Detroit ist Amerikas Niederlage. Was einmal die Welthauptstadt der Moderne war, ist heute ein episches Trümmerfeld aus Kriminalität, Drogen, Arbeits- und Trostlosigkeit. Schwärzer kann urbane Romantik nicht werden. Wolfgang Koelbl zeigt, dass diese Niederlage nicht zufällig passiert ist, sondern einem logischen Ablauf folgt. Die USA erzeugen die kraftvollste Version der Moderne und verschulden gerade deswegen die schlimmsten Verwüstungen. Diese fatale Gleichzeitigkeit macht die Niederlage von Detroit zum international einzigartigen Lehrstück. Nur wer verstanden hat, was hier passiert ist, kann eine konstruktive Erneuerung der Moderne in Angriff nehmen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Detroit war einst eine der wichtigsten Industriestädte überhaupt, der Architekt Wolfang Koelbl besingt nun ihren Untergang, berichtet Rezensent Jan Hansen. Mit "einem Hang zu Übertreibung" erzähle der Autor davon, wie es seiner Meinung nach schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Stadt bergab geht, ein Abwärtstrend, der mit dem Wegzug von General Motors ins Bodenlose stürzte und, Koelbl zufolge, exemplarisch für Amerika steht. Hansen ist skeptisch, ob man das europäische Verständnis einer Stadt als Ort des Zusammenhalts wirklich auf Detroit übertragen kann, findet aber Gefallen an reformierenden Städtebauprojekten wie dem"Renaissance Center" oder "Lafayette Park", die Koelbl anführt. Mal schauen, ob sich die pessimistische Prognose des Autors erfüllt oder ob Detroit doch noch zu retten ist, schließt der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2024Ein Leben im Katastrophenblues
Wer Amerika verstehen will, muss diese Stadt betrachten: Wolfgang Koelbl stimmt einen Abgesang auf die ehemals boomende Metropole Detroit an.
Alle sind weggezogen", sagt die Hauptfigur in Jim Jarmuschs Film "Only Lovers Left Alive" (2013) über Detroit. Dieser lakonische Satz zeugt vom Niedergang eines Ortes, der einmal das unbestrittene industrielle Zentrum Nordamerikas war. Einst als "Motor City" oder das Paris des mittleren Westens bekannt, hat sich Detroit im Verlauf der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem Ort entwickelt, der von Deindustrialisierung, Infrastrukturmangel, kommunalen Schulden, Arbeitslosigkeit, Drogen und Kriminalität geplagt ist.
Der österreichische Architekt und Architekturwissenschaftler Wolfgang Koelbl hat ein Buch geschrieben, das einen Abgesang auf Detroit bietet. Wenn Hollywood eine Filmstadt ist und das Silicon Valley eine Technologiestadt, dann ist Detroit dem Autor zufolge eine "Stadt in Moll", wo Menschen "im Katastrophenblues baden". Wortmächtig und mit einem Hang zur Übertreibung beschwört Koelbl das Bild einer zerfallenden Metropole: Brachen, Ruinen, leere Häuser und gespenstische Parkplätze - das Gegenteil eines gelungenen urbanen Raums.
Dass es sich bei Detroit um einen in vielerlei Hinsicht verlassenen Ort handelt, ist ein bekanntes Motiv in der urbanistischen Forschung. Dem Abzug der Großindustrie folgte der Rückbau der Stadt. Vor hundert Jahren begannen wichtige Automobilhersteller wie Ford, General Motors und Chrysler, ihre Produktionsstätten von den Innenstadtbezirken in die Vororte zu verlagern, wo sie von günstigeren Steuersätzen und mehr Platz profitierten. Die Menschen aus der Arbeiter- und Mittelschicht zogen den Jobs hinterher.
In den Siebzigerjahren nahmen die Auftragszahlen aufgrund der Ölpreiskrise und allgemeiner wirtschaftlicher Probleme in den USA dramatisch ab, während japanische Autohersteller Marktanteile gewannen. General Motors entließ 30.000 von 80.000 Arbeitern im Großraum Detroit und verlagerte einen Teil seiner Produktion nach Mexiko. Damit verlor ausgerechnet ein Vorort wie Flint, der zuvor die Innenstadt von Detroit als Zentrum der Autoindustrie verdrängt hatte, etliche Jobs. Michael Moore hat darüber mit "Roger & Me" (1989) eine erhellende Dokumentation gedreht.
Koelbl erzählt die Geschichte der Stadtentwicklung Detroits in einem weiten Bogen von der ersten europäischen Besiedlung über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis in die Gegenwart. Mit Detroit sei es seit den 1910er-Jahren bergab gegangen. Zwar habe der Wirtschaftsstandort durch den Zweiten Weltkrieg eine Verschnaufpause gewonnen (General Motors wurde zum weltweit größten Waffenproduzenten, und Chrysler baute mehr Panzer als die Nationalsozialisten). Doch viele Fehler seien früher gemacht worden, wie das Versäumnis, Downtown auch für wohlhabende Mittelschichten attraktiver zu gestalten. Die Unruhen von 1967 trugen dazu bei, dass sich die Flucht der weißen und schwarzen Mittelschichten in die Vororte weiter beschleunigte.
Der Autor liest die Geschichte Detroits als Lehrstück über Probleme der amerikanischen Gesellschaft. Seine These lautet: Wer Amerika verstehen will, muss nach Detroit schauen, denn die Stadt sei "Amerikas Niederlage", wie es plakativ im Buchtitel heißt. In den Autofabriken von Detroit verdichtete sich der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas. Das Automobil ebnete den Weg für die Suburbanisierung und läutete den Tod des öffentlichen Personennahverkehrs ein. Doch während immer mehr Einfamilienhäuser in den Vorstädten entstanden, verödeten die Innenstädte. Der Bau von Shopping Malls entleerte die Straßen, und Fehler in der Stadtplanung vertieften die Gräben zwischen den Vierteln. Das Grundproblem sei, so Koelbl, dass Detroit wie viele andere Städte in den USA keine innere Solidarität aufbringe. Detroit fehle ein "Referenzort des Beharrens in seiner zentralen Stadtanlage".
Eine solche Interpretation der amerikanischen Geschichte, die im Übrigen nicht neu ist, verweist auf eine größere Frage, die Koelbl zwar aufwirft, aber nicht wirklich beantwortet: Ist es sinnvoll, die amerikanische Stadt und ihre Probleme am europäischen Idealtypus der Stadt (und ihrer gesellschaftsbildenden Funktion) zu messen? Inwiefern kann menschliches Zusammenleben auch in anders strukturierten Räumen gelingen? Besonders aufschlussreich ist das Buch deshalb, wenn Koelbl urbane Rettungsprojekte wie das Renaissance Center von John Portman, städtebauliche Experimente wie Mies van der Rohes Lafayette Park oder auch die räumliche Neuordnung von Arbeitswelten in Fords Fabriken diskutiert.
Zudem betrachtet Koelbl Detroit als Paradebeispiel für das Scheitern der Moderne, das er vom Projekt der Romantik abgrenzt. Mit Zitaten von Hegel, Fichte und Schelling sowie Peter Sloterdijk, Gilles Deleuze und Félix Guattari versucht er darzulegen, dass die Moderne in Detroit zwar große Erfolge verzeichnete (Stichwort: Fordismus), jedoch im Zuge der Deindustrialisierung und Stadtflucht eine ihrer einschneidenden Niederlagen erlitt. Dies mag zutreffend sein, doch die Passagen über das Zusammenspiel von Moderne und Romantik zählen mit ihrer raunenden Prosa nicht zu den Stärken des Buches.
Ist Detroit noch zu retten? Koelbl ist skeptisch. Zwar seien aus dem Trümmerfeld, das die Stadt darstellt, immer wieder Impulse der kulturellen Erneuerung wie die Motown- oder Techno-Musik hervorgegangen, und auch Jack White und Eminem seien durch die für Detroit typische Ernüchterungserfahrung inspiriert worden. Dennoch zweifelt Koelbl an der Möglichkeit einer Wiederbelebung der Stadt. In der Tat sind die Herausforderungen enorm: Detroit meldete 2013 Konkurs an, und an vielen Orten erobert sich die Natur zurück, was einst Stadt war. Trotzdem geben kommunale und private Entwicklungsprojekte Grund zu Hoffnung. Wie heißt es so schön am Ende des Films "Only Lovers Left Alive"? "Es gibt Wasser hier. Dieser Ort wird blühen." JAN HANSEN
Wolfgang Koelbl: "Detroit". Amerikas Niederlage. Vom Aufstieg und Fall der Welthauptstadt der Moderne.
Transcript Verlag, Bielefeld 2024.
680 S., br., 45,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer Amerika verstehen will, muss diese Stadt betrachten: Wolfgang Koelbl stimmt einen Abgesang auf die ehemals boomende Metropole Detroit an.
Alle sind weggezogen", sagt die Hauptfigur in Jim Jarmuschs Film "Only Lovers Left Alive" (2013) über Detroit. Dieser lakonische Satz zeugt vom Niedergang eines Ortes, der einmal das unbestrittene industrielle Zentrum Nordamerikas war. Einst als "Motor City" oder das Paris des mittleren Westens bekannt, hat sich Detroit im Verlauf der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem Ort entwickelt, der von Deindustrialisierung, Infrastrukturmangel, kommunalen Schulden, Arbeitslosigkeit, Drogen und Kriminalität geplagt ist.
Der österreichische Architekt und Architekturwissenschaftler Wolfgang Koelbl hat ein Buch geschrieben, das einen Abgesang auf Detroit bietet. Wenn Hollywood eine Filmstadt ist und das Silicon Valley eine Technologiestadt, dann ist Detroit dem Autor zufolge eine "Stadt in Moll", wo Menschen "im Katastrophenblues baden". Wortmächtig und mit einem Hang zur Übertreibung beschwört Koelbl das Bild einer zerfallenden Metropole: Brachen, Ruinen, leere Häuser und gespenstische Parkplätze - das Gegenteil eines gelungenen urbanen Raums.
Dass es sich bei Detroit um einen in vielerlei Hinsicht verlassenen Ort handelt, ist ein bekanntes Motiv in der urbanistischen Forschung. Dem Abzug der Großindustrie folgte der Rückbau der Stadt. Vor hundert Jahren begannen wichtige Automobilhersteller wie Ford, General Motors und Chrysler, ihre Produktionsstätten von den Innenstadtbezirken in die Vororte zu verlagern, wo sie von günstigeren Steuersätzen und mehr Platz profitierten. Die Menschen aus der Arbeiter- und Mittelschicht zogen den Jobs hinterher.
In den Siebzigerjahren nahmen die Auftragszahlen aufgrund der Ölpreiskrise und allgemeiner wirtschaftlicher Probleme in den USA dramatisch ab, während japanische Autohersteller Marktanteile gewannen. General Motors entließ 30.000 von 80.000 Arbeitern im Großraum Detroit und verlagerte einen Teil seiner Produktion nach Mexiko. Damit verlor ausgerechnet ein Vorort wie Flint, der zuvor die Innenstadt von Detroit als Zentrum der Autoindustrie verdrängt hatte, etliche Jobs. Michael Moore hat darüber mit "Roger & Me" (1989) eine erhellende Dokumentation gedreht.
Koelbl erzählt die Geschichte der Stadtentwicklung Detroits in einem weiten Bogen von der ersten europäischen Besiedlung über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis in die Gegenwart. Mit Detroit sei es seit den 1910er-Jahren bergab gegangen. Zwar habe der Wirtschaftsstandort durch den Zweiten Weltkrieg eine Verschnaufpause gewonnen (General Motors wurde zum weltweit größten Waffenproduzenten, und Chrysler baute mehr Panzer als die Nationalsozialisten). Doch viele Fehler seien früher gemacht worden, wie das Versäumnis, Downtown auch für wohlhabende Mittelschichten attraktiver zu gestalten. Die Unruhen von 1967 trugen dazu bei, dass sich die Flucht der weißen und schwarzen Mittelschichten in die Vororte weiter beschleunigte.
Der Autor liest die Geschichte Detroits als Lehrstück über Probleme der amerikanischen Gesellschaft. Seine These lautet: Wer Amerika verstehen will, muss nach Detroit schauen, denn die Stadt sei "Amerikas Niederlage", wie es plakativ im Buchtitel heißt. In den Autofabriken von Detroit verdichtete sich der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas. Das Automobil ebnete den Weg für die Suburbanisierung und läutete den Tod des öffentlichen Personennahverkehrs ein. Doch während immer mehr Einfamilienhäuser in den Vorstädten entstanden, verödeten die Innenstädte. Der Bau von Shopping Malls entleerte die Straßen, und Fehler in der Stadtplanung vertieften die Gräben zwischen den Vierteln. Das Grundproblem sei, so Koelbl, dass Detroit wie viele andere Städte in den USA keine innere Solidarität aufbringe. Detroit fehle ein "Referenzort des Beharrens in seiner zentralen Stadtanlage".
Eine solche Interpretation der amerikanischen Geschichte, die im Übrigen nicht neu ist, verweist auf eine größere Frage, die Koelbl zwar aufwirft, aber nicht wirklich beantwortet: Ist es sinnvoll, die amerikanische Stadt und ihre Probleme am europäischen Idealtypus der Stadt (und ihrer gesellschaftsbildenden Funktion) zu messen? Inwiefern kann menschliches Zusammenleben auch in anders strukturierten Räumen gelingen? Besonders aufschlussreich ist das Buch deshalb, wenn Koelbl urbane Rettungsprojekte wie das Renaissance Center von John Portman, städtebauliche Experimente wie Mies van der Rohes Lafayette Park oder auch die räumliche Neuordnung von Arbeitswelten in Fords Fabriken diskutiert.
Zudem betrachtet Koelbl Detroit als Paradebeispiel für das Scheitern der Moderne, das er vom Projekt der Romantik abgrenzt. Mit Zitaten von Hegel, Fichte und Schelling sowie Peter Sloterdijk, Gilles Deleuze und Félix Guattari versucht er darzulegen, dass die Moderne in Detroit zwar große Erfolge verzeichnete (Stichwort: Fordismus), jedoch im Zuge der Deindustrialisierung und Stadtflucht eine ihrer einschneidenden Niederlagen erlitt. Dies mag zutreffend sein, doch die Passagen über das Zusammenspiel von Moderne und Romantik zählen mit ihrer raunenden Prosa nicht zu den Stärken des Buches.
Ist Detroit noch zu retten? Koelbl ist skeptisch. Zwar seien aus dem Trümmerfeld, das die Stadt darstellt, immer wieder Impulse der kulturellen Erneuerung wie die Motown- oder Techno-Musik hervorgegangen, und auch Jack White und Eminem seien durch die für Detroit typische Ernüchterungserfahrung inspiriert worden. Dennoch zweifelt Koelbl an der Möglichkeit einer Wiederbelebung der Stadt. In der Tat sind die Herausforderungen enorm: Detroit meldete 2013 Konkurs an, und an vielen Orten erobert sich die Natur zurück, was einst Stadt war. Trotzdem geben kommunale und private Entwicklungsprojekte Grund zu Hoffnung. Wie heißt es so schön am Ende des Films "Only Lovers Left Alive"? "Es gibt Wasser hier. Dieser Ort wird blühen." JAN HANSEN
Wolfgang Koelbl: "Detroit". Amerikas Niederlage. Vom Aufstieg und Fall der Welthauptstadt der Moderne.
Transcript Verlag, Bielefeld 2024.
680 S., br., 45,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Da Städte die größten menschlichen Ereignisse sind, gibt es [...] nur wenige Bücher, die eine Metropolregion in ihrer Gesamtheit sehen und zeigen. Damit ist das Buch Grundlagenforschung, sollte in jeder guten Bibliothek stehen.«
Karl-Heinz Walloch, www.wallos-kulturschock.de, 29.04.2024 20240429
Karl-Heinz Walloch, www.wallos-kulturschock.de, 29.04.2024 20240429