In ihrem fulminanten, komisch-tragischen, autobiographischen Debütroman erzählt Négar Djavadi aus der Sicht ihres Alter Egos Kimiâ Sadr die Geschichte ihrer Familie, die aus Iran stammt. Ein zweiter Erzählstrang betrifft Kimiâ selbst und ihre Schwangerschaft. Die klappt nur mit Hilfe der Medizin und der Mann dazu ist auch nur geliehen - Kimiâ liebt eher Frauen. In Teheran geboren und seit zehn Jahren im Pariser Exil, hat Kimiâ stets versucht, ihr Land, ihre Kultur, ihre Familie auf Abstand zu halten. Doch die Geister der Vergangenheit holen sie wieder ein, um in einem überwältigenden Bilderreigen die Geschichte der Familie Sadr in drei Generationen vor ihr abzuspulen: die Drangsale im Leben der Ahnen, ein Jahrzehnt der politischen Revolution, die Winkelgassen der Adoleszenz, berauschende Rockmusik, das schelmische Lächeln einer blonden Bassistin. Und dann gibt es, im dunklen Kern dieses atemberaubenden Romans über den Iran von gestern und das Frankreich von heute, noch eine furchtbare Geschichte zu erzählen
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Land der zerbrochenen Träume
In ihrem Debütroman "Desorientale" schafft die iranische Filmemacherin Négar Djavadi ein mitreißendes Porträt ihrer zerrissenen Heimat.
Von Thomas Thiel
Euch", sagt die Erzählerin gleich im ersten Absatz, als wollte sie den Leser am Arm packen. Euch, das meint die Bewohner eines Staats mit funktionierenden Rechtsinstitutionen, republikanischem Geist, verfeinerter Kultur, mit einem Wort: Frankreich. Und mit einer Klinik für Fortpflanzungsmedizin, in der die Erzählerin jetzt wartet, um eine späte Schwangerschaft (ihr Partner ist HIV-positiv) anzubahnen. Die impulsive Anrede überspringt die Distanz zum Heimatland der Erzählerin, in dem es ganz selbstverständlich ist, sich in das Leben anderer einzumischen. Gemeint ist Iran, dessen Geschichte hier ganz anders dargestellt werden soll, als man sie heute in Frankreich erzähle.
Es fällt nicht schwer, sich dieser Erzählerin anzuvertrauen. Die iranischstämmige Autorin und Filmemacherin Négar Djavadi, die mit "Desorientale" literarisch debütiert, erzählt diese in weiten Zügen an ihre eigene Biographie angelehnte Geschichte mit so viel Witz und Sprachphantasie, dass man ihr den herausfordernden Tonfall abnimmt. Die Erzählerin, Kaimi Sadr, kommt wie Djavadi aus einer aufgeklärten oppositionellen Familie der gehobenen Mittelschicht, ist mit französischer Bildung aufgewachsen und wurde mit elf Jahren, kurz vor der iranischen Revolution 1979 und dem Machtantritt Chomeinis, ins französische Exil getrieben.
Entlang ihrer Familiengeschichte erzählt Djavadi die Landesgeschichte als Chronik usurpierter Hoffnungen, an der die westlichen Mächte, Briten, Amerikaner, Franzosen, ebenso wie die Sowjetunion fleißig mitschrieben, indem sie aus Geschäftsinteressen immer wieder ihre Günstlinge installierten und die säkulare Opposition ins Exil trieben. Der Roman, der das politische Geschehen in Fußnoten kommentiert, macht erdrückend deutlich, warum das westliche Modell viele Iraner so wenig überzeugte, dass sie den Mullahs in die Arme liefen. Djavadi setzt vergessene Helden ins Recht, wie den abgesetzten Minister Mohammad Mossadegh, dem es gelang, das Öl zu nationalisieren, bis ihm Briten und Amerikaner in die Quere kamen, oder den Vater der Erzählerin, Darius Sadr, einen Journalisten, der sowohl dem Schah als auch Chomeini die Stirn bot.
Mit Genetik und Genealogie ist ein Motiv gesetzt, das sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht. Kaimi, die Erzählerin, sollte Zartoscht heißen, ein blauäugiger Junge werden und einen Ast am weitverzweigten Familienstammbaum fortsetzen, den sie mit ihren lesbischen Neigungen abzuschneiden droht. Nach der Sitte ihres Landes war der Tag ihrer Geburt ein rabenschwarzer Tag. Und Homosexuelle gelten in Iran als schlimmste Sünder gegen Allah, sie werden an Kränen aufgehängt. Kaimis Familie kommt aus der Provinz Mandazarani am Kaspischen Meer, wo Orte und Menschen epische Namen tragen. Ihr Urgroßvater Montezemolmolk wacht wie ein Falke über seine vielköpfige Familie, nimmt seine unzähligen Frauen und Kinder aber eher als Träger genetischer Hoffnungen und dynastischer Interessen wahr. Selbst in Kaimis Vater, einem Ausbund an unabhängiger Gesinnung, wird der Wunsch nach einem blauäugigen Jungen übermächtig.
Später muss der Urgroßvater nach einem Erlass des von Amerikanern und Briten eingesetzten Schahs seinen Namen ablegen. Seine Demütigung steht sinnbildlich für eine Land, dessen kulturelles Band immer wieder gekappt und dessen Wunsch nach Eigenständigkeit fortgesetzt ignoriert wird. Nach dem Sturz des Schahs arrangiert sich auch das bewunderte Frankreich mühelos mit dem aus dem Pariser Exil zurückkehrenden Chomeini. Während die Teheranis "wie Playmobilmännchen, die Nase in den Himmel gereckt", zu ihrem neuen Tyrannen hinaufschauen, hat die Erzählerin das Gefühl, "nach hinten gerissen zu werden, mit über den Schotter schrappendem Körper, hin zu einer Geschichte, der ich verzweifelt zu entrinnen versuche". Denn es sei ihr Vater Darius Sadr gewesen, klagt sie, der den ersten Protestbrief gegen den Schah geschrieben und, wie "Le Monde" 1989 meinte, den Grundstein zur Revolution gelegt habe. Warum mache sich kein westlicher Beobachter die Mühe, diese Revolution als eine Protestbewegung von Intellektuellen zu sehen?
Djavadi zeichnet die Eltern als Heldenpaar, als Vorbild an Modernität und charakterlicher Festigkeit, was nicht angestrengt oder peinlich gerät, weil es durch eine scharfe Figurenzeichnung beglaubigt wird. Das Exil zieht einen Riss durch die Biographie dieses Paars und setzt es einer Spannung zwischen politischem Individualismus und kultureller Herkunft aus. Frankreich, die mit so vielen Hoffnungen beladene Kulturnation, zieht blass und schemenhaft an ihnen vorbei. Die Familie ist in alle Winde zerstreut. 1994 wird der Vater von den Agenten der Mullahs ermordet, deren Arm bis nach Paris reicht. Das erschütternde Ereignis gibt Kaimis Leben nochmals eine ganz neue Richtung. Konsequenterweise findet sie in der französischen Subkultur Halt und endlich auch die Freiheit, ihre uneindeutige Sexualität auszuleben. Und so sitzt sie nun in der Fortpflanzungsklinik und kämpft mit dem ihr in die Wiege gelegten Gebärwunsch, der in ihrer Heimat wie in Frankreich mit so vielen sozialen Nebenhoffnungen beladen ist - und kann ihn trotz intellektueller Widerstände nicht ablegen.
Wer Iran vor allem als Schurkenstaat aus den Nachrichten kennt, wird ihn nach diesem Roman anders betrachten: als eine von inneren Spannungen durchzogene, gedemütigte Kultur, die trotzdem voller Hoffnungen und Schönheit steckt. Und als ein Land, das man nicht einfach gegen den Westen setzen kann, weil es selbst ein ganzes Stück weit ein Homunkulus westlicher Mächte ist, dessen beste Kräfte am Boden gehalten werden. Ein einziges Mal fällt auf vierhundert Seiten das Wort Integration. Es bleibt der Erzählerin fremd, soweit sie es als Aufforderung versteht, ein ganz neues Leben zu beginnen. Modernität könne nicht heißen, dass ein Volk mit dem verlorenen Blick eines Touristen auf die eigenen kulturellen Reichtümer schaut, schreibt Djavadi mit den Worten der Mutter. In diesem mitreißenden Buch sind eine Autorin und ein Land zu entdecken.
Négar Djavadi: "Desorientale". Roman.
Aus dem Französischen von Michaela Meßner. Verlag C. H. Beck, München 2017. 400 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In ihrem Debütroman "Desorientale" schafft die iranische Filmemacherin Négar Djavadi ein mitreißendes Porträt ihrer zerrissenen Heimat.
Von Thomas Thiel
Euch", sagt die Erzählerin gleich im ersten Absatz, als wollte sie den Leser am Arm packen. Euch, das meint die Bewohner eines Staats mit funktionierenden Rechtsinstitutionen, republikanischem Geist, verfeinerter Kultur, mit einem Wort: Frankreich. Und mit einer Klinik für Fortpflanzungsmedizin, in der die Erzählerin jetzt wartet, um eine späte Schwangerschaft (ihr Partner ist HIV-positiv) anzubahnen. Die impulsive Anrede überspringt die Distanz zum Heimatland der Erzählerin, in dem es ganz selbstverständlich ist, sich in das Leben anderer einzumischen. Gemeint ist Iran, dessen Geschichte hier ganz anders dargestellt werden soll, als man sie heute in Frankreich erzähle.
Es fällt nicht schwer, sich dieser Erzählerin anzuvertrauen. Die iranischstämmige Autorin und Filmemacherin Négar Djavadi, die mit "Desorientale" literarisch debütiert, erzählt diese in weiten Zügen an ihre eigene Biographie angelehnte Geschichte mit so viel Witz und Sprachphantasie, dass man ihr den herausfordernden Tonfall abnimmt. Die Erzählerin, Kaimi Sadr, kommt wie Djavadi aus einer aufgeklärten oppositionellen Familie der gehobenen Mittelschicht, ist mit französischer Bildung aufgewachsen und wurde mit elf Jahren, kurz vor der iranischen Revolution 1979 und dem Machtantritt Chomeinis, ins französische Exil getrieben.
Entlang ihrer Familiengeschichte erzählt Djavadi die Landesgeschichte als Chronik usurpierter Hoffnungen, an der die westlichen Mächte, Briten, Amerikaner, Franzosen, ebenso wie die Sowjetunion fleißig mitschrieben, indem sie aus Geschäftsinteressen immer wieder ihre Günstlinge installierten und die säkulare Opposition ins Exil trieben. Der Roman, der das politische Geschehen in Fußnoten kommentiert, macht erdrückend deutlich, warum das westliche Modell viele Iraner so wenig überzeugte, dass sie den Mullahs in die Arme liefen. Djavadi setzt vergessene Helden ins Recht, wie den abgesetzten Minister Mohammad Mossadegh, dem es gelang, das Öl zu nationalisieren, bis ihm Briten und Amerikaner in die Quere kamen, oder den Vater der Erzählerin, Darius Sadr, einen Journalisten, der sowohl dem Schah als auch Chomeini die Stirn bot.
Mit Genetik und Genealogie ist ein Motiv gesetzt, das sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht. Kaimi, die Erzählerin, sollte Zartoscht heißen, ein blauäugiger Junge werden und einen Ast am weitverzweigten Familienstammbaum fortsetzen, den sie mit ihren lesbischen Neigungen abzuschneiden droht. Nach der Sitte ihres Landes war der Tag ihrer Geburt ein rabenschwarzer Tag. Und Homosexuelle gelten in Iran als schlimmste Sünder gegen Allah, sie werden an Kränen aufgehängt. Kaimis Familie kommt aus der Provinz Mandazarani am Kaspischen Meer, wo Orte und Menschen epische Namen tragen. Ihr Urgroßvater Montezemolmolk wacht wie ein Falke über seine vielköpfige Familie, nimmt seine unzähligen Frauen und Kinder aber eher als Träger genetischer Hoffnungen und dynastischer Interessen wahr. Selbst in Kaimis Vater, einem Ausbund an unabhängiger Gesinnung, wird der Wunsch nach einem blauäugigen Jungen übermächtig.
Später muss der Urgroßvater nach einem Erlass des von Amerikanern und Briten eingesetzten Schahs seinen Namen ablegen. Seine Demütigung steht sinnbildlich für eine Land, dessen kulturelles Band immer wieder gekappt und dessen Wunsch nach Eigenständigkeit fortgesetzt ignoriert wird. Nach dem Sturz des Schahs arrangiert sich auch das bewunderte Frankreich mühelos mit dem aus dem Pariser Exil zurückkehrenden Chomeini. Während die Teheranis "wie Playmobilmännchen, die Nase in den Himmel gereckt", zu ihrem neuen Tyrannen hinaufschauen, hat die Erzählerin das Gefühl, "nach hinten gerissen zu werden, mit über den Schotter schrappendem Körper, hin zu einer Geschichte, der ich verzweifelt zu entrinnen versuche". Denn es sei ihr Vater Darius Sadr gewesen, klagt sie, der den ersten Protestbrief gegen den Schah geschrieben und, wie "Le Monde" 1989 meinte, den Grundstein zur Revolution gelegt habe. Warum mache sich kein westlicher Beobachter die Mühe, diese Revolution als eine Protestbewegung von Intellektuellen zu sehen?
Djavadi zeichnet die Eltern als Heldenpaar, als Vorbild an Modernität und charakterlicher Festigkeit, was nicht angestrengt oder peinlich gerät, weil es durch eine scharfe Figurenzeichnung beglaubigt wird. Das Exil zieht einen Riss durch die Biographie dieses Paars und setzt es einer Spannung zwischen politischem Individualismus und kultureller Herkunft aus. Frankreich, die mit so vielen Hoffnungen beladene Kulturnation, zieht blass und schemenhaft an ihnen vorbei. Die Familie ist in alle Winde zerstreut. 1994 wird der Vater von den Agenten der Mullahs ermordet, deren Arm bis nach Paris reicht. Das erschütternde Ereignis gibt Kaimis Leben nochmals eine ganz neue Richtung. Konsequenterweise findet sie in der französischen Subkultur Halt und endlich auch die Freiheit, ihre uneindeutige Sexualität auszuleben. Und so sitzt sie nun in der Fortpflanzungsklinik und kämpft mit dem ihr in die Wiege gelegten Gebärwunsch, der in ihrer Heimat wie in Frankreich mit so vielen sozialen Nebenhoffnungen beladen ist - und kann ihn trotz intellektueller Widerstände nicht ablegen.
Wer Iran vor allem als Schurkenstaat aus den Nachrichten kennt, wird ihn nach diesem Roman anders betrachten: als eine von inneren Spannungen durchzogene, gedemütigte Kultur, die trotzdem voller Hoffnungen und Schönheit steckt. Und als ein Land, das man nicht einfach gegen den Westen setzen kann, weil es selbst ein ganzes Stück weit ein Homunkulus westlicher Mächte ist, dessen beste Kräfte am Boden gehalten werden. Ein einziges Mal fällt auf vierhundert Seiten das Wort Integration. Es bleibt der Erzählerin fremd, soweit sie es als Aufforderung versteht, ein ganz neues Leben zu beginnen. Modernität könne nicht heißen, dass ein Volk mit dem verlorenen Blick eines Touristen auf die eigenen kulturellen Reichtümer schaut, schreibt Djavadi mit den Worten der Mutter. In diesem mitreißenden Buch sind eine Autorin und ein Land zu entdecken.
Négar Djavadi: "Desorientale". Roman.
Aus dem Französischen von Michaela Meßner. Verlag C. H. Beck, München 2017. 400 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eine heiter-melancholische Familiensaga, die praktisch ein ganzes Jahundert iranische Geschichte abdeckt."
Luzia Stettler, SWR2 Kultur, 09. Oktober 2017
"In diesem mitreißendem Buch sind eine Autorin und ein Land zu entdecken."
Thomas Thiel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07. Oktober 2017
"Djavadi schildert in bildreichen Passagen einen durch enge Familienbande geprägten Alltag im Iran vor und während der Revolution."
Holger Heimann, Deutschlandfunk, 20. September 2017
Luzia Stettler, SWR2 Kultur, 09. Oktober 2017
"In diesem mitreißendem Buch sind eine Autorin und ein Land zu entdecken."
Thomas Thiel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07. Oktober 2017
"Djavadi schildert in bildreichen Passagen einen durch enge Familienbande geprägten Alltag im Iran vor und während der Revolution."
Holger Heimann, Deutschlandfunk, 20. September 2017