Erst in der Fremde können wir wirklich zu uns finden, heißt es. "Des Tauchers leere Kleider" erzählt die abenteuerliche Geschichte einer Frau, der nichts mehr geblieben ist, außer ihr Wille zu überleben. Einer Frau, die nach Casablance reist, um sich schließlich nicht für die Vergangenheit, auch nicht für die Gegenwart, aber mit aller Entschiedenheit für die Zukunft entscheidet. Eine Amerikanerin reist überstürzt nach Casablanca. Der Grund für ihre Reise ist unklar. Kaum in ihrem Hotel angekommen, wird sie ausgeraubt. Die Polizei und die Hoteldirektion versuchen scheinbar, den Dieb zu fassen, haben sich aber eigentlich gegen die Amerikanerin verschworen. Auf der Polizeiwache wird ihr der Rucksack einer fremden Frau ausgehändigt, deren Identität sie annimmt. Vorübergehend, wie sie denkt, bis sich alles aufgeklärt hat. Doch einmal von der Last des eigenen Ich befreit, beginnt sie, Freude daran zu empfinden, sich von der Frau, die sie einmal war, immer mehr zu entfremden. Bis sie eine berühmte Hollywood-Schauspielerin kennen lernt und einen Schritt zu weit geht."Des Tauchers leere Kleider" erzählt das Abenteuer einer Frau, die allen Grund zur Flucht hat - einer Frau, die sich in eine fremde Landschaft begibt, um zu vergessen, und dabei zum ersten Mal zu sich selbst findet. Mit Anklängen von Alfred Hitchcock und Patricia Highsmith.»Teils glamouröser Reisebericht, teils schwelende Mystery: diese vielschichtige Geschichte eines Ausbruchs ist zugleich formal einfallsreich wie auch auf herzzerreißende Weise vertraut. (Sie ist auch unfassbar lustig.)« Lena Dunham»Meisterhaft ... Ich war so eingenommen von der Trauer, der klebrig-sandigen Details, dass ich gar nicht merkte, wie tief ich bereits drinnen steckte. Die letzte Seite las ich mit einem tränenreichen Seufzer.« Miranda July»Vendela Vidas neuer Roman ist voller Überraschungen, schlicht und üppig zugleich und vor allem wunderschön geschrieben.« George Saunders»Sie werden diesen Roman nicht beiseite legen können. Und dann werden Sie dasselbe seltsame verschmitze Lächen im Gesicht haben wie ich.« Rachel Kushner
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2016Spring jetzt!
Eine Amerikanerin in Casablanca. Ein Luxushotel. Ein gestohlener Pass. Und die Chance, neu anzufangen, immer wieder: Vendela Vida und ihr kluger, witziger Roman "Des Tauchers leere Kleider"
Vor einigen Jahren lief im Kino ein Film von Sam Mendes, dem Regisseur von "Jarhead" und "American Beauty" und natürlich auch der letzten "James Bond"-Filme. "Away We Go", so hieß dieser Film, war im Grunde ein Roadmovie, in dem ein Paar Anfang dreißig vor der Geburt ihres ersten Kindes von Colorado aus aufbrach und alle möglichen alten Freunde abklapperte, in Phoenix, Tucson, Montreal und Miami, um einen neuen Ort zum Leben zu finden, einen, an dem es sich lohnt, zu bleiben. Das Drehbuch, das sehr lustig war, poetisch und ziemlich verrückt, hatte der amerikanische Schriftsteller Dave Eggers zusammen mit seiner Frau geschrieben: Vendela Vida.
Wer sich in einer Buchhandlung in Amerika schon mal die Zeitschrift "The Believer" gekauft hatte, kannte diesen Namen. Denn Vendela Vida gehört neben Heidi Julavits und Ed Park zu den Herausgebern des Magazins, das sie mit Eggers gegründet hatten, als es damit anfing, dass in Zeitungen und Zeitschriften immer weniger Platz war für literarische Themen. Wo die anderen immer mehr Zeilen sparten, wurde der "Believer" immer ausführlicher und länger, druckte große Essays und Interviews: Zadie Smith sprach mit Ian McEwan, Jonathan Lethem mit Paul Auster, Vida selbst mit Joan Didion. So etwas gab und gibt es so nicht noch mal. Dreizehn Jahre machen sie den "Believer" jetzt schon, dem letzten Editorial konnte man entnehmen, wie sehr sie dabei auf die Abo-Hilfe der Leser angewiesen sind.
Daneben schrieb Vida Romane, die auch ins Deutsche übersetzt wurden. Richtig bekannt wurde sie hier nicht damit, was einen aber auch nicht wundert, wenn man sich diese Bücher ansieht: Auf den Umschlägen sieht man orientalische Glaslampen, in Dunkelrot getauchte Winterbäume, eine Frau im Schnee. Aus dem sehr schönen englischen Titel "Let the Northern Lights Erase Your Name" (das Buch spielt in Lappland) hat man im Deutschen lieber "Weil ich zu spät kam" gemacht, wahrscheinlich, weil das frauenmäßiger klingt, gut zu den frauenmäßigen Umschlägen passt und sich das, weil es so frauenmäßig ist, besser verkauft. Dachte man. Hat es aber nicht (bitte mal merken, liebe Verleger!), einmal abgesehen davon, dass Vidas erste Romane von Wut und Gewalt handeln, sich also nicht gerade im warm-romantischen Schein roter Dekolampen abspielen.
Jetzt ist aber alles anders. Jetzt erscheint nach einem Verlagswechsel zu Aufbau der in England und Amerika gefeierte neue Roman von Vendela Vida, "The Diver's Clothes Lie Empty", auf Deutsch: "Des Tauchers leere Kleider". Er kommt daher mit einer modernen Illustration und Typographie auf dem Cover. Der Titel ist ein Zitat aus einem Gedicht von Rumi, einem bedeutenden persischen Dichter des Mittelalters. Im Roman kommt das Gedicht ganz vor. Die Protagonistin nimmt ein Buch aus einem Regal und liest es sich durch, womit ungefähr klar ist, wo wir uns befinden: nämlich im arabischen Raum, genauer gesagt in Casablanca, Marokko - allerdings an einem Ort in Casablanca, das ist für den Roman nicht ganz unwichtig, an dem englische Übersetzungen persischer Gedichte im Regal stehen.
Als ihr Buch im vergangenen Jahr in Amerika erschienen ist, hat die Autorin erzählt, inwiefern die Ausgangssituation - allerdings eben nur die - auf etwas zurückgeht, was sie tatsächlich erlebt hat. Sie sei vor einigen Jahren zusammen mit Dave Eggers nach Casablanca gereist, wo es, als sie im Hotel einchecken wollten, Verwirrungen wegen ihres Zimmers gab. Es dauerte ewig, bis endlich alles geklärt war, sie griff nach ihrer Tasche, die sie vor sich auf den Boden gestellt hatte, aber die war weg. Sie bemerkte eine Überwachungskamera und fragte, ob sie nicht bitte sehen könnten, was diese aufgezeichnet hätte, eigentlich müsste dort ja zu sehen sein, was mit der plötzlich für niemanden auffindbaren Tasche passiert sei. Man brachte sie in einen kleinen Raum, wo man ihnen den Film vorführte: "Wie Vendela Vida und Dave Eggers die Tasche geklaut wird."
Sie könne natürlich niemandem ernsthaft empfehlen, sich die Tasche stehlen zu lassen, sagte Vida, aber wenn einem die Tasche gestohlen werde, könne sie empfehlen, sich das Ganze aus der Perspektive einer Überwachungskamera anzuschauen: "Zum einen sieht man in Schwarzweiß einfach besser aus. Zum anderen wird man sich auf diese Weise bewusst, wie die Welt um einen herum agiert, ohne dass man es auch nur im geringsten wahrnimmt."
Für ihren Romananfang hat sie als Allererstes den Ehemann entfernt: Die junge Frau, die hier die Heldin ist, kommt aus Florida, ist dreiunddreißig und reist allein, weil sie sich gerade von ihrem Freund getrennt hat. Oder umgekehrt. Man weiß das zu Beginn nicht so genau. Sie kommt also ins Hotel, wo ihr Rucksack auf die Vida-Eggers-Weise geklaut und die Polizei verständigt wird, ausgerechnet der Polizeichef persönlich beschließt, sich der Sache anzunehmen. Sie lügt ihn an, sie schreibe für die "New York Times" einen Artikel über Casablanca, da käme ein Diebstahl vielleicht nicht besonders gut. Der Polizeichef hat die Wörter "New York Times" noch nie gehört, also keinen Schimmer, was das sein könnte, macht sich aber kundig und übergibt ihr nach überraschend kurzer Zeit feierlich den vermissten schwarzen Rucksack mit Pass, Kreditkarte und einem Tagebuch darin. Es ist nicht ihrer, das müsste auch er bemerkt haben, besteht aber darauf, die Angelegenheit hiermit geregelt zu haben, erledigt alles mit einem blutroten Stempel. So steht die gerade in Casablanca Angekommene mit einer neuen Identität da, die ihr selbst ein Rätsel ist - und es kann losgehen.
Auf den ersten Blick erinnert das natürlich an eine Geschichte, die man irgendwie schon kennt. Eine Frau in einer exotischen Welt, die auf der Suche nach ihrem Ich ist - das klingt nach dem "Indischen Nachtstück" von Antonio Tabucchi oder dem "Himmel über der Wüste" von Paul Bowles, wo die Figuren immer unerbittlicher mit den Abgründen ihrer eigenen Seele konfrontiert werden, je tiefer sie ins labyrinthische Bombay oder in die Wüste vordringen. Aber Vendela Vida kopiert kein altes Motiv. Ihr kommt es nicht in den Sinn, mit der romantischen Unübersichtlichkeit der Medina von Casablanca zu spielen. Sie führt ihre beklaute Touristin auch nicht nach Sidi Moumen ins Elendsviertel. Vielmehr lässt sie ihren Roman in den großen internationalen Hotels spielen, den Konferenzräumen, Lounges und Restaurants, an all den Einheitsorten, die die globalisierte Welt hervorgebracht hat. Sie kehrt das Motiv also ironisch gewissermaßen um: Nichts ist in Casablanca unexotischer, übersichtlicher und weniger fremdartig als die Lobby des "Regency". Trotzdem kann man in ihr maximal verwirrt sein.
Und sie macht noch etwas, womit sie einem von der ersten Zeile an auf eine eigentlich viel zu aufdringliche Weise nahekommt: Sie sagt "du". Sie schreibt in der zweiten Person. Sie zieht das bis zum Ende durch. Sie schreibt: "Als du deinen Platz findest, wirfst du einen Blick auf den Geschäftsmann neben dir und beschließt, dass er beinahe gutaussehend ist. Dies ist die zweite Etappe deiner Reise von Miami nach Casablanca, und die bereits zurückliegende Entfernung hat den Horror der letzten zwei Monate abgedämpft."
Es ist das Selbstgespräch der Protagonistin und zugleich das immer mitschwingende Moment der Ansprache. Jeder Satz des Romans suggeriert: Du bist gemeint. Im ersten Augenblick erzeugt das Abwehr, man vermutet einen Trick. So schnell und ohne weiteres will man nicht vereinnahmt werden, will sich nicht gleich hergeben, zumal man auch noch gar nicht weiß, für was. Dann fällt einem auch noch ein, dass ausnahmslos alle angesagten Ladys der amerikanischen Literaturszene, nämlich Lena Dunham, Miranda July, Sheila Heti und Rachel Kushner, diesen Roman über die Maßen gelobt haben, was einem mit einem Mal verdächtig erscheint, ganz so, als hätten sie sich alle über den Tisch ziehen lassen.
Aber das haben sie nicht. Denn Vendela Vida schafft es, in provozierend kurzen "Du"-Sätzen immer da, wo man vermutet, genau zu wissen, wie es weitergeht, völlig überraschend mit etwas ganz anderem um die Ecke zu kommen. Das ist klug und witzig und macht Spaß. Mit dem Pass im Rucksack, den ihr der Polizeichef übergeben hat, und der dazugehörigen Kreditkarte, die sich als nicht gesperrt herausstellt, checkt sie unter falschem Namen in dem Luxushotel ein, dem "Regency" also, fühlt sich von Leuten mit Geheimdienstanmutung beobachtet, die in Wirklichkeit zum Hollywood-Filmset vor dem Hotel gehören, und lässt sich als Double für einen amerikanischen Filmstar engagieren. Wenn sie nach ihrem Namen gefragt wird, variiert sie, nennt immer neue. Bis an einer Stelle sie den Namen ihrer gerade geborenen Nichte verwendet, der Tochter ihrer Zwillingsschwester, einem Baby, und man begreift, dass man hier erst ins Drama einzutauchen beginnt, um das es wirklich geht.
Von diesem Moment an zielt Vendela Vida in ihrer Erzählung auf etwas ab, was existentiell ist und brutal und auf das man nicht vorbereitet ist. Vidas Heldin ist seit ihrem achten Lebensjahr Leistungsschwimmerin und Turmspringerin. Jeder Sprung in die Tiefe bedeutet für sie Befreiung. Und im Grunde folgt auch die Erzählung, die sich mit ihren lapidaren kurzen ranschmeißerischen und oft witzigen Sätzen die ganze Zeit an einer Oberfläche befindet, einer solchen Eintauchbewegung, einem Sprung in die Tiefe. Dass Vidas Heldin nach dem Dichter Rumi greift, als sie als Double am marokkanischen Hollywood-Filmset von der Requisite aufgefordert wird, für Probeaufnahmen aus dem Regal irgendein Buch zu nehmen, das ihr zusagt: das ist deshalb natürlich auch kein Zufall. Sie blättert, findet das Gedicht, "Des Tauchers leere Kleider", ein Titel, der sie anspricht. Sie liest es sich viermal hintereinander durch.
"Im Meer sind viele helle Strähnen / und viele dunkle Strähnen wie Adern, die sichtbar werden, / wenn ein Flügel sich hebt", heißt es in Rumis Gedicht. "Dein verborgenes Ich ist das Blut darin, in diesen Adern, / diesen Saiten einer Laute mit dem Meeresgesang, / nicht das traurige Gestade, nein: der Ton des Uferlosen." Vom "du" der Oberfläche bis hierhin ist es ein weiter Weg. Vendela Vida aber weiß, was sie tut.
Und so ist dieser Roman, selbst für diejenigen, die sich noch nie auf den Zehn-Meter-Turm hochgewagt haben, wie der Sprung von einem sehr hohen Brett, von dem aus die Welt ziemlich hell und schillernd aussieht, ins Wasser hinein, wo man in der Tiefe einer Wahrheit sehr nahe kommen und sich zugleich von ihrer Brutalität befreien kann. Auch du.
JULIA ENCKE
Vendela Vida: "Des Tauchers leere Kleider". Roman. Übersetzt von Monika Baark. Aufbau, 252 Seiten, 19,95 Euro. Die Autorin ist im März auf Lesereise in Deutschland.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Amerikanerin in Casablanca. Ein Luxushotel. Ein gestohlener Pass. Und die Chance, neu anzufangen, immer wieder: Vendela Vida und ihr kluger, witziger Roman "Des Tauchers leere Kleider"
Vor einigen Jahren lief im Kino ein Film von Sam Mendes, dem Regisseur von "Jarhead" und "American Beauty" und natürlich auch der letzten "James Bond"-Filme. "Away We Go", so hieß dieser Film, war im Grunde ein Roadmovie, in dem ein Paar Anfang dreißig vor der Geburt ihres ersten Kindes von Colorado aus aufbrach und alle möglichen alten Freunde abklapperte, in Phoenix, Tucson, Montreal und Miami, um einen neuen Ort zum Leben zu finden, einen, an dem es sich lohnt, zu bleiben. Das Drehbuch, das sehr lustig war, poetisch und ziemlich verrückt, hatte der amerikanische Schriftsteller Dave Eggers zusammen mit seiner Frau geschrieben: Vendela Vida.
Wer sich in einer Buchhandlung in Amerika schon mal die Zeitschrift "The Believer" gekauft hatte, kannte diesen Namen. Denn Vendela Vida gehört neben Heidi Julavits und Ed Park zu den Herausgebern des Magazins, das sie mit Eggers gegründet hatten, als es damit anfing, dass in Zeitungen und Zeitschriften immer weniger Platz war für literarische Themen. Wo die anderen immer mehr Zeilen sparten, wurde der "Believer" immer ausführlicher und länger, druckte große Essays und Interviews: Zadie Smith sprach mit Ian McEwan, Jonathan Lethem mit Paul Auster, Vida selbst mit Joan Didion. So etwas gab und gibt es so nicht noch mal. Dreizehn Jahre machen sie den "Believer" jetzt schon, dem letzten Editorial konnte man entnehmen, wie sehr sie dabei auf die Abo-Hilfe der Leser angewiesen sind.
Daneben schrieb Vida Romane, die auch ins Deutsche übersetzt wurden. Richtig bekannt wurde sie hier nicht damit, was einen aber auch nicht wundert, wenn man sich diese Bücher ansieht: Auf den Umschlägen sieht man orientalische Glaslampen, in Dunkelrot getauchte Winterbäume, eine Frau im Schnee. Aus dem sehr schönen englischen Titel "Let the Northern Lights Erase Your Name" (das Buch spielt in Lappland) hat man im Deutschen lieber "Weil ich zu spät kam" gemacht, wahrscheinlich, weil das frauenmäßiger klingt, gut zu den frauenmäßigen Umschlägen passt und sich das, weil es so frauenmäßig ist, besser verkauft. Dachte man. Hat es aber nicht (bitte mal merken, liebe Verleger!), einmal abgesehen davon, dass Vidas erste Romane von Wut und Gewalt handeln, sich also nicht gerade im warm-romantischen Schein roter Dekolampen abspielen.
Jetzt ist aber alles anders. Jetzt erscheint nach einem Verlagswechsel zu Aufbau der in England und Amerika gefeierte neue Roman von Vendela Vida, "The Diver's Clothes Lie Empty", auf Deutsch: "Des Tauchers leere Kleider". Er kommt daher mit einer modernen Illustration und Typographie auf dem Cover. Der Titel ist ein Zitat aus einem Gedicht von Rumi, einem bedeutenden persischen Dichter des Mittelalters. Im Roman kommt das Gedicht ganz vor. Die Protagonistin nimmt ein Buch aus einem Regal und liest es sich durch, womit ungefähr klar ist, wo wir uns befinden: nämlich im arabischen Raum, genauer gesagt in Casablanca, Marokko - allerdings an einem Ort in Casablanca, das ist für den Roman nicht ganz unwichtig, an dem englische Übersetzungen persischer Gedichte im Regal stehen.
Als ihr Buch im vergangenen Jahr in Amerika erschienen ist, hat die Autorin erzählt, inwiefern die Ausgangssituation - allerdings eben nur die - auf etwas zurückgeht, was sie tatsächlich erlebt hat. Sie sei vor einigen Jahren zusammen mit Dave Eggers nach Casablanca gereist, wo es, als sie im Hotel einchecken wollten, Verwirrungen wegen ihres Zimmers gab. Es dauerte ewig, bis endlich alles geklärt war, sie griff nach ihrer Tasche, die sie vor sich auf den Boden gestellt hatte, aber die war weg. Sie bemerkte eine Überwachungskamera und fragte, ob sie nicht bitte sehen könnten, was diese aufgezeichnet hätte, eigentlich müsste dort ja zu sehen sein, was mit der plötzlich für niemanden auffindbaren Tasche passiert sei. Man brachte sie in einen kleinen Raum, wo man ihnen den Film vorführte: "Wie Vendela Vida und Dave Eggers die Tasche geklaut wird."
Sie könne natürlich niemandem ernsthaft empfehlen, sich die Tasche stehlen zu lassen, sagte Vida, aber wenn einem die Tasche gestohlen werde, könne sie empfehlen, sich das Ganze aus der Perspektive einer Überwachungskamera anzuschauen: "Zum einen sieht man in Schwarzweiß einfach besser aus. Zum anderen wird man sich auf diese Weise bewusst, wie die Welt um einen herum agiert, ohne dass man es auch nur im geringsten wahrnimmt."
Für ihren Romananfang hat sie als Allererstes den Ehemann entfernt: Die junge Frau, die hier die Heldin ist, kommt aus Florida, ist dreiunddreißig und reist allein, weil sie sich gerade von ihrem Freund getrennt hat. Oder umgekehrt. Man weiß das zu Beginn nicht so genau. Sie kommt also ins Hotel, wo ihr Rucksack auf die Vida-Eggers-Weise geklaut und die Polizei verständigt wird, ausgerechnet der Polizeichef persönlich beschließt, sich der Sache anzunehmen. Sie lügt ihn an, sie schreibe für die "New York Times" einen Artikel über Casablanca, da käme ein Diebstahl vielleicht nicht besonders gut. Der Polizeichef hat die Wörter "New York Times" noch nie gehört, also keinen Schimmer, was das sein könnte, macht sich aber kundig und übergibt ihr nach überraschend kurzer Zeit feierlich den vermissten schwarzen Rucksack mit Pass, Kreditkarte und einem Tagebuch darin. Es ist nicht ihrer, das müsste auch er bemerkt haben, besteht aber darauf, die Angelegenheit hiermit geregelt zu haben, erledigt alles mit einem blutroten Stempel. So steht die gerade in Casablanca Angekommene mit einer neuen Identität da, die ihr selbst ein Rätsel ist - und es kann losgehen.
Auf den ersten Blick erinnert das natürlich an eine Geschichte, die man irgendwie schon kennt. Eine Frau in einer exotischen Welt, die auf der Suche nach ihrem Ich ist - das klingt nach dem "Indischen Nachtstück" von Antonio Tabucchi oder dem "Himmel über der Wüste" von Paul Bowles, wo die Figuren immer unerbittlicher mit den Abgründen ihrer eigenen Seele konfrontiert werden, je tiefer sie ins labyrinthische Bombay oder in die Wüste vordringen. Aber Vendela Vida kopiert kein altes Motiv. Ihr kommt es nicht in den Sinn, mit der romantischen Unübersichtlichkeit der Medina von Casablanca zu spielen. Sie führt ihre beklaute Touristin auch nicht nach Sidi Moumen ins Elendsviertel. Vielmehr lässt sie ihren Roman in den großen internationalen Hotels spielen, den Konferenzräumen, Lounges und Restaurants, an all den Einheitsorten, die die globalisierte Welt hervorgebracht hat. Sie kehrt das Motiv also ironisch gewissermaßen um: Nichts ist in Casablanca unexotischer, übersichtlicher und weniger fremdartig als die Lobby des "Regency". Trotzdem kann man in ihr maximal verwirrt sein.
Und sie macht noch etwas, womit sie einem von der ersten Zeile an auf eine eigentlich viel zu aufdringliche Weise nahekommt: Sie sagt "du". Sie schreibt in der zweiten Person. Sie zieht das bis zum Ende durch. Sie schreibt: "Als du deinen Platz findest, wirfst du einen Blick auf den Geschäftsmann neben dir und beschließt, dass er beinahe gutaussehend ist. Dies ist die zweite Etappe deiner Reise von Miami nach Casablanca, und die bereits zurückliegende Entfernung hat den Horror der letzten zwei Monate abgedämpft."
Es ist das Selbstgespräch der Protagonistin und zugleich das immer mitschwingende Moment der Ansprache. Jeder Satz des Romans suggeriert: Du bist gemeint. Im ersten Augenblick erzeugt das Abwehr, man vermutet einen Trick. So schnell und ohne weiteres will man nicht vereinnahmt werden, will sich nicht gleich hergeben, zumal man auch noch gar nicht weiß, für was. Dann fällt einem auch noch ein, dass ausnahmslos alle angesagten Ladys der amerikanischen Literaturszene, nämlich Lena Dunham, Miranda July, Sheila Heti und Rachel Kushner, diesen Roman über die Maßen gelobt haben, was einem mit einem Mal verdächtig erscheint, ganz so, als hätten sie sich alle über den Tisch ziehen lassen.
Aber das haben sie nicht. Denn Vendela Vida schafft es, in provozierend kurzen "Du"-Sätzen immer da, wo man vermutet, genau zu wissen, wie es weitergeht, völlig überraschend mit etwas ganz anderem um die Ecke zu kommen. Das ist klug und witzig und macht Spaß. Mit dem Pass im Rucksack, den ihr der Polizeichef übergeben hat, und der dazugehörigen Kreditkarte, die sich als nicht gesperrt herausstellt, checkt sie unter falschem Namen in dem Luxushotel ein, dem "Regency" also, fühlt sich von Leuten mit Geheimdienstanmutung beobachtet, die in Wirklichkeit zum Hollywood-Filmset vor dem Hotel gehören, und lässt sich als Double für einen amerikanischen Filmstar engagieren. Wenn sie nach ihrem Namen gefragt wird, variiert sie, nennt immer neue. Bis an einer Stelle sie den Namen ihrer gerade geborenen Nichte verwendet, der Tochter ihrer Zwillingsschwester, einem Baby, und man begreift, dass man hier erst ins Drama einzutauchen beginnt, um das es wirklich geht.
Von diesem Moment an zielt Vendela Vida in ihrer Erzählung auf etwas ab, was existentiell ist und brutal und auf das man nicht vorbereitet ist. Vidas Heldin ist seit ihrem achten Lebensjahr Leistungsschwimmerin und Turmspringerin. Jeder Sprung in die Tiefe bedeutet für sie Befreiung. Und im Grunde folgt auch die Erzählung, die sich mit ihren lapidaren kurzen ranschmeißerischen und oft witzigen Sätzen die ganze Zeit an einer Oberfläche befindet, einer solchen Eintauchbewegung, einem Sprung in die Tiefe. Dass Vidas Heldin nach dem Dichter Rumi greift, als sie als Double am marokkanischen Hollywood-Filmset von der Requisite aufgefordert wird, für Probeaufnahmen aus dem Regal irgendein Buch zu nehmen, das ihr zusagt: das ist deshalb natürlich auch kein Zufall. Sie blättert, findet das Gedicht, "Des Tauchers leere Kleider", ein Titel, der sie anspricht. Sie liest es sich viermal hintereinander durch.
"Im Meer sind viele helle Strähnen / und viele dunkle Strähnen wie Adern, die sichtbar werden, / wenn ein Flügel sich hebt", heißt es in Rumis Gedicht. "Dein verborgenes Ich ist das Blut darin, in diesen Adern, / diesen Saiten einer Laute mit dem Meeresgesang, / nicht das traurige Gestade, nein: der Ton des Uferlosen." Vom "du" der Oberfläche bis hierhin ist es ein weiter Weg. Vendela Vida aber weiß, was sie tut.
Und so ist dieser Roman, selbst für diejenigen, die sich noch nie auf den Zehn-Meter-Turm hochgewagt haben, wie der Sprung von einem sehr hohen Brett, von dem aus die Welt ziemlich hell und schillernd aussieht, ins Wasser hinein, wo man in der Tiefe einer Wahrheit sehr nahe kommen und sich zugleich von ihrer Brutalität befreien kann. Auch du.
JULIA ENCKE
Vendela Vida: "Des Tauchers leere Kleider". Roman. Übersetzt von Monika Baark. Aufbau, 252 Seiten, 19,95 Euro. Die Autorin ist im März auf Lesereise in Deutschland.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Zu Unrecht steht Vendela Vida hierzulande im Schatten ihres Ehemannes Dave Eggers, findet Rezensent Ronald Düker, der hofft, dass Vidas Roman "Des Tauchers leere Kleider" dies ändert. Es ist eine ziemlich verwickelte Geschichte, die die Protagonistin einem schizophren anmutenden Selbstgespräch rekapituliert, so der Rezensent: Ein gestohlener Rucksack kommt vor, eine Verwechslung, ein vergangenes Unglück. Es ist eine "neoromantische Gespenstergeschichte", fasst der Rezensent zusammen, der sich offensichtlich aufs Beste gegruselt hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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» Eine tragische und mitreißende Geschichte [...]. « Neues Deutschland 20161027