Produktdetails
- Verlag: Planeta Publishing
- ISBN-13: 9788483109038
- Artikelnr.: 11728965
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2002Fahr nicht!
Erste Liebe, zweites Rendezvous: Luis Sepúlvedas Erzählungen
"Die Welt ist klein", schrieb 1503 der enttäuschte Admiral des Ozeanmeers auf seiner letzten Reise aus der Neuen Welt an das spanische Königspaar. "Heute brennen selbst die Schneider darauf, Entdecker zu sein." Solch überraschende Wendungen ließen die "Lettera rarissima" des Kolumbus zu einem der berühmtesten Textzeugnisse der Geschichte werden. Weniger bekannt ist, daß dieser Brief in der Urfassung die sagenhafte "Beschreibung eines unbekannten Ortes" enthielt, der aus einer riesenhaften Bibliothek bestand. Offenbar um die Bücher vor der Eroberung durch Nadel und Zwirn zu schützen, verschwieg Kolumbus eine genauere Ortsbestimmung. Das Manuskript verschwand spurlos aus dem Nachlaß seines letzten Besitzers, des spanischen Humanisten Juan Ginés de Sepúlveda. Bis heute hält sich der Verdacht, es handele sich allein um "eine Frucht Sepúlvedascher Fabulierkunst".
Brisanz erhält diese These, wenn man auf den Namen ihres Urhebers blickt: Luis Sepúlveda. Die historische Existenz Sepúlvedas, des spanischen Renaissancedenkers ebenso wie des 1949 in Chile geborenen Erzählers, steht dabei kaum zur Diskussion. Mehr schon die des nicht mehr aufzufindenden Ortes. Um ein Nirgendwo, um ein abwesendes Zentrum zwischen Realität, Buchüberlieferung und "Sepúlvedascher Fabulierkunst" kreisen alle Geschichten des jüngsten Erzählbandes von Sepúlveda (dem in Spanien lebenden Chilenen, versteht sich). Die "Nicht-Begegnung", auf die der spanische Originaltitel "Desencuentros" verweist, das Scheitern des Findens und Zueinanderfindens führt als vereinende Spur durch all diese ungleichen Texte: ob nun der aztekische Bibliothekar Itzahuaxatin sein enzyklopädisches Wissen vor den eindringenden Spaniern durch Selbstzerstörung rettet, oder ob ein Fakir sein Leben lang vor dem Eingeständnis davonläuft, ein Scharlatan zu sein, bis er sich versehentlich auf offener Bühne mit einem verschluckten Schwert die Eingeweide durchtrennt. Ob ein ins Endlose abschweifender Anrufbeantworter auf die leibliche Invasion des Angerufenen vorbereitet, der sich bereits auf dem Weg zur Haustür des Anrufers befindet. Oder ob ein enttäuschter Liebender nach fünfzehn Jahren die verlorene Geliebte am Bahnhof als Durchreisende im Zugfenster erspähen muß: Stets ist dieses Buch eine strenge Stilübung in der Kunst der verpaßten Gelegenheit. Stockholm, Mexiko, Santiago, Hamburg oder die tiefste chilenische Provinz: kein Ort dieser kleinen Welt scheint davor zu schützen, knapp am Ziel vorbeizulaufen oder das Ziel auf immer verloren zu wissen.
Wenn sich das Szenario der verfehlten Begegnungen schließlich immer mehr auf die politischen Morde, Folterungen und Deportationen der chilenischen Militärdiktatur verengt, wird begreiflich, daß der Autor sich nicht in die larmoyante Pose einer allirdischen Vergeblichkeit oder globalisierten Heimatlosigkeit wirft. Die Suche nach dem verlorenen Ort ist für Sepúlveda, den vom Pinochet-Regime ins Exil getriebenen Weltbürger wider Willen, mehr als ein melancholisches Kokettieren. Ihren nostalgischen Schmerz eröffnet die Erfahrung der geographischen Verbannung besonders, wenn sie sich mit einer zeitlichen verbindet, dem unwiderruflichen Abschied von der Kindheit. So etwa in der schönsten dieser Erzählungen, "Ein Haus in Santiago". Sie berichtet von einem Halbwüchsigen, der das Haus seiner ersten Liebe beim zweiten Rendezvous nicht finden kann, obgleich er felsenfest von der Richtigkeit der Adresse überzeugt ist. Erst nach Jahrzehnten entdeckt er die Fassade in einer Züricher Galerie auf einem alten Foto wieder - um zu entdecken, daß der Fotograf bereits verstorben ist und mit ihm der einzige Zeuge seines verlorenen Jugendglücks.
Zuweilen allerdings gleitet Sepúlveda ins Räuberpistolenhafte und Triviale ab, etwa in dem Augenblick, da die Reisenden eines im Nebel verirrten Zuges durch das Radio von ihrem eigenen Tod bei einem tragischen Unglück erfahren und der Leser vergeblich nach einer ironischen Brechung dieser Schauerphantastik forscht. Dergleichen stilistische Inkohärenzen sind nicht ungewöhnlich für die Autoren des sogenannten "Post-Booms", denen man Sepúlveda getrost zurechnen kann. Nach dem schwindelhaften Aufschwung der lateinamerikanischen Literatur in den sechziger Jahren hat diese nachfolgende Generation einen nicht immer dankbaren Schwellenplatz zwischen dem magischen Realismus um García Márquez, der urban-intellektualisierten Phantastik Cortázars und der die Mythen wie alles Anekdotische zertrümmernden Literatur der jungen Generation eingenommen.
Die schwierige literarische Ortsbestimmung erfolgt bei Sepúlveda jedoch nicht ohne Selbstironie. Ihre Galionsfigur ist vielleicht der verkrachte Künstler, welcher in der titelgebenden Erzählung des Bandes danach forscht, "Wie man das Meer sehen kann". Die Chimäre des gesuchten Fluchtpunktes findet er unter einem goldenen Apfelweinstrahl, der aus der Flasche des Kellners ins leere Glas sprudelt. "Tritt ein durch den Torbogen des Tempels der Träume, und dort, genau dort ist das Meer", verkündet der Künstler dann betrunken seiner Frau, die ihn soeben verlassen hat. Gerade dies unentschiedene Doppelgesicht von Kitsch und Poesie, von Tragik und Banalität macht den Reiz von Sepúlvedas Erzählungen aus. Dennoch ist es in gewissem Grad das Zeugnis einer weiteren verfehlten Begegnung: der des Autors mit seiner literarischen Identität.
FLORIAN BORCHMEYER
Luis Sepúlveda: "Wie man das Meer sehen kann". Erzählungen. Aus dem Spanischen übersetzt von Willi Zurbrüggen. Hanser Verlag, München 2002. 264 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erste Liebe, zweites Rendezvous: Luis Sepúlvedas Erzählungen
"Die Welt ist klein", schrieb 1503 der enttäuschte Admiral des Ozeanmeers auf seiner letzten Reise aus der Neuen Welt an das spanische Königspaar. "Heute brennen selbst die Schneider darauf, Entdecker zu sein." Solch überraschende Wendungen ließen die "Lettera rarissima" des Kolumbus zu einem der berühmtesten Textzeugnisse der Geschichte werden. Weniger bekannt ist, daß dieser Brief in der Urfassung die sagenhafte "Beschreibung eines unbekannten Ortes" enthielt, der aus einer riesenhaften Bibliothek bestand. Offenbar um die Bücher vor der Eroberung durch Nadel und Zwirn zu schützen, verschwieg Kolumbus eine genauere Ortsbestimmung. Das Manuskript verschwand spurlos aus dem Nachlaß seines letzten Besitzers, des spanischen Humanisten Juan Ginés de Sepúlveda. Bis heute hält sich der Verdacht, es handele sich allein um "eine Frucht Sepúlvedascher Fabulierkunst".
Brisanz erhält diese These, wenn man auf den Namen ihres Urhebers blickt: Luis Sepúlveda. Die historische Existenz Sepúlvedas, des spanischen Renaissancedenkers ebenso wie des 1949 in Chile geborenen Erzählers, steht dabei kaum zur Diskussion. Mehr schon die des nicht mehr aufzufindenden Ortes. Um ein Nirgendwo, um ein abwesendes Zentrum zwischen Realität, Buchüberlieferung und "Sepúlvedascher Fabulierkunst" kreisen alle Geschichten des jüngsten Erzählbandes von Sepúlveda (dem in Spanien lebenden Chilenen, versteht sich). Die "Nicht-Begegnung", auf die der spanische Originaltitel "Desencuentros" verweist, das Scheitern des Findens und Zueinanderfindens führt als vereinende Spur durch all diese ungleichen Texte: ob nun der aztekische Bibliothekar Itzahuaxatin sein enzyklopädisches Wissen vor den eindringenden Spaniern durch Selbstzerstörung rettet, oder ob ein Fakir sein Leben lang vor dem Eingeständnis davonläuft, ein Scharlatan zu sein, bis er sich versehentlich auf offener Bühne mit einem verschluckten Schwert die Eingeweide durchtrennt. Ob ein ins Endlose abschweifender Anrufbeantworter auf die leibliche Invasion des Angerufenen vorbereitet, der sich bereits auf dem Weg zur Haustür des Anrufers befindet. Oder ob ein enttäuschter Liebender nach fünfzehn Jahren die verlorene Geliebte am Bahnhof als Durchreisende im Zugfenster erspähen muß: Stets ist dieses Buch eine strenge Stilübung in der Kunst der verpaßten Gelegenheit. Stockholm, Mexiko, Santiago, Hamburg oder die tiefste chilenische Provinz: kein Ort dieser kleinen Welt scheint davor zu schützen, knapp am Ziel vorbeizulaufen oder das Ziel auf immer verloren zu wissen.
Wenn sich das Szenario der verfehlten Begegnungen schließlich immer mehr auf die politischen Morde, Folterungen und Deportationen der chilenischen Militärdiktatur verengt, wird begreiflich, daß der Autor sich nicht in die larmoyante Pose einer allirdischen Vergeblichkeit oder globalisierten Heimatlosigkeit wirft. Die Suche nach dem verlorenen Ort ist für Sepúlveda, den vom Pinochet-Regime ins Exil getriebenen Weltbürger wider Willen, mehr als ein melancholisches Kokettieren. Ihren nostalgischen Schmerz eröffnet die Erfahrung der geographischen Verbannung besonders, wenn sie sich mit einer zeitlichen verbindet, dem unwiderruflichen Abschied von der Kindheit. So etwa in der schönsten dieser Erzählungen, "Ein Haus in Santiago". Sie berichtet von einem Halbwüchsigen, der das Haus seiner ersten Liebe beim zweiten Rendezvous nicht finden kann, obgleich er felsenfest von der Richtigkeit der Adresse überzeugt ist. Erst nach Jahrzehnten entdeckt er die Fassade in einer Züricher Galerie auf einem alten Foto wieder - um zu entdecken, daß der Fotograf bereits verstorben ist und mit ihm der einzige Zeuge seines verlorenen Jugendglücks.
Zuweilen allerdings gleitet Sepúlveda ins Räuberpistolenhafte und Triviale ab, etwa in dem Augenblick, da die Reisenden eines im Nebel verirrten Zuges durch das Radio von ihrem eigenen Tod bei einem tragischen Unglück erfahren und der Leser vergeblich nach einer ironischen Brechung dieser Schauerphantastik forscht. Dergleichen stilistische Inkohärenzen sind nicht ungewöhnlich für die Autoren des sogenannten "Post-Booms", denen man Sepúlveda getrost zurechnen kann. Nach dem schwindelhaften Aufschwung der lateinamerikanischen Literatur in den sechziger Jahren hat diese nachfolgende Generation einen nicht immer dankbaren Schwellenplatz zwischen dem magischen Realismus um García Márquez, der urban-intellektualisierten Phantastik Cortázars und der die Mythen wie alles Anekdotische zertrümmernden Literatur der jungen Generation eingenommen.
Die schwierige literarische Ortsbestimmung erfolgt bei Sepúlveda jedoch nicht ohne Selbstironie. Ihre Galionsfigur ist vielleicht der verkrachte Künstler, welcher in der titelgebenden Erzählung des Bandes danach forscht, "Wie man das Meer sehen kann". Die Chimäre des gesuchten Fluchtpunktes findet er unter einem goldenen Apfelweinstrahl, der aus der Flasche des Kellners ins leere Glas sprudelt. "Tritt ein durch den Torbogen des Tempels der Träume, und dort, genau dort ist das Meer", verkündet der Künstler dann betrunken seiner Frau, die ihn soeben verlassen hat. Gerade dies unentschiedene Doppelgesicht von Kitsch und Poesie, von Tragik und Banalität macht den Reiz von Sepúlvedas Erzählungen aus. Dennoch ist es in gewissem Grad das Zeugnis einer weiteren verfehlten Begegnung: der des Autors mit seiner literarischen Identität.
FLORIAN BORCHMEYER
Luis Sepúlveda: "Wie man das Meer sehen kann". Erzählungen. Aus dem Spanischen übersetzt von Willi Zurbrüggen. Hanser Verlag, München 2002. 264 S., geb., 17,90 [Euro].
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