchen können, geben Sie nur acht.
Das liegt nicht daran, daß wir es hier mit einer Gedichtsammlung zu tun haben, die es sich etwas näher anzusehen gilt. Unter all den munter sprießenden Florilegien, die etwa themengebunden einer bestimmten Jahreszeit gewidmet sind, oder dem Liebesgedicht oder einem Großdichter wie dem Turmbewohner von Tübingen, dem Nachgewachsene ihre Kränze flechten, gibt es diejenigen Reader, welche ein mehr oder weniger verflossenes Dezennium zu überschauen suchen oder das den Dekaden seit 1890 sich annehmende "Jahrhundertgedächtnis" Harald Hartungs. Jetzt meint der Verlag C. H. Beck ganz auf Nummer Sicher zu gehen, indem er "Die 100 beliebtesten deutschen Gedichte" herausbringt; da kann doch eigentlich gar nichts schiefgehen!
Wie macht der Herausgeber das eigentlich? fragt man sich. Statistisch! antwortet der Herausgeber vergnügt, und dies gleich in einem Vor- und Nachwort. Die beide, neben literaturhistorischen Irreführungen und logischen Ungereimtheiten, die es gratis gibt, nur auf eines nicht bereit sind Auskunft zu geben, nämlich: Wie wurde da ausgezählt? Mit der gutgelaunten Inbrunst des mobilen Aalverkäufers geht der sonst nicht weiter bekannte Gedichtfreund Dirk Ippen in die vollen. Um auf "Die 100 beliebtesten deutschen Gedichte" (Vorwort) zu kommen, die unter dem schon etwas streng bis wehmutsvoll-altfränkisch riechenden beziehungsweise klingenden Titel "Des Sommers letzte Rosen" erscheinen, hat er sich ganz was Schlaues ausgedacht. Tatsächlich habe er die "50 beliebtesten Anthologien" nach der Auflagenhöhe - "sofern ermittelbar", hüstelt es im Nachwort - ausgeschlachtet und darauf geachtet, welche Gedichte "am häufigsten" vorkommen. Bloß welche fünfzig "populärste" Sammlungen das gewesen sein sollen, über die man sich hergemacht hat - darüber schweigt Aalverkäufers Höflichkeit. Kein Apparat, nirgends.
Die vorliegende Anthologien-Verwurstung wird allerdings, schon schlecht, als "objektiv" verkauft - hanebüchene Argumente geben sich da die Hand. Dieter-Thomas-Heck-mäßig will unser Gedichtfreund der lyrikliebenden Leserschaft eine, ja doch, "Hitparade" an die Hand geben. Ein akademischer Gebrauchtwagenhandel kommt da schnurrend in Gang, "ich weiß nicht, was soll es bedeuten"?
Alles, was dem Deutschen seit Kaiser Wilhelm ins Redensartliche geraten ist, wird noch einmal hervorgekramt, von "Halb zog sie ihn, halb sank er hin, / Und ward nicht mehr gesehn", (Goethes "Fischer", Platz 2), bis Goethes "Wer nie sein Brot mit Tränen aß" (Platz 62), das der klassikerdekonstruierende Volksmund ja einst ergänzte mit " . . . der weiß auch nicht, wie Krümel pieken". Tierisch, alles versammelt, von den "Kranichen des Ibykus" Schillers bis hin zu Rilkes "Panther".
Der jüngste Beitrag stammt von Paul Celan ("Todesfuge") und erschien vor fünfzig Jahren; Walther von der Vogelweide war offenbar nie so richtig beliebt (oder er läßt sich so schlecht zitieren), er fehlt; die drei Gedichte aus dem siebzehnten Jahrhundert, von Simon Dach, Paul Fleming und Paul Gerhardt, sind nicht, was ich unseriös finde, in originaler Schreibweise wiedergegeben. Aber es soll sich ja um eine sogenannte "Publikumsanthologie" handeln (ein "Hausbuch", freut sich die Verlagswerbung), da kommt es nicht so drauf an.
Liebe "Hitparade"! Ich muß meckern: Karel Gott würde sich bedanken, wenn er sich "Karl" geschrieben sähe. Und Adelbert von Chamisso, ein kleiner Test, ist auch kein "Adalbert". Die heillose Lyriksammlung will, so ihr Herausgeber, keine Überraschung bieten. Was voll und ganz gelungen ist; abgesehen vom avantgardistischen Touch, der nicht vermieden werden konnte, - bleibt die Moderne von vornherein doch so gut wie ausgespart. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten. Platz 1 belegt übrigens Ludwig Uhland von der gleichnamigen Apotheke mit seinem beliebten "Frühlingsglauben" ("Die linden Lüfte sind erwacht . . ."). So geibelt und miegelt sich das duftige Balladenbuch durch die Charts des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Wer also das vollständige "Lied der Deutschen" des Hoffmann von Fallersleben (leider nur Platz 68) nicht richtig kennt und den "Zauberlehrling" (immerhin Platz 10) bislang verpaßt hat - ab ins Kino, "Harry Potter" gucken.
"Des Sommers letzte Rosen". Die 100 beliebtesten deutschen Gedichte. Herausgegeben von Dirk Ippen. Verlag C. H. Beck, München 2001. 187 S., geb., 20,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was heißt denn eigentlich beliebt? Eine Anthologie geibelt und miegelt sich durchs deutsche Gedicht · Von Thomas Kling
Wohnen Sie auch im Dichterviertel? Goethestraße, Schillerplatz? Da ist die Uhlandstraße nicht weit; die Uhland-Apotheke haben Sie da gleich mit. Und die wird man eventuell brauchen können, geben Sie nur acht.
Das liegt nicht daran, daß wir es hier mit einer Gedichtsammlung zu tun haben, die es sich etwas näher anzusehen gilt. Unter all den munter sprießenden Florilegien, die etwa themengebunden einer bestimmten Jahreszeit gewidmet sind, oder dem Liebesgedicht oder einem Großdichter wie dem Turmbewohner von Tübingen, dem Nachgewachsene ihre Kränze flechten, gibt es diejenigen Reader, welche ein mehr oder weniger verflossenes Dezennium zu überschauen suchen oder das den Dekaden seit 1890 sich annehmende "Jahrhundertgedächtnis" Harald Hartungs. Jetzt meint der Verlag C. H. Beck ganz auf Nummer Sicher zu gehen, indem er "Die 100 beliebtesten deutschen Gedichte" herausbringt; da kann doch eigentlich gar nichts schiefgehen!
Wie macht der Herausgeber das eigentlich? fragt man sich. Statistisch! antwortet der Herausgeber vergnügt, und dies gleich in einem Vor- und Nachwort. Die beide, neben literaturhistorischen Irreführungen und logischen Ungereimtheiten, die es gratis gibt, nur auf eines nicht bereit sind Auskunft zu geben, nämlich: Wie wurde da ausgezählt? Mit der gutgelaunten Inbrunst des mobilen Aalverkäufers geht der sonst nicht weiter bekannte Gedichtfreund Dirk Ippen in die vollen. Um auf "Die 100 beliebtesten deutschen Gedichte" (Vorwort) zu kommen, die unter dem schon etwas streng bis wehmutsvoll-altfränkisch riechenden beziehungsweise klingenden Titel "Des Sommers letzte Rosen" erscheinen, hat er sich ganz was Schlaues ausgedacht. Tatsächlich habe er die "50 beliebtesten Anthologien" nach der Auflagenhöhe - "sofern ermittelbar", hüstelt es im Nachwort - ausgeschlachtet und darauf geachtet, welche Gedichte "am häufigsten" vorkommen. Bloß welche fünfzig "populärste" Sammlungen das gewesen sein sollen, über die man sich hergemacht hat - darüber schweigt Aalverkäufers Höflichkeit. Kein Apparat, nirgends.
Die vorliegende Anthologien-Verwurstung wird allerdings, schon schlecht, als "objektiv" verkauft - hanebüchene Argumente geben sich da die Hand. Dieter-Thomas-Heck-mäßig will unser Gedichtfreund der lyrikliebenden Leserschaft eine, ja doch, "Hitparade" an die Hand geben. Ein akademischer Gebrauchtwagenhandel kommt da schnurrend in Gang, "ich weiß nicht, was soll es bedeuten"?
Alles, was dem Deutschen seit Kaiser Wilhelm ins Redensartliche geraten ist, wird noch einmal hervorgekramt, von "Halb zog sie ihn, halb sank er hin, / Und ward nicht mehr gesehn", (Goethes "Fischer", Platz 2), bis Goethes "Wer nie sein Brot mit Tränen aß" (Platz 62), das der klassikerdekonstruierende Volksmund ja einst ergänzte mit " . . . der weiß auch nicht, wie Krümel pieken". Tierisch, alles versammelt, von den "Kranichen des Ibykus" Schillers bis hin zu Rilkes "Panther".
Der jüngste Beitrag stammt von Paul Celan ("Todesfuge") und erschien vor fünfzig Jahren; Walther von der Vogelweide war offenbar nie so richtig beliebt (oder er läßt sich so schlecht zitieren), er fehlt; die drei Gedichte aus dem siebzehnten Jahrhundert, von Simon Dach, Paul Fleming und Paul Gerhardt, sind nicht, was ich unseriös finde, in originaler Schreibweise wiedergegeben. Aber es soll sich ja um eine sogenannte "Publikumsanthologie" handeln (ein "Hausbuch", freut sich die Verlagswerbung), da kommt es nicht so drauf an.
Liebe "Hitparade"! Ich muß meckern: Karel Gott würde sich bedanken, wenn er sich "Karl" geschrieben sähe. Und Adelbert von Chamisso, ein kleiner Test, ist auch kein "Adalbert". Die heillose Lyriksammlung will, so ihr Herausgeber, keine Überraschung bieten. Was voll und ganz gelungen ist; abgesehen vom avantgardistischen Touch, der nicht vermieden werden konnte, - bleibt die Moderne von vornherein doch so gut wie ausgespart. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten. Platz 1 belegt übrigens Ludwig Uhland von der gleichnamigen Apotheke mit seinem beliebten "Frühlingsglauben" ("Die linden Lüfte sind erwacht . . ."). So geibelt und miegelt sich das duftige Balladenbuch durch die Charts des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Wer also das vollständige "Lied der Deutschen" des Hoffmann von Fallersleben (leider nur Platz 68) nicht richtig kennt und den "Zauberlehrling" (immerhin Platz 10) bislang verpaßt hat - ab ins Kino, "Harry Potter" gucken.
"Des Sommers letzte Rosen". Die 100 beliebtesten deutschen Gedichte. Herausgegeben von Dirk Ippen. Verlag C. H. Beck, München 2001. 187 S., geb., 20,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Thomas Kling, der selbst gerade die Gedicht-Anthologie "Sprachspeicher" herausgegeben hat, hat sich diese Anthologie mit den100 beliebtesten deutschen Gedichte angesehen. Wie wurde das ausgezählt? fragt er zunächst. Die Antwort verblüfft: Herausgeber Ippen habe die 50 beliebtesten Anthologien sozusagen statistisch ausgewertet. Aber schon Klings Bewertung des Buchtitels als "etwas streng bis wehmutsvoll-altfränkisch riechend" lässt ahnen, dass die Begegnung des Rezensenten mit der Sammlung nicht ganz konfliktfrei verlaufen ist. "Anthologie-Verwurstung" lesen wir also im nächsten Absatz. Der Herausgeber wird bloß noch als "unser Gedichtfreund" tituliert, der "Dieter-Thomas-Heck-mäßig" der lyrikliebenden Leserschaft eine "Hitparade" an die Hand geben wolle. Alles, was dem Deutschen seit Kaiser Wilhelm ins Redensartliche geraten sei, werde noch einmal hervorgekramt. Das "duftende Balladenbuch" geibele und miegele sich durch die Charts des 18. &. 19. Jahrhundert. Das jüngste Gedicht stamme von Paul Celan und sei vor fünfzig Jahren erschienen. Walther von der Vogelweide fehle, Dach, Gerhard und Fleming seien nicht in originaler Schreibweise wiedergegeben, was unser Dichter "unseriös" findet. Adelbert von Chamisso sei zum Adalbert mutiert. Eine heillose Lyriksammlung urteilt ein Rezensent, der hier mit Kanonen auf Spatzen schießt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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