Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2022Mann, Frau, Kind et cetera
"Detransition, Baby" von Torrey Peters erzählt die komplexe Geschichte einer Dreierbeziehung zwischen Transpersonen. Und spielt mit Konflikten, die nicht nur sexuell sind.
Ist Transsexualität eine Provokation? Gerade in Umbruchzeiten wirkt das jedenfalls so, sieht man allein, wie derzeit in den USA versucht wird, die rechtlichen Möglichkeiten transsexueller Menschen oder auch nur Informationen über Transsexualität gesetzlich zurückzudrängen. Dass nicht alles immer so ist, wie es scheint, und nicht immer bleiben muss, wie es ist, mag eine herausfordernde Erkenntnis sein. Aber man kann Transformation - und dort setzt die amerikanische Autorin Torrey Peters in ihrem Debüt an - auch als Möglichkeit verstehen, die eigene Persönlichkeit zu entfalten und das eigene Leben zu gestalten.
"Detransition, Baby" wurde 2021 für den "Woman's Prize for Fiction" nominiert und kürzlich mit dem PEN/Hemingway Award ausgezeichnet. Vor ihrem Debüt hatte Peters, die selbst vor zehn Jahren, mit Anfang dreißig, den Prozess der Transition zur Frau begann, zwei Erzählungen veröffentlicht, beide handeln wie jetzt "Detransition, Baby" von Transsexualität. Doch wäre es viel zu einfach, diesen fast fünfhundert Seiten langen Roman auf ein Schlagwort zu reduzieren. "Detransition, Baby" erzählt nicht nur eine Geschichte über Transsexualität, sondern auch von Freundschaft, Liebe und Familie - und den Konflikten, die sich innerhalb dieser Verbindungen ergeben, sobald Menschen beschließen, das etablierte Konzept der Kernfamilie aus Mutter, Vater und Kind zu verwerfen. Und es etwa um einen dritten Elternteil zu erweitern.
Denn genau das schlägt Ames der von ihm schwangeren Katrina in "Detransition, Baby" vor. Die dritte im Bunde soll Ames' Ex-Freundin sein, die Transfrau Reese, die sich nichts sehnlicher wünscht als ein Kind.
Ames war früher mal James, dann hatte er sich zur Transition zu Amy entschieden - und Reese hat diesen Wandel vom Mann zur Frau, von James zu Amy, begleitet: "Sie hatte ihm beigebracht, eine Frau zu sein ... oder er hatte mit ihr gelernt, eine Frau zu sein." Als aber Amy sich dann dazu entschloss, wieder als Mann zu leben und zu Ames zu werden, also zu detransitionieren, beendete Reese die Beziehung. Damit verlor sie ihre Geliebte und zugleich gewissermaßen auch ihre Tochter.
Das Grundgerüst der Geschichte, die Torrey Peters erzählt, ist also reichlich komplex. Wahrscheinlich werden viele Menschen, die sich eigentlich für weltoffen und informiert halten, bei der Lektüre merken, wie viel sie nicht wissen, wie viel sie recherchieren müssen, um die Handlung überhaupt erfassen zu können, um etwa Ausdrücke wie "Tucking" zu verstehen, also das Verstecken des männlichen Geschlechtsteils, die Peters ganz selbstverständlich in ihrer Prosa benutzt: "In der Wohnung sitzt Iris in Tanktop und Höschen auf einem Hocker an der Küchentheke und nippt an einem mit Eiswürfeln gekühlten Weißwein. Als Feigenblatt der Anständigkeit hat sie sich vor Katrinas Ankunft zumindest fürs Tucking entschieden." Ein typischer Satz.
Der Plan einer Elternschaft zu dritt, den Ames sich ausgedacht hat, scheint eine Zeit lang tatsächlich zu funktionieren: Katrina und Reese werden Freundinnen und bereiten sich gemeinsam auf das Kind mit Ames vor - aber dann kommt ans Licht: Reese hatte eine Affäre mit einem Mann, der HIV-positiv ist. Damit kann die schwangere Katrina nicht umgehen. Die neu entstandene Freundschaft bröckelt, plötzlich steht Abtreibung im Raum - und auch Ames zweifelt, wie endgültig die Endgültigkeit seines Lebens als Mann ist.
Und so befindet man sich am Ende der Lektüre mit Reese, Ames und Katrina in deren Wohnzimmer und denkt mit den Romanfiguren über Identität, Freundschaft und Familienplanung nach. Doch ist dieser Punkt keineswegs leicht zu erreichen, auch dann nicht, wenn man die queere Terminologie beherrscht: Denn gerade Reese ist offenbar in einer Weise verzweifelt, die man nur zu leicht mit Ignoranz verwechseln kann. Sie vergleicht das Risiko einer HIV-Infektion mit dem Risiko einer Schwangerschaft, was sie ihrem Ideal von Weiblichkeit näher zu bringen scheint. Bevor sie mit der damals frisch transitionierten Amy zusammengekommen war, hatte sie eine Beziehung mit dem gewalttätigen Stanley geführt. Als sie dann wieder eine Affäre mit ihm beginnt, gesteht sie dies Amy zwar, ändert aber nichts daran, und das sind nur zwei Beispiele.
Um das Verhalten von Reese nachzuvollziehen, ist es in jedem Fall hilfreich, zu bedenken, dass sie ihr Leben lang um eine Anerkennung kämpfen musste, die Cis-Personen immer als gegeben erfahren, was Peters Reese im Text häufig zum Ausdruck bringen lässt. Der Roman verhandelt, besonders mit Blick auf Reese, das spannungsreiche Verhältnis zwischen individuellen Entscheidungen und der gesellschaftlichen Bedeutung, die sie hier stets auch haben können: "Vielleicht wollte sie einfach immer nur, was sie wollte: damals Hormone, heute ein Baby. Ein gewiefter Kopf kann immer auf das Politische verweisen, um seine eigene Selbstsucht zu rechtfertigen."
In einem Interview erklärte Torrey Peters, dass sie beim Schreiben nur darüber nachgedacht habe, was ihre Freunde witzig finden würden - und darüber, was gerade in ihrem Leben relevant gewesen sei. Aus dieser Kombination ist ein Roman entstanden, der die Probleme von Transpersonen beschreibt - und ebenso die Herausforderungen der jungen Generationen: Sind doch gerade die sogenannten Millennials und die Generation danach, bezeichnet als Z, in einer Zeit aufgewachsen, die ihnen uneingeschränkte Möglichkeiten verspricht, was Ausbildung, Wohnort und Persönlichkeitsentfaltung angeht. Ein Luxus - und gleichzeitig ein Dilemma, weil es das Leben so kompliziert erscheinen lässt, dass einige schon mit zwanzig in eine Sinnkrise geraten. Und dann doch wieder Halt bei traditionellen und gewohnten Lebensmodellen suchen.
In Peters' Roman werden die Figuren wieder und wieder mit sozialen Konventionen und Zwängen konfrontiert - und dabei zugleich von der großen Offenheit überfordert, die sich ihnen zu bieten scheint. Am Ende wirkt es, als wären Reese, Katrina und Ames an dem besagten Mehr ihrer Möglichkeiten gescheitert, als wären die tradierten Lebensformen zu fest in der Wahrnehmung der Gesellschaft - und damit auch in ihrer eigenen - verankert, als dass man sie einfach per Entschluss aushebeln könnte. Und es lebt sich wohl in der Tat leichter mit dem Strom statt gegen ihn. Dennoch ist allein der Umstand, dass es Menschen gibt, die Bücher wie "Detransition, Baby" schreiben, ein Zeichen dafür, dass nicht alles so bleiben muss, wie es immer war.
CHRISTINA VETTORAZZI
Torrey Peters, "Detransition, Baby". Aus dem Englischen von Frank Sievers und Nicole Seifert. Ullstein, 464 Seiten, 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Detransition, Baby" von Torrey Peters erzählt die komplexe Geschichte einer Dreierbeziehung zwischen Transpersonen. Und spielt mit Konflikten, die nicht nur sexuell sind.
Ist Transsexualität eine Provokation? Gerade in Umbruchzeiten wirkt das jedenfalls so, sieht man allein, wie derzeit in den USA versucht wird, die rechtlichen Möglichkeiten transsexueller Menschen oder auch nur Informationen über Transsexualität gesetzlich zurückzudrängen. Dass nicht alles immer so ist, wie es scheint, und nicht immer bleiben muss, wie es ist, mag eine herausfordernde Erkenntnis sein. Aber man kann Transformation - und dort setzt die amerikanische Autorin Torrey Peters in ihrem Debüt an - auch als Möglichkeit verstehen, die eigene Persönlichkeit zu entfalten und das eigene Leben zu gestalten.
"Detransition, Baby" wurde 2021 für den "Woman's Prize for Fiction" nominiert und kürzlich mit dem PEN/Hemingway Award ausgezeichnet. Vor ihrem Debüt hatte Peters, die selbst vor zehn Jahren, mit Anfang dreißig, den Prozess der Transition zur Frau begann, zwei Erzählungen veröffentlicht, beide handeln wie jetzt "Detransition, Baby" von Transsexualität. Doch wäre es viel zu einfach, diesen fast fünfhundert Seiten langen Roman auf ein Schlagwort zu reduzieren. "Detransition, Baby" erzählt nicht nur eine Geschichte über Transsexualität, sondern auch von Freundschaft, Liebe und Familie - und den Konflikten, die sich innerhalb dieser Verbindungen ergeben, sobald Menschen beschließen, das etablierte Konzept der Kernfamilie aus Mutter, Vater und Kind zu verwerfen. Und es etwa um einen dritten Elternteil zu erweitern.
Denn genau das schlägt Ames der von ihm schwangeren Katrina in "Detransition, Baby" vor. Die dritte im Bunde soll Ames' Ex-Freundin sein, die Transfrau Reese, die sich nichts sehnlicher wünscht als ein Kind.
Ames war früher mal James, dann hatte er sich zur Transition zu Amy entschieden - und Reese hat diesen Wandel vom Mann zur Frau, von James zu Amy, begleitet: "Sie hatte ihm beigebracht, eine Frau zu sein ... oder er hatte mit ihr gelernt, eine Frau zu sein." Als aber Amy sich dann dazu entschloss, wieder als Mann zu leben und zu Ames zu werden, also zu detransitionieren, beendete Reese die Beziehung. Damit verlor sie ihre Geliebte und zugleich gewissermaßen auch ihre Tochter.
Das Grundgerüst der Geschichte, die Torrey Peters erzählt, ist also reichlich komplex. Wahrscheinlich werden viele Menschen, die sich eigentlich für weltoffen und informiert halten, bei der Lektüre merken, wie viel sie nicht wissen, wie viel sie recherchieren müssen, um die Handlung überhaupt erfassen zu können, um etwa Ausdrücke wie "Tucking" zu verstehen, also das Verstecken des männlichen Geschlechtsteils, die Peters ganz selbstverständlich in ihrer Prosa benutzt: "In der Wohnung sitzt Iris in Tanktop und Höschen auf einem Hocker an der Küchentheke und nippt an einem mit Eiswürfeln gekühlten Weißwein. Als Feigenblatt der Anständigkeit hat sie sich vor Katrinas Ankunft zumindest fürs Tucking entschieden." Ein typischer Satz.
Der Plan einer Elternschaft zu dritt, den Ames sich ausgedacht hat, scheint eine Zeit lang tatsächlich zu funktionieren: Katrina und Reese werden Freundinnen und bereiten sich gemeinsam auf das Kind mit Ames vor - aber dann kommt ans Licht: Reese hatte eine Affäre mit einem Mann, der HIV-positiv ist. Damit kann die schwangere Katrina nicht umgehen. Die neu entstandene Freundschaft bröckelt, plötzlich steht Abtreibung im Raum - und auch Ames zweifelt, wie endgültig die Endgültigkeit seines Lebens als Mann ist.
Und so befindet man sich am Ende der Lektüre mit Reese, Ames und Katrina in deren Wohnzimmer und denkt mit den Romanfiguren über Identität, Freundschaft und Familienplanung nach. Doch ist dieser Punkt keineswegs leicht zu erreichen, auch dann nicht, wenn man die queere Terminologie beherrscht: Denn gerade Reese ist offenbar in einer Weise verzweifelt, die man nur zu leicht mit Ignoranz verwechseln kann. Sie vergleicht das Risiko einer HIV-Infektion mit dem Risiko einer Schwangerschaft, was sie ihrem Ideal von Weiblichkeit näher zu bringen scheint. Bevor sie mit der damals frisch transitionierten Amy zusammengekommen war, hatte sie eine Beziehung mit dem gewalttätigen Stanley geführt. Als sie dann wieder eine Affäre mit ihm beginnt, gesteht sie dies Amy zwar, ändert aber nichts daran, und das sind nur zwei Beispiele.
Um das Verhalten von Reese nachzuvollziehen, ist es in jedem Fall hilfreich, zu bedenken, dass sie ihr Leben lang um eine Anerkennung kämpfen musste, die Cis-Personen immer als gegeben erfahren, was Peters Reese im Text häufig zum Ausdruck bringen lässt. Der Roman verhandelt, besonders mit Blick auf Reese, das spannungsreiche Verhältnis zwischen individuellen Entscheidungen und der gesellschaftlichen Bedeutung, die sie hier stets auch haben können: "Vielleicht wollte sie einfach immer nur, was sie wollte: damals Hormone, heute ein Baby. Ein gewiefter Kopf kann immer auf das Politische verweisen, um seine eigene Selbstsucht zu rechtfertigen."
In einem Interview erklärte Torrey Peters, dass sie beim Schreiben nur darüber nachgedacht habe, was ihre Freunde witzig finden würden - und darüber, was gerade in ihrem Leben relevant gewesen sei. Aus dieser Kombination ist ein Roman entstanden, der die Probleme von Transpersonen beschreibt - und ebenso die Herausforderungen der jungen Generationen: Sind doch gerade die sogenannten Millennials und die Generation danach, bezeichnet als Z, in einer Zeit aufgewachsen, die ihnen uneingeschränkte Möglichkeiten verspricht, was Ausbildung, Wohnort und Persönlichkeitsentfaltung angeht. Ein Luxus - und gleichzeitig ein Dilemma, weil es das Leben so kompliziert erscheinen lässt, dass einige schon mit zwanzig in eine Sinnkrise geraten. Und dann doch wieder Halt bei traditionellen und gewohnten Lebensmodellen suchen.
In Peters' Roman werden die Figuren wieder und wieder mit sozialen Konventionen und Zwängen konfrontiert - und dabei zugleich von der großen Offenheit überfordert, die sich ihnen zu bieten scheint. Am Ende wirkt es, als wären Reese, Katrina und Ames an dem besagten Mehr ihrer Möglichkeiten gescheitert, als wären die tradierten Lebensformen zu fest in der Wahrnehmung der Gesellschaft - und damit auch in ihrer eigenen - verankert, als dass man sie einfach per Entschluss aushebeln könnte. Und es lebt sich wohl in der Tat leichter mit dem Strom statt gegen ihn. Dennoch ist allein der Umstand, dass es Menschen gibt, die Bücher wie "Detransition, Baby" schreiben, ein Zeichen dafür, dass nicht alles so bleiben muss, wie es immer war.
CHRISTINA VETTORAZZI
Torrey Peters, "Detransition, Baby". Aus dem Englischen von Frank Sievers und Nicole Seifert. Ullstein, 464 Seiten, 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.06.2022Die Schwerkraft der Kernfamilie
Die Befreiung von der Zweigeschlechtlichkeit schreibt großartige neue Geschichten: Torrey Peters’ Debütroman „Detransition Baby“
Zweieinhalb Frauen und ein Embryo – das ist die Figurenkonstellation von Torrey Peters Debütroman „Detransition, Baby“. Für den hat die amerikanische Schriftstellerin, von der es zuvor erst zwei Erzählungen im Selbstverlag gab, viel Aufmerksamkeit bekommen. Ihr Buch sei eine „Soap Opera“, erklärte sie in einem Interview, und tatsächlich bietet die Geschichte die dramatischen Wendungen, komplizierten Verflechtungen und tragischen Biografien einer Telenovela: Reese, eine New Yorker trans Frau in ihren Dreißigern, wünscht sich ein Kind. Ames, eine ehemalige trans Frau und Ex-Partner von Reese, lebt mittlerweile wieder als Mann, seine aktuelle, cis-geschlechtliche Freundin Katrina ist schwanger. Er freut sich auf das Kind, aber fürchtet die „Schwerkaft der Kernfamilie“, die Vaterrolle und die damit einhergehende eindeutige Männlichkeit, mit der er nach wie vor hadert. Deshalb fasst er den Plan, mit Katrina und Reese eine Dreiecks-Elternschaft einzugehen – im besten Falle eine Win-Win-Win-Konstellation, die Kinderwunsch, queeres Familienleben und geteilte Sorgearbeit vereinbaren soll.
Was erst mal arg konstruiert klingt, wird durch Peters unverblümten Stil und ihre widersprüchlichen und komplexen Charaktere zum Leben erweckt. Reese gibt sich auf liebenswürdig-selbstbezogene Art ihrem Traum von der Hausfrauen-Idylle hin und schaut sich spöttisch selbst dabei zu. Ihr ist völlig bewusst, wie problematisch die überlieferte Gleichsetzung von Frau und Mutter ist, und doch besteht sie auf ihr Recht, genau diesem Weiblichkeits-Ideal nachzueifern. „Ich will dieselbe Bestätigung, die andere Mütter haben. Das Gefühl, eine Frau zu sein, die ihren Platz in einer Familie hat. Diese Bestätigung ist bei cis Frauen okay, bei mir wird so getan, als wäre es pervers.“ Katrina wiederum zweifelt nach einer Fehlgeburt, nach der die Trauer irgendwie ausblieb, ob sie überhaupt „muttertauglich“ ist.
Die Frage nach dem Verhältnis von Mutterschaft und Geschlecht hat eine lange feministische Tradition: Während essentialistische Feministinnen eine biologisch bedingte und mystisch aufgeladene Gaia-Weiblichkeit als Gegenpol zum männlichen Individualismus vertreten, betonen Vertreterinnen eines materialistischen und queeren Feminismus die unterdrückerische Funktion des Mutter-Ideals. Die Philosophin Silvia Federici schreibt in ihrem Buch „Aufstand aus der Küche“ darüber, wie die Naturalisierung von Fürsorge als dezidiert weibliche Qualität die tatsächliche Arbeit im Haushalt verschleiert. Andere Theoretikerinnen wie Eve Kosfosky Sedgwick betonen dabei die existenzielle Notwendigkeit, füreinander zu sorgen – gerade für queere Menschen, die, oftmals von ihren Herkunftsfamilien verstoßen, neue familiäre Bande knüpfen. Torrey Peters erzählt zum Beispiel von Reese als bereits mehrfacher „Mutter“ für „trans Babys“, wie sie frisch geoutete Freundinnen liebevoll nennt. Auch ihre Beziehung zu Ames, damals noch Amy, schwankt zwischen romantischer und elterlicher Liebe.
Peters beschreibt die queer-familiären Verflechtungen, ohne sie zu idealisieren. Sie lässt Ames darüber sinnieren, wie trans Frauen frühe Verletzungen in ihre aktuellen Beziehungen tragen, wie verwaiste Jung-Elefanten, deren Mütter von Wilderern brutal getötet wurden: „Am neuen Ort angekommen, in einer Savanne ohne ältere Tiere, taten sich die drei traumatisierten Elefanten in ihrem gemeinsamen Kummer und ihrer Trauer zusammen und übten Rache aneinander und an der Welt.“ Auch das Dreiergespann aus Ames, Reese und Katrina verfängt sich in emotionalen Fallstricken. Obwohl Katrina sich nach und nach für die Unkonventionalität des Eltern-Trios begeistert und sich davon einen Ausweg aus verkrusteten Hetero-Dynamiken verspricht, stolpern die drei über Ängste, Wunden und das Fehlen vorgelebter Lebensmodelle. So wie sich Peters zum Thema queerer Wahlverwandtschaft keinen Illusionen hingibt, schreckt sie nicht vor einer kritischen Beobachtung der New Yorker trans Community zurück. Sie hat kein Twitter-Einmaleins zu befolgen, das für ein cis Publikum Do’s und Don’ts gegenüber trans Menschen auflistet, sondern schreibt ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung als trans Frau für eine queere Leserschaft – und für alle anderen, die keine pädagogische Heranführung erwarten. Diese Ehrlichkeit tut mitunter weh: Reese erkennt etwa, wie ihr der gewalttätige Besitzanspruch eines männlichen Partners das Gefühl gibt, eine richtige Frau zu sein. Man kann aber auch darüber lachen, wenn etwa Ames beziehungsweise Amy sich am Anfang der Östrogen-Behandlung gegen die Aufbewahrung ihrer Spermien in einer Samenbank entscheidet, um mit dem Geld stattdessen ihr HBO-Abo zu bezahlen.
Dass Peters sich auch an unangenehme Themen wagt, zeigt sich besonders am Thema der „Detransition“. Es ist der Begriff für eine Gender-Biografie, in der auf die erste Geschlechtsangleichung eine zweite folgt, die die erste rückgängig macht. So wie bei Ames: Nach seinem Coming-Out als trans Frau mit Mitte Zwanzig bricht er ein paar Jahre später die Hormonbehandlung ab, ändert Namen, Pronomen und Garderobe wieder und lebt als Mann. Solche Geschichten werden von transfeindlichen Akteuren oft als Argument genutzt, um das Existenzrecht von trans Menschen in Frage zu stellen – offenbar bereuten sie ihre Transition ja früher oder später selbst.
Es sind allerdings nur wenige trans Menschen, die ihre Transition rückgängig machen. Und dass es für eine solche Entscheidung nachvollziehbare Gründe gibt, macht Peters durch ihren Protagonisten Ames verständlich. Er spricht von Verletzungen, Unsicherheiten und einer einschneidenden Diskriminierungserfahrung: „Danach fand ich es einfach beschissen zu hart, als trans Frau zu leben.“ Indem Peters das Zusammenspiel von Geschlechtsidentität, Gender-Performance und gesellschaftlicher Realität in seine verschiedenen Dimensionen auflöst, ist sie jeder denkbaren polemischen Instrumentalisierung voraus.
Und doch gab es hasserfüllten Reaktionen, als Torrey Peters für den Women’s Prize for Fiction 2021 nominiert worden war. Ein offener Brief, unterschrieben von lebenden Schriftstellerinnen (und kurioserweise ein paar toten wie Emily Dickinson), missgenderte Peters konsequent und unterstellte ihr, die Institution für Frauenliteratur zu infiltrieren. Da war wieder der transfeindliche Mythos am Werk, als Frauen verkleidete Männer arbeiteten an der Unterdrückung „echter“ Frauen. Wie dieses Schüren von Angst jeglichen Verständnisses für die Lebensrealitäten echter trans Frauen entbehrt, auch das zeigt dieses Buch eindrücklich.
NORA NOLL
Peters traut sich aber auch die
kritische Beobachtung der
New Yorker trans Community
Schmerzhaft ehrliche Beschreibungen: Torrey Peters.
Foto: Natasha Gornik
Torrey Peters:
Detransition, Baby.
Aus dem Englischen
von Nicole Seifert und Frank Siefert.
Ullstein, 2022.
372 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Befreiung von der Zweigeschlechtlichkeit schreibt großartige neue Geschichten: Torrey Peters’ Debütroman „Detransition Baby“
Zweieinhalb Frauen und ein Embryo – das ist die Figurenkonstellation von Torrey Peters Debütroman „Detransition, Baby“. Für den hat die amerikanische Schriftstellerin, von der es zuvor erst zwei Erzählungen im Selbstverlag gab, viel Aufmerksamkeit bekommen. Ihr Buch sei eine „Soap Opera“, erklärte sie in einem Interview, und tatsächlich bietet die Geschichte die dramatischen Wendungen, komplizierten Verflechtungen und tragischen Biografien einer Telenovela: Reese, eine New Yorker trans Frau in ihren Dreißigern, wünscht sich ein Kind. Ames, eine ehemalige trans Frau und Ex-Partner von Reese, lebt mittlerweile wieder als Mann, seine aktuelle, cis-geschlechtliche Freundin Katrina ist schwanger. Er freut sich auf das Kind, aber fürchtet die „Schwerkaft der Kernfamilie“, die Vaterrolle und die damit einhergehende eindeutige Männlichkeit, mit der er nach wie vor hadert. Deshalb fasst er den Plan, mit Katrina und Reese eine Dreiecks-Elternschaft einzugehen – im besten Falle eine Win-Win-Win-Konstellation, die Kinderwunsch, queeres Familienleben und geteilte Sorgearbeit vereinbaren soll.
Was erst mal arg konstruiert klingt, wird durch Peters unverblümten Stil und ihre widersprüchlichen und komplexen Charaktere zum Leben erweckt. Reese gibt sich auf liebenswürdig-selbstbezogene Art ihrem Traum von der Hausfrauen-Idylle hin und schaut sich spöttisch selbst dabei zu. Ihr ist völlig bewusst, wie problematisch die überlieferte Gleichsetzung von Frau und Mutter ist, und doch besteht sie auf ihr Recht, genau diesem Weiblichkeits-Ideal nachzueifern. „Ich will dieselbe Bestätigung, die andere Mütter haben. Das Gefühl, eine Frau zu sein, die ihren Platz in einer Familie hat. Diese Bestätigung ist bei cis Frauen okay, bei mir wird so getan, als wäre es pervers.“ Katrina wiederum zweifelt nach einer Fehlgeburt, nach der die Trauer irgendwie ausblieb, ob sie überhaupt „muttertauglich“ ist.
Die Frage nach dem Verhältnis von Mutterschaft und Geschlecht hat eine lange feministische Tradition: Während essentialistische Feministinnen eine biologisch bedingte und mystisch aufgeladene Gaia-Weiblichkeit als Gegenpol zum männlichen Individualismus vertreten, betonen Vertreterinnen eines materialistischen und queeren Feminismus die unterdrückerische Funktion des Mutter-Ideals. Die Philosophin Silvia Federici schreibt in ihrem Buch „Aufstand aus der Küche“ darüber, wie die Naturalisierung von Fürsorge als dezidiert weibliche Qualität die tatsächliche Arbeit im Haushalt verschleiert. Andere Theoretikerinnen wie Eve Kosfosky Sedgwick betonen dabei die existenzielle Notwendigkeit, füreinander zu sorgen – gerade für queere Menschen, die, oftmals von ihren Herkunftsfamilien verstoßen, neue familiäre Bande knüpfen. Torrey Peters erzählt zum Beispiel von Reese als bereits mehrfacher „Mutter“ für „trans Babys“, wie sie frisch geoutete Freundinnen liebevoll nennt. Auch ihre Beziehung zu Ames, damals noch Amy, schwankt zwischen romantischer und elterlicher Liebe.
Peters beschreibt die queer-familiären Verflechtungen, ohne sie zu idealisieren. Sie lässt Ames darüber sinnieren, wie trans Frauen frühe Verletzungen in ihre aktuellen Beziehungen tragen, wie verwaiste Jung-Elefanten, deren Mütter von Wilderern brutal getötet wurden: „Am neuen Ort angekommen, in einer Savanne ohne ältere Tiere, taten sich die drei traumatisierten Elefanten in ihrem gemeinsamen Kummer und ihrer Trauer zusammen und übten Rache aneinander und an der Welt.“ Auch das Dreiergespann aus Ames, Reese und Katrina verfängt sich in emotionalen Fallstricken. Obwohl Katrina sich nach und nach für die Unkonventionalität des Eltern-Trios begeistert und sich davon einen Ausweg aus verkrusteten Hetero-Dynamiken verspricht, stolpern die drei über Ängste, Wunden und das Fehlen vorgelebter Lebensmodelle. So wie sich Peters zum Thema queerer Wahlverwandtschaft keinen Illusionen hingibt, schreckt sie nicht vor einer kritischen Beobachtung der New Yorker trans Community zurück. Sie hat kein Twitter-Einmaleins zu befolgen, das für ein cis Publikum Do’s und Don’ts gegenüber trans Menschen auflistet, sondern schreibt ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung als trans Frau für eine queere Leserschaft – und für alle anderen, die keine pädagogische Heranführung erwarten. Diese Ehrlichkeit tut mitunter weh: Reese erkennt etwa, wie ihr der gewalttätige Besitzanspruch eines männlichen Partners das Gefühl gibt, eine richtige Frau zu sein. Man kann aber auch darüber lachen, wenn etwa Ames beziehungsweise Amy sich am Anfang der Östrogen-Behandlung gegen die Aufbewahrung ihrer Spermien in einer Samenbank entscheidet, um mit dem Geld stattdessen ihr HBO-Abo zu bezahlen.
Dass Peters sich auch an unangenehme Themen wagt, zeigt sich besonders am Thema der „Detransition“. Es ist der Begriff für eine Gender-Biografie, in der auf die erste Geschlechtsangleichung eine zweite folgt, die die erste rückgängig macht. So wie bei Ames: Nach seinem Coming-Out als trans Frau mit Mitte Zwanzig bricht er ein paar Jahre später die Hormonbehandlung ab, ändert Namen, Pronomen und Garderobe wieder und lebt als Mann. Solche Geschichten werden von transfeindlichen Akteuren oft als Argument genutzt, um das Existenzrecht von trans Menschen in Frage zu stellen – offenbar bereuten sie ihre Transition ja früher oder später selbst.
Es sind allerdings nur wenige trans Menschen, die ihre Transition rückgängig machen. Und dass es für eine solche Entscheidung nachvollziehbare Gründe gibt, macht Peters durch ihren Protagonisten Ames verständlich. Er spricht von Verletzungen, Unsicherheiten und einer einschneidenden Diskriminierungserfahrung: „Danach fand ich es einfach beschissen zu hart, als trans Frau zu leben.“ Indem Peters das Zusammenspiel von Geschlechtsidentität, Gender-Performance und gesellschaftlicher Realität in seine verschiedenen Dimensionen auflöst, ist sie jeder denkbaren polemischen Instrumentalisierung voraus.
Und doch gab es hasserfüllten Reaktionen, als Torrey Peters für den Women’s Prize for Fiction 2021 nominiert worden war. Ein offener Brief, unterschrieben von lebenden Schriftstellerinnen (und kurioserweise ein paar toten wie Emily Dickinson), missgenderte Peters konsequent und unterstellte ihr, die Institution für Frauenliteratur zu infiltrieren. Da war wieder der transfeindliche Mythos am Werk, als Frauen verkleidete Männer arbeiteten an der Unterdrückung „echter“ Frauen. Wie dieses Schüren von Angst jeglichen Verständnisses für die Lebensrealitäten echter trans Frauen entbehrt, auch das zeigt dieses Buch eindrücklich.
NORA NOLL
Peters traut sich aber auch die
kritische Beobachtung der
New Yorker trans Community
Schmerzhaft ehrliche Beschreibungen: Torrey Peters.
Foto: Natasha Gornik
Torrey Peters:
Detransition, Baby.
Aus dem Englischen
von Nicole Seifert und Frank Siefert.
Ullstein, 2022.
372 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de