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In den in diesem Band enthaltenen Texten wird nicht lediglich über bestimmte Figuren und Trends der zeitgenössischen französischen Philosophie und über deren Verbindung zu Deutschland gesprochen, Waldenfels kommt es vielmehr darauf an, mit solchen französischen Autoren und Texten weiterzudenken, die ihrerseits entscheidende Anregungen der deutschsprachigen Philosophie verdanken.

Produktbeschreibung
In den in diesem Band enthaltenen Texten wird nicht lediglich über bestimmte Figuren und Trends der zeitgenössischen französischen Philosophie und über deren Verbindung zu Deutschland gesprochen, Waldenfels kommt es vielmehr darauf an, mit solchen französischen Autoren und Texten weiterzudenken, die ihrerseits entscheidende Anregungen der deutschsprachigen Philosophie verdanken.
Autorenporträt
Waldenfels, BernhardBernhard Waldenfels, geboren 1934 in Essen, ist Professor emeritus für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.1995

Ordnung ist das halbe Leben
Bernhard Waldenfels möchte in Deutschland die Vernunft erweitern und in Frankreich den Kopf aufräumen

"Der Deutsche kann nur in Gedanken gehen, der Franzose aber im Gehen denken. Bei dem Franzosen hängen die Gedanken vom Gehen ab, bei dem Deutschen das Gehen von den Gedanken. Ein Deutscher geht, was er denkt, ein Franzose denkt, was er geht. Ein Franzose denkt sein Laufen ab, ein Deutscher läuft sein Denken ab." So verglich 1843 der Junghegelianer Feodor Wehl Berlin mit Paris, eine Beobachtung, die bis zum heutigen Tag kaum an Stichhaltigkeit eingebüßt hat. Schaut man sich nun die deutsche Boykottfreudigkeit gegenüber französischem Champagner und anderen Waren an, die penetrante Zuschreibung in einigen deutschen Feuilletons, bei den französischen Intellektuellen handelte es sich allenfalls um Mode- und Verpackungskünstler, so erkennt man einen zählebigen antifranzösischen Affekt, der auch vor der Philosophie jenseits des Rheins nicht haltmacht. Von deutschen Kathedern geriert man sich gern als Hüter der gefährdeten französischen Vernunft, attackiert den Postmodernismus und Irrationalismus, dem die französischen Kollegen "tutti quanti" anheimgefallen sein sollen.

Die "querelles franco-allemandes" gleichen weniger einer seriösen Auseinandersetzung denn einem Länderspiel à la "Habermas gegen Foucault" oder "Derrida gegen Gadamer". Allzu häufig verstellt der deutsche Argwohn gegenüber der Pariser Nietzsche-Renaissance und Heidegger-Rezeption den Blick auf das, was sich in den letzten Jahrzehnten tatsächlich in der französischen Philosophielandschaft ereignet hat. Bernhard Waldenfels unternimmt in seinen "Deutsch-Französischen Gedankengängen" den Versuch, eine andere Perspektive auf die jüngere französische Philosophiegeschichte zu eröffnen. Ausgangspunkt ist für ihn die Husserl-Rezeption seiner Kollegen jenseits des Rheins - insbesondere was die Konzeption der "Erfahrung des Fremden" betrifft. Die Umarbeitung und Aufsprengung der Hussereschen Bewußtseinsphilosophie von innen heraus, wie vor allem von Maurice Merleau-Ponty und Emmanuel Levinas geschehen, ist für den Bochumer Philosophie-Professor die Folie, auf der er die französische Vernunftkritik rekonstruiert. Ihm geht es weniger darum, über bestimmte französische Denkfiguren und -tendenzen zu sprechen, als vielmehr mit den französischen Autoren und Texten weiterzudenken.

Neben Merleau-Ponty und Levinas konstelliert Waldenfels in dem vorliegenden Band die Gedanken von Jacques Derrida, Cornelius Castoriadis, Michel Foucault, Francis Jacques, François Lyotard und Paul Ricæur. Der abschließende Rekurs auf Marcel Proust und Friedrich Nietzsche mündet im eigenen Ausblick des Autors, der sinnigerweise als "zerstreuter Dialog" betitelt ist. Ein wahrhaft ehrgeiziges Unterfangen, das sich zuweilen - auf dem langen Weg durch 450 Seiten - in Details verstrickt und den eingangs anvisierten großen gedanklichen Bogen während der Konstruktion und Rekonstruktion sämtlicher Denkverästelungen aus dem Blick verliert. Die Präsentation der eigenen Belesenheit läßt die Darstellung der fremden Denkansätze zuweilen an Kontur verlieren und beraubt sie ihrer zuvor postulierten Eigenheit. Doch die Wege, die Waldenfels abschreitet, die Verschränkungen und Korrespondenzen, die er zwischen den differenten Philosophietraditionen und Denkfiguren herstellt, verdienen, insbesondere in deutschen Landen, gebührenden Respekt.

In Anknüpfung an Husserl betont Waldenfels: "Das Fremde ist bedroht durch Rückführung auf das Eigene und durch Eingliederung in ein Ganzes, wobei beide Instanzen, das Ego und der Logos, sich vielfach verbünden. Die Erfahrung des Fremden als Fremdem sperrt sich gegen jede Form von Totalisierung und Universalisierung." Wider die deutsche Neigung zum Konsens geht es ihm um die Vervielfältigung der Blickwinkel und Sprachorte, die er in den französischen formen des "déplacement", der "déviation" und "déformation" eher gewährleistet sieht; sie eröffnen letztlich erst die Möglichkeiten neuer Denkspielräume. Der Neigung deutscher Philosophen, Ordnungen zu rechtfertigen, begegnen französische Denker eher mit der Lust, neue Ordnungen zu kreieren. Dies mag nicht zuletzt auf die unterschiedlichen religiös-konfessionellen Traditionen zurückgehen, die die beiden Länder bis zum heutigen Tag prägen.

In den unterschiedlichen Traditionen der Vernunftkritik zeigt sich dies am offensichtlichsten: Jürgen Habermas und andere Vertreter der neueren Kritischen Theorie bemühen sich um die Rettung der modernen Vernunft, die - so Waldenfels - mit der Reduktion auf einen formal-differenzierten Grundriß erkauft wurde. In der Folge haben wir es dann mit einer theoretisch-wissenschaftlichen, einer moralisch-rechtlichen und einer ästhetischen Rationalität zu tun, die jeweils eigene formale Geltungsansprüche erheben. Die Materialität der Vernunft, das heißt nicht zuletzt die Erfahrungs- und Handlungsebene der Subjekte wird den kontingenten empirischen Lebens- und Kulturformen überantwortet, die dann nicht mehr Gegenstand eines streitbaren Diskurses sind. Waldenfels sieht in dieser diskurstheoretischen Variante einen latenten Zwang des Diskurses am Werke, "der sich hinter der Zwanglosigkeit zwingender Argumente verschanzt - ohne Rücksicht darauf, daß jedes Argument spezifischen Argumentationsfeldern entstammt und auf Präferenzen beruht, die sich selbst wieder argumentativ einholen lassen".

Diesen Vernunftbegriff, der die leiblichen, sinnlichen und erfahrungsgebundenen Aspekte der Vernunft ins Reich der Kontingenz verweist, setzen die französischen Vernunftkritiker Rationalitäten im Plural entgegen. Merleau-Ponty sieht deshalb die Aufgabe gestellt, "unsere Vernunft zu erweitern, um sie in den Stand zu setzen, all das zu umgreifen, was in uns und in den Anderen der Vernunft vorausgeht und über sie hinausgeht".

Diese Transformation der Vernunft, der sich die französische Philosophie seit den dreißiger Jahren widmet, bedeutet keineswegs einen Abgesang auf sie - wie von deutscher Seite gerne konstatiert wird. Vielmehr handelt es sich um eine Radikalisierung, die von der Verkörperung (Husserl) über die Erweiterung (Merleau-Ponty) bis zur Vervielfältigung und Zerstreuung (Foucault, Derrida) der Vernunft reicht; eine Vernunft also, die kein singuläres Zentrum mehr hat, sondern sich in verschiedene Felder zerteilt. Der Leib, die Körperlichkeit, sinnliche Wahrnehmung und Begehren gewinnen in diesen Konzeptionen (aber auch bei Jean-Paul Sartre oder Roland Barthes) eine Bedeutung, die dem deutschen Vernunftdiskurs aufs höchste fremd ist. Die leibliche Existenz als Ausgangspunkt des Nachdenkens, als Vermittlungsinstanz zwischen innen und außen, Privatem und Öffentlichem, Eigenem und Fremdem ist der französischen Rationalitätskritik nicht äußerlich, sondern geradezu Bedingung ihrer Konstitution. Während dem deutschen Vernunftdenken in seiner Leibfeindschaft der protestantische Geist bis zum heutigen Tage eingeschrieben ist: Der Leib tritt in der Regel als Kontrahent oder Dienstbote des Geistes, der Seele oder des Bewußtseins auf.

Auch auf sprachtheoretischer Ebene setzt sich diese deutsch-französische Differenz vehement fort: Merleau-Ponty - dem Waldenfels einen bedeutenden Raum in seiner Abhandlung zukommen läßt - geht davon aus, daß jede Produktion des Geistes Antwort und Appell, gleichsam Ko-Produktion ist. Der schöpferische Ausdruck wird zum responsiven, in dem er nicht nur aus den eigenen vorhandenen Potentialen schöpft, sondern der Herausforderung fremder Ansprüche begegnet. Vor diesem Hintergrund kann Merleau-Ponty dann zwischen bestehenden und entstehenden Wahrheiten unterscheiden: "Unser Bezug zum Wahren führt über die Anderen. Entweder wir gelangen zur Wahrheit mit ihnen, oder es ist nicht die Wahrheit, zu der wir gelangen."

Auch Foucault geht in seinen Untersuchungen der Formation, Deformation und Transformation historisch differenzierter und variabler Ordnungen von Bedeutungsverhältnissen aus, die die Wahrheit selbst zutiefst berühren; undenkbar ist sie, wenn Machtkomponenten ausgeblendet werden. Der herrschaftsfreie Diskurs à la Habermas erschien ihm deshalb als Illusion.

Der mangelnden Differenz von Moral und Recht in der Diskursethik stellt Waldenfels den Begriff der Verantwortung entgegen, wie ihn Emmanuel Levinas in seiner Ethik entwickelt: Verantwortung abgeleitet von Antworten. Waldenfels sieht darin den Versuch einer Genealogie der Moral, der - in einer responsiven Ethik mündend - der "Verwundbarkeit des Anderen" gerecht wird. Auch dies im Gegensatz zu einer kommunikativen Ethik, die sich vorweg schon auf einem Boden der Gemeinsamkeit bewegt: "Eine Moralität, die zur universalistischen Legalität zusammenschrumpft und sich auf eine verallgemeinerte Gesetzesbefolgung aus ungeklärten Motiven reduziert, bietet keine Barriere mehr gegen eine Normalisierungsmaschinerie, in der alles mit rechten Dingen zugeht und alles Mögliche sich sagen tun und mitteilen läßt, ohne daß es noch etwas zu sagen und zu tun gäbe, was sich lohnt."

Wer sich den Abenteuern der Vernunft hingibt, läuft auch Gefahr, sich an die Unvernunft zu verlieren - eine geläufige Unterstellung in Richtung Paris. In deutschen Denkstuben hingegen ist die Sehnsucht nach bruchloser Einheit und Konsens immer noch mächtiger als der Blick auf Fremdes und die Anerkennung der Differenz. Ein wenig mehr Erfahrungsoffenheit diesseits und jenseits der Grenze, Bewegungen zwischen den Grenzen, die Handlungs-, Denk- und Spielräume zwischen Eigenem und Fremden eröffnen, ohne zu annektieren, könnte die Angst vor der Vielstimmigkeit von Diskursordnungen vielleicht bannen. ULRIKE ACKERMANN

Bernhard Waldenfels: "Deutsch-Französische Gedankengänge". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 457 S., geb., 68,- DM.

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