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Die in diesem Band zusammengetragenen Originalbeiträge thematisieren verschiedene Aspekte der cartesischen Metaphysik, Erkenntnistheorie und Philosophie des Geistes, die auch in philosophischen Fachkreisen immer noch klassisch missverstanden werden.

Produktbeschreibung
Die in diesem Band zusammengetragenen Originalbeiträge thematisieren verschiedene Aspekte der cartesischen Metaphysik, Erkenntnistheorie und Philosophie des Geistes, die auch in philosophischen Fachkreisen immer noch klassisch missverstanden werden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.1996

Wider die Descartes-Legende
Gordon Baker, Katherine J. Morris und Andreas Kemmerling suchen keinen schnellen Sieg über den Urvater des Rationalismus

René Descartes sei "der wahrhafte Anfänger der modernen Philosophie . . ., ein Heros, der die Sache wieder einmal ganz von vorne angefangen und den Boden der Philosophie von neuem konstituiert hat". So Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte. Einmal beiseite gesetzt, welche Rolle diese Stilisierung Descartes' zum Gründungsheros bei ihm spielte, ist es erstaunlich, wie selbstverständlich sie auch heute noch unter ganz anderen Vorzeichen in Anspruch genommen wird. Allerdings wird dabei aus dem Helden des Beginns in der Regel gleichzeitig ein veritabler Antiheld.

Das zeigt nicht zuletzt ein Blick auf die Descartes-Interpretationen innerhalb der analytisch geprägten angelsächsischen Philosophie, insbesondere auf die Auseinandersetzungen im Feld der "philosophy of mind" und die benachbarten "cognitive sciences" aller Spielarten. Da lautet die Einschätzung: Descartes habe zwar als erster entschieden die Fragen des Leib-Seele-Problems aufgeworfen, aber bei seinen Antworten habe er einfach alles verdorben, was sich nur verderben läßt. So einfach sollte man es sich aber nicht machen, wenn man daran interessiert ist, einen Philosophen zu verstehen, der vor vierhundert Jahren geboren wurde und bei dem schon deshalb nicht anzunehmen ist, daß seine Problemstellungen umstandslos mit unseren zur Deckung gebracht werden können.

Gordon Baker und Katherine J. Morris konzentrieren sich auf die Darstellung eines zentralen Elements von Descartes' Philosophie, nämlich auf sein dualistisches Bild der Person als Vereinigung zweier Substanzen: einer unkörperlichen, denkenden Seele und eines durch räumliche Ausdehnung bestimmten Körpers.

Die "Descartes-Legende", worunter die Autoren die banalisierenden Lesarten der gegenwärtigen Philosophie verstehen, diagnostiziert an diesem dualistischen Ansatz und seiner Ausarbeitung einen schlimmen Schnitzer nach dem anderen. Die Theorie der zwei Substanzen schaffe gleich beim ersten Schritt dadurch unlösbare Probleme, daß auf der einen Seite ein Reich mentaler Gegenstände stehe, zu dem einzig die "denkende Sache" selbst - also der jeweilige Eigentümer dieses Reichs - durch eine rätselhafte Form der Introspektion untrüglichen Zugang habe, während auf der anderen Seite ein Körper übrigbleibe, der im wesentlichen eine bloße Maschine sei, die auf vollkommen mysteriöse Weise doch irgendwie mit der körperlichen Seele zusammenhänge. Weil Descartes den Tieren eine unsterbliche Seele abspreche, blieben sie als bloße Automaten auf der Strecke, was offensichtlich absurd sei.

Descartes habe seinen Dualismus aber noch mit einem zusätzlichen Fehler belastet, indem er alle möglichen Bewußtseinszustände als "Denken" bezeichne und "Bewußtsein" qua "Denken" einfach mit "Selbstbewußtsein" gleichsetze. Außerdem sei die kausale Wechselwirkung zwischen körperloser Seele und Körperautomat nach Descartes' eigenen Prämissen unmöglich, während die ebenso in Anspruch genommene "occasionalistische" Abstimmung zwischen Körper und Seele durch Gottes fürsorgliche Einrichtung nicht als Erklärung gelten könne.

Baker und Morris bestreiten nicht, daß sich ein solches Bild von Descartes' Philosophie aus seinen Schriften destillieren läßt, wenn man nur entschieden genug "die ungünstigsten Auslegungen von Descartes' Worten wählt und aus ihnen die sonderbarsten Folgerungen zieht". Dagegen weisen sie nach, daß man die "inkriminierten" Stellen im Kontext von Descartes' Schriften auch ganz anders verstehen kann. Dafür, so Baker und Morris, muß man genau herausarbeiten, wie sich Descartes mit Hilfe einer tradierten Terminologie aristotelisch-scholastischer Herkunft in entscheidenden Punkten genau gegen diese Tradition wendet, wie er also seine Probleme im Clinch mit der Tradition gewinnt. Dann erst kann man die Triftigkeit seiner Gedanken einschätzen.

Macht man das so genau und kenntnisreich wie Baker und Morris, gewinnt man ein Bild von Descartes' zentralen Argumentationszügen, das denkbar deutlich von jenem der Descartes-Legende absticht. Descartes hat keineswegs die zu Recht als unhaltbar angesehene Vorstellung vertreten, mentale Zustände seien eine Art von Gegenständen, die via Introspektion so wahrgenommen würden wie die äußeren Gegenstände durch die fünf Sinne, nur ohne Täuschungsmöglichkeit. Seine Grundentscheidung besteht schlicht darin, daß nur einer der beiden Substanzen, nämlich der "res cogitans", sinnvoll mentale Prädikate zugesprochen werden können.

Ebensowenig muß man Descartes unterstellen, ohne Überlegung alle möglichen Bewußtseinszustände in die "res cogitans" hineingestopft zu haben. Viel näher liegt es, seine so klingenden Äußerungen als Strategie einer gezielten Umwertung der scholastischen Seelenlehre zu verstehen: Sie läuft darauf hinaus, möglichst viele der angestammten "vegetativen" und "sensitiven" Funktionen zum Gegenstand wissenschaftlicher, also kausal-mechanistischer Erklärungen zu machen, ohne doch die rationale Seele als Instanz des freien Willens und moralischer Verantwortlichkeit zu gefährden.

So kann auch keine Rede davon sein, daß Tiere etwa "bloße Automaten" im modernen Sinn seien: Sie sind von Gott kunstvoll eingerichtete Werke, lebendig und fühlend - nur sind sie keine moralisch verantwortlichen, freien, mit einer unsterblichen rationalen Seele ausgestatteten Wesen. Das sind nur die Menschen - und für sie gilt, daß Körper und vernünftige Seele eine essentielle Einheit bilden, die nicht kausal auseinanderzunehmen ist, sondern sich der weisen und wohlwollenden Einrichtung Gottes verdankt.

Das alles mag zwar recht eigenartig anmuten, muß es sogar, weil es quer zu unseren heutigen Vorstellungen und unseren Erwartungen an explikative Theorien steht. Einfach widerlegen läßt es sich gerade deshalb nicht. Wer das trotzdem tun will, bringt sich um die Chance, die eigenen Vorentscheidungen in historischer Kontrastbeleuchtung zu erkennen. Es geht den Autoren nicht darum, eine "weiche" Interpretation zu empfehlen, die alles versteht und verzeiht. Ihr Anliegen ist es vielmehr, Descartes' Philosophie so zu lesen, daß die Auseinandersetzung mit ihr lohnt, jenseits des beliebten Partyspiels der Widerlegungen und der ausschließlich historischen Würdigungen.

Das will auch Andreas Kemmerling in seinen Descartes-Studien verfolgen. Er läßt sich gar nicht erst auf die Descartes-Legende ein, sondern führt mit seinen Interpretationen unmittelbar vor, wie ein anregender Umgang mit Descartes' Texten aussehen kann. Er zeigt einen gerade in den Unstimmigkeiten, Widersprüchen und eigenartigen, oft keineswegs eindeutigen terminologischen Entscheidungen äußerst gewitzten und problembewußten Autor, der mit den Konsequenzen seiner programmatischen Grundentscheidungen kämpft. Nur muß man erst einmal darauf kommen, an welchen Problemen sich Descartes überhaupt abarbeitete. Daß es zum Beispiel nicht das Problem des Bewußtseins war, so wie wir es heute zu traktieren gewohnt sind, ist eine der Einsichten Kemmerlings, die sich übrigens mit dem Befund von Baker und Morris trifft.

Der Abschnitt, welcher Descartes' berühmt-berüchtigtes Zweifelsargument behandelt, figuriert auch in einem von Kemmerling und Hans-Peter Schütt herausgegebenen Band mit dem Titel "Descartes nachgedacht". Die in ihm versammelten, durchweg konzisen und erhellenden Beiträge folgen ebenso der Maxime, ein zum Klischee verkommenes Descartes-Bild zu revidieren. Rainer Specht gibt einleitend einen prägnanten Abriß von Descartes' Wissenschaftsprogramm und seinen Folgelasten, die die weiteren Beiträge dann genauer in den Blick nehmen: von der Neubeschreibung der Sinneswahrnehmungen (A. Hüttemann) über die Rolle der die Einheit von Körper und Seele akzentuierenden Rolle der Emotionen (D. Perler) bis zum Stellenwert der Neufassung des ontologischen Gottesbeweises (K. Cramer). Der Blick auf Kants Rezeption von Descartes (H.-P. Schütt) läßt schließlich an einem prominenten Beispiel faßbar werden, wie man Descartes oberflächlich mißverstehen kann.

Um wieviel raffinierter und interessanter er tatsächlich ist, als es die eingefahrenen Klischees erwarten lassen, zeigen alle drei Neuerscheinungen. Der vierhundertjährige Jubilar Descartes gewinnt durch sie entschieden an Reiz. HELMUT MAYER

Gordon Baker/Katherine J. Morris: "Descartes' Dualism". Routledge, London, New York 1996. 235 S., geb., 49,95 US-Dollar.

Andreas Kemmerling: "Ideen des Ichs". Studien zu Descartes' Philosophie. stw 1234. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 198 S., br., 18,80 DM.

Andreas Kemmerling/Hans-Peter Schütt (Hrsg.): "Descartes nachgedacht". V. Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 1996. 207 S., br., 38,- DM.

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