Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 4,00 €
Produktdetails
  • Verlag: Junius Verlag
  • 1995.
  • Abmessung: 13, 5 x 21 cm
  • Gewicht: 300g
  • ISBN-13: 9783885062479
  • ISBN-10: 388506247X
  • Artikelnr.: 08346063
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.09.1995

Vernunft ist nicht Rationalität
Ernest Gellners anregender und vergeblicher Versuch, ein Max Weber der Philosophie zu sein

Der Sozialanthropologe Ernest Gellner hat ein Gutachten zur Lage der Vernunft vorgelegt. "Descartes & Co.", wie seine 1992 in England erschienene Studie in der deutschen Übersetzung heißt, untersucht die Firmengeschichte und die Betriebsstruktur des Unternehmens Rationalität, seine gegenwärtige Ertragslage und seine Marktchancen in der Zukunft. Die Sache wird freilich dadurch kompliziert, daß Gellner selbst bei Descartes & Co. beschäftigt ist. Nur ein Rationalist kann auf die Idee kommen, Nutzen und Nachteil des Rationalismus rational zu kalkulieren. Er muß versucht sein, die Bilanzen der eigenen Firma zu frisieren.

Als Muster an Standhaftigkeit im Angesicht dieser Versuchung gilt Max Weber. Er ist auch Gellners großes Vorbild. Weber hat den beispiellosen Erfolg der neuzeitlichen Wissenschaft und Wirtschaft ebenso dargestellt wie ihre höchst unselbstverständliche, wenn nicht obskure Herkunft aus der Prädestinationslehre des Calvinismus. Die Vernunft ist, auch wenn sie allgemeingültige Ergebnisse erzielt, das spontane Produkt einer spezifischen Kultur. Sie verfährt rational, aber sie kann sich nicht rational legitimieren.

Das ist allerdings nur die Perspektive des Gutachters. Der Rationalismus selbst ist von Hause aus durchaus nicht geneigt, sich als eine unter mehreren Kulturen zu verstehen. Gellner zeigt, daß der heutige Streit zwischen den Verfechtern der universalistischen Vernunft und den Anwälten eines kulturellen Pluralismus sich bis zu Descartes zurückverfolgen läßt. Wenn Descartes die Erkenntnis allein auf die Selbsterkenntnis des Erkennenden gründen und über diesem Fundament mit klaren und deutlichen Begriffen ein nagelneues Wissensgebäude errichten will, so lehnt er "Gewohnheit und Beispiel", wir würden sagen: kulturelle Konventionen, als Maßstab der Erkenntnis ab. Er will, als philosophischer Vorkämpfer des bürgerlichen Zeitalters, ein Selfmademan sein und niemandem etwas verdanken.

Dieser Anspruch auf historische und gesellschaftliche Voraussetzungslosigkeit war nicht zu halten. Emile Durkheim hat die Ordnung der Begriffe im allgemeinen aus der Sozialisation durch das religiöse Ritual hergeleitet, Max Weber hat den Rationalismus im besonderen als Folge der protestantischen Ethik erklärt. Trotzdem nimmt nach Gellner die cartesianische Vernunft, die streng methodisch verfährt und weder Gegenständen noch Subjekten der Erkenntnis irgendwelche Privilegien zugesteht, eine geschichtliche Sonderstellung ein. Sie erhebt den Absolutheitsanspruch einer eifersüchtigen Gottheit - und setzt ihn, während alle anderen Götter gestürzt sind, auch durch. "Die Wissenschaft", bemerkt Gellner, "hat die Welt erobert, ohne viel Widerstand zu finden, im Grunde, ohne auf einen wirklichen Widerstand zu stoßen." So hat sie selbst mit ihrem Siegeslauf, den Durkheim und Weber noch gar nicht überblicken konnten, ein pragmatisches Argument für ihre absolute Geltung bereitgestellt. Dieses Argument tritt an die Stelle der uneinlösbaren Rechtfertigungsversprechen à la Descartes.

Gellner richtet es gegen die alten Gegner der Vernunft wie den Autoritätsglauben, der in einer Welt rivalisierender Autoritätsansprüche letztlich doch nicht umhinkann, sich bei der Entscheidung zwischen den konkurrierenden Prätendenten an rationalen Kriterien zu orientieren. Aber auch die neuen, modernen Gegner der universalen Vernunft, die wie Schopenhauer, Nietzsche und Freud den Geist von dunklen Kräften gelenkt sehen, wie der späte Wittgenstein das logische Denken lediglich für eine unter vielen gleichberechtigten Lebensformen halten oder wie Thomas Kuhn den systematischen Fortschritt der Wissenschaft leugnen - sie alle zeigen nach Gellner ein faktisches und methodisches Zutrauen zur Rationalität, das ihren theoretischen Irrationalismus Lügen straft.

Gellner behauptet nicht, daß die Rationalisierung in der Moderne total sei. Die Produktion ist heute im Zeichen der Staatseingriffe und der sozialen Rücksichten rein ökonomisch weniger zweckmäßig organisiert als Max Webers Kapitalismus, und aus der Politik hat sich das Charismatische als schärfster Gegensatz zum Rationalen nie verloren. In der kognitiven Sphäre aber herrscht die Rationalität unbestritten. Und mittels Wissenschaft und Technologie hält sie von da aus die Schlüsselpositionen der modernen Welt besetzt.

Trotzdem überschätzt Gellner in seinem mit imponierender intellektueller und essayistischer Geläufigkeit verfertigten Gutachten die Wettbewerbsfähigkeit von Descartes & Co. Ludwig Wittgensteins Relativismus etwa ist durch den Hinweis auf die Leistungen der Wissenschaft nicht zu widerlegen. Wittgenstein würde sie gar nicht leugnen. Er könnte trotzdem darauf bestehen, daß weniger überlebenstüchtige Weltanschauungen nicht schlechter begründet seien. Denn Gellner hat ja selbst zugegeben, daß Erfolg und Legitimation im Falle der Rationalität auseinanderklaffen. Philosophie aber läßt sich vom Erfolg gerade nicht beeindrucken, sondern fragt nach der Legitimation. Im Unterschied zu den klassischen Gegnern des Rationalismus, die wie die Kirche mit den Aufklärern um die Macht rangen, sind die philosophischen Irrationalisten des 19. und des 20. Jahrhunderts an Machtfragen gar nicht interessiert. Daß der Rationalismus in der Praxis triumphiert, muß sie nicht kümmern. Im Felde der Theorie bleiben sie unbesiegt. Dort hat auch Gellner ihnen nichts entgegenzusetzen.

Philosophisch ist Ernest Gellners Argumentation deshalb so unbefriedigend, weil sie die philosophische Bedeutung des Übergangs zur Neuzeit viel zu hoch veranschlagt. Leser seines brillanten Buchs "Pflug, Schwert und Buch", das 1990 auf deutsch erschienen ist, wissen von der entscheidenden Rolle, die der Schritt von der Ackerbaugesellschaft zur Industriegesellschaft darin spielt. Es ist für Gellner der Schritt aus der Enge und Dunkelheit der Stagnation ans Tageslicht unserer Welt, von der wir uns nur in einem Akt des unernsten archaistischen Snobismus distanzieren können. Geistesgeschichtlich entspricht dieser Zäsur die Ablösung der Metaphysik durch die Aufklärung.

Doch während es auf den Gebieten der Naturwissenschaft, der Güterproduktion und der Wirtschaftsordnung tatsächlich eine neuzeitliche Revolution gegeben hat, kann man das von der Philosophie nicht so einfach behaupten. Sie hat durchaus keine neuartige Rationalität entwickelt, sondern setzt sich bis heute mit den Gedanken der Vorgänger von gleich zu gleich auseinander. Zwischen den Silberminen im attischen Laurion und einer Tuchfabrik in Manchester liegen Welten. Aber die zweitausend Jahre, die zwischen einem platonischen Dialog und einem Traktat von David Hume liegen, sind vor der Philosophie wie ein Tag. Wer Platon als Ideologen der Ackerbaugesellschaft und Hume als Vordenker des Industriezeitalters bezeichnet, hat philosophisch gar nichts gesagt.

Daher kann Max Webers Theorie der Neuzeit auch nicht, wie Gellner es will, von der Soziologie auf die Philosophie übertragen werden. Die philosophische Vernunft muß sich dem Triumphzug der wissenschaftlichen Rationalität nicht anschließen. Und was Newton, Watt und Partner verdienen, darf man nicht aufs Konto von Descartes & Co. buchen. JAN ROSS

Ernest Gellner: "Descartes & Co.". Von der Vernunft und ihren Feinden. Aus dem Englischen von Martin Suhr. Junius Verlag, Hamburg 1995. 226 S., kt., 36,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr