Die Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit hat sich gleich bei ihrem Erscheinen den Ruf eines Standardwerks erworben. Die vier Bände werden jetzt in einer Sonderausgabe vorgelegt, die sie einem noch größeren Publikum zugänglich machen sollen. Das Werk setzt ein mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts, stellt den Weg zur Emanzipation und Akkulturation dar, der doch nie zur vollständigen Integration in die deutsche Gesellschaft führt, und schließt mit der Ausgrenzung der Juden und ihrer systematischen Ermordung unter dem NS-Regime. Aber: "Trotz der erdrückenden Realität des Holocaust, die die hier erzählte Geschichte auf tragische Weise beendet hat" , ist es nicht im Hinblick auf ihn angelegt. Die deutsch-jüdische Geschichte erscheint hier als "Bestandteil der Geschichte des jüdischen Volkes wie der der Deutschen" (M. A. Meyer), einer Geschichte freilich, in der am Ende alle Hoffnungen der Juden zunichte werden, ihr außerordentlicher Beitrag zur deutschen Kultur geleugnet wird.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.1997Spielbälle im unnachgiebigen Netz der Bürokratie
Chronik einer untergegangenen Diaspora: Deutsche Juden in der Neuzeit
Leo Baeck war der letzte große Rabbiner des deutschen Judentums. Er wurde nach Theresienstadt verschleppt und lebte später im englischen Exil. Auch die Zweigstellen des nach ihm benannten Instituts liegen heute nicht mehr in Deutschland, sondern in New York, London und Jerusalem, drei Fluchtpunkten der von Hitler vertriebenen Juden. Schon die Existenz dieses Instituts symbolisiert das Ende des deutschen Judentums, und seiner auf vier Bände konzipierten "Deutsch-jüdischen Geschichte in der Neuzeit" ist daher eine tiefe Ambivalenz eingeschrieben.
Ein historisches Selbstverständnis der Juden wäre einerseits ohne ihre Berührung mit der deutschen Kultur kaum denkbar. In den Städten dieser Kultur - Berlin, Prag, Wien - lösten sie sich erstmals aus den Ghettos, sahen sich nicht mehr als heiliges Volk sub specie aeternitatis, sondern traten bewußt in die Geschichte ein. Die erste Gesamtdarstellung ihrer Vergangenheit wurde von dem deutschen Juden Heinrich Graetz geschrieben, und sein vielbändiges Werk erschien nicht zufällig von 1855 bis 1874, in der liberalen Zeit zwischen der Revolution des Jahres 1848 und der Reichsgründung Bismarcks. Während Deutschland sich konsolidierte, wollten auch die Juden sich mit ihrer eigenen Geschichte in die neu entstehende Nation einbringen.
Der Optimismus, den Graetz noch auf eine hoffnungsvolle Gegenwart und Zukunft projizieren konnte, ist sinnlos geworden. Für Graetz, schreibt Michael A. Meyer, "hatten die deutschen Juden seit Moses Mendelssohn eine Wiedergeburt des Judentums in modernem Gewande herbeigeführt" - eine aus der Berührung mit Deutschland erwachsene Modernisierung des Judentums freilich, die sich dann auf eine Weise vollzog, die mit Graetz' Erwartungen nichts mehr zu tun hat.
Meyer, 1937 noch in Berlin geboren und heute Professor für Jüdische Geschichte am Hebrew Union College in Cincinnati, ist Leiter des Gesamtprojektes und einer der drei Autoren des nun vorliegenden zweiten Bandes der Serie. Mit den Jahren 1780 bis 1871 umspannt er die Formationszeit des deutschen Judentums, die gemeinhin als "Emanzipation" bekannt ist und vom ersten Austritt aus dem Ghetto bis zur vollen bürgerlichen Gleichstellung im Jahre 1869 reicht. Es gelingt den Autoren, aus dieser Materie eine positive Linie des Aufstiegs zu konstruieren, doch schon die Aufteilung des Stoffes spiegelt die Problematik wider, mit der jede Geschichte dieses Judentums konfrontiert ist.
Die Berliner Historikerin Stefi Jersch-Wenzel, auch sie Jahrgang 1937, gibt zunächst einen Überblick zu Rechtslage, Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur der Juden zwischen 1780 und 1847; ein gewiß notwendiger Unterbau für alles Folgende, der sich aber leider als allzu spröde erweist. Jersch-Wenzel verfolgt die Rechts-und Wirtschaftsfragen nämlich über weite Strecken im politischen Labyrinth der deutschen Fürstentümer, und daß sich dabei für den Leser keine klare Entwicklung abzeichnen kann, ist noch der geringste Nachteil.
Schlimmer ist es, daß die Juden nur als Spielball einer ihnen übergeordneten Bürokratie sichtbar werden. Jersch-Wenzel schreibt hier in Wirklichkeit keine Geschichte der Juden, sondern bestenfalls eine Geschichte der jüdischen Frage, wie sie sich aus den historischen Akten einer feudalen Verwaltung ausnimmt. Eine jüdische Geschichte läßt sich dabei selbst indirekt nicht gewinnen, weil der Aktenbestand, mit dem Jersch-Wenzel arbeitet, einer völlig anderen Perspektive dient. Er wurde nicht angelegt, um ein jüdisches, sondern um ein deutsches Selbstverständnis zu belegen. Dieses Selbstverständnis, das hat die Zukunft nur allzu deutlich gemacht, hat dem Jüdischen niemals Raum gelassen.
Die übrigen Kapitel sind zwar aus der jüdischen Binnenperspektive geschrieben, aber das ändert nichts daran, daß Deutschlands Juden zur politischen Passivität verurteilt bleiben. In den späteren Teilen des Bandes werden sie daher auch weniger als soziales denn als geistesgeschichtliches Phänomen dargestellt - als eklatantes Beispiel dafür, daß der Weg in die Moderne mit verpaßten Gelegenheiten gepflastert ist.
In erster Linie, so stellt es der Band dar, ging es ihnen im neunzehnten Jahrhundert um eine neue Bestimmung des Judentums unter veränderten Bedingungen. Und es ist aufschlußreich, daß dabei ein altes Schlagwort aus der deutsch-jüdischen Historiographie gegen ein anderes ausgetauscht wird. "Der Begriff ,Assimilation', mit dem Historiker traditionell diese Periode kennzeichneten", schreibt Michael Brenner, als jüngster der Autoren 1964 schon im Nachkriegsdeutschland geboren, "wird mit zunehmender Vorsicht gebraucht. Stellt man die Neudefinition des Judentums und nicht seine Selbstaufgabe in den Mittelpunkt, so erscheint für die Mehrzahl der deutschen Juden in der Tat der weniger ideologisch belastete Begriff ,Akkulturation' eher angebracht. Er impliziert nicht ihr einseitiges Aufgehen innerhalb der deutschen Gesellschaft, sondern den Versuch, sowohl an der jüdischen wie auch an der deutschen Kultur und Gesellschaft teilzuhaben."
Daß das Wort von der Assimilation vermieden wird, ist zunächst ein Stück innerjüdischer Apologetik. Aus offensichtlichen Gründen hat sich die Berührung mit Deutschland dem kollektiven Gedächtnis der Juden als tiefes Trauma eingezeichnet, und dem deutsch-jüdischen "Assimilanten", der seine Wurzeln aufgegeben hat, um sich einem fremden Volk anzugleichen, wird unterschwellig eine Schuld zugewiesen, von der in dieser Chronik einer untergegangenen Diaspora möglichst wenig abfärben soll.
Nicht zufällig betont Michael A. Meyer die traditionellen Bindungen, die das jüdische Leben in Deutschland bis weit ins neunzehnte Jahrhundert bestimmt haben - ein konservativer Zug, der durch das Scheitern der Revolution des Jahres 1848 noch verstärkt wurde und bis in die Gründerzeit sichtbar bleibt. "Juden, die aufgewachsen waren in der überlieferten jüdischen Umwelt", schreibt Meyer, "gaben nicht willig die geheiligten Bräuche der Vorväter preis, mochten die Modernisten, die unter ihnen aufstanden, sie auch unvereinbar finden mit der veränderten Wirklichkeit einer fortgeschrittenen Emanzipation und Akkulturation."
Am Beispiel von vier berühmten Rabbinern stellt Meyer die neuen religiösen Positionen sorgfältig dar, die sich zwischen Orthodoxie und radikaler Reform auffächern und im Jahrzehnt 1835 bis 1845 ideologisch festigen. Neben dem Trennenden aber unterstreicht er auch das Gemeinsame, erläutert an ihm das Wesen des deutschen Judentums und macht so erst deutlich, was mit "Akkulturation" gemeint ist. "Ungeachtet der Unterschiede zwischen den von ihnen vertretenen Ideologien", lesen wir, "hatten diese vier Männer vieles gemeinsam, was sie alle von der Alt-Orthodoxie abhob. Jeder von ihnen hatte an einer Universität studiert, jeder war ein Rabbiner des neuen Typs, der seine Gemeinde ganz in der Art eines christlichen Geistlichen erzog. Alle sprachen deutsch und verfaßten die meisten ihrer Schriften auf deutsch. Auf der Kanzel trugen sie Talar und Beffchen, generell das Abzeichen des Klerus. Keiner der vier sah in diesen formalen Anpassungen einen Verstoß gegen das biblische Verbot, die Nichtjuden nachzuahmen. Zusammen waren sie die geistigen Repräsentanten eines neuen, kohärenten und leicht unterscheidbaren Phänomens: eines spezifisch deutschen Judentums."
Kultur also als Morphologie, als neue Form, in die sich alte Inhalte gießen lassen. Mit der Unterscheidung von "außen" und "innen", der Postulierung eines über ein ganzes Jahrhundert der Emanzipation ungebrochenen Judentums aber zeichnet sich zugleich die zweite Front ab, vor der die Rede von der Assimilation hier vermieden werden soll. Ursprünglich stammt das Wort aus der Biologie, und nicht nur von jüdischer, sondern auch von nichtjüdischer Seite her ist es ein Schimpfwort: In ihm deutet sich schon die neue Art des rassistischen Antisemitismus an, dem das deutsche Judentum schließlich zum Opfer fallen sollte.
Bei Léon Poliakov, dem Historiker des Antisemitismus, läßt sich nachlesen, wie die deutsche Kultur bereits im neunzehnten Jahrhundert dem arischen Mythos den Boden bereitet hat. Die geistigen Mittel des Mordes lagen längst bereit, während sich die Juden noch sicher fühlten, doch die Autoren der vorliegenden Studie lassen davon nur wenig in ihre Darstellung einfließen. Vielleicht tun sie gut daran, das unvermeidliche Übel auf die beiden Abschlußbände ihrer Serie zu verschieben, aber zugleich drängt die von Meyer und Brenner konsequent durchgehaltene jüdische Binnenperspektive auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in den Hintergrund.
Der Judenhaß Richard Wagners bleibt nicht unbesprochen, aber auch die vielen Juden im Bayreuther Kreis werden erwähnt. Wilhelm Marr hat das Wort "Antisemitismus" geprägt, doch daneben wird berichtet, daß drei seiner vier Ehefrauen aus dem Judentum stammten. Es sind Ironien, die dem Ende dieser Geschichte nichts von seiner Härte nehmen können, und auch die Autoren haben es empfunden - am Schluß ihrer Darstellung erzählen sie von "Rom und Jerusalem", dem Roman, in dem Moses Hess schon 1862, lange vor Theodor Herzl, die Alternative des politischen Zionismus vorausahnt. JAKOB HESSING
"Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit". Herausgegeben im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Michael A. Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner. Band II: Emanzipation und Akkulturation 1780-1871. Von Michael Brenner, Stefi Jersch-Wenzel, Michael A. Meyer. Verlag C. H. Beck, München 1996. 402 S., geb., 84,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Chronik einer untergegangenen Diaspora: Deutsche Juden in der Neuzeit
Leo Baeck war der letzte große Rabbiner des deutschen Judentums. Er wurde nach Theresienstadt verschleppt und lebte später im englischen Exil. Auch die Zweigstellen des nach ihm benannten Instituts liegen heute nicht mehr in Deutschland, sondern in New York, London und Jerusalem, drei Fluchtpunkten der von Hitler vertriebenen Juden. Schon die Existenz dieses Instituts symbolisiert das Ende des deutschen Judentums, und seiner auf vier Bände konzipierten "Deutsch-jüdischen Geschichte in der Neuzeit" ist daher eine tiefe Ambivalenz eingeschrieben.
Ein historisches Selbstverständnis der Juden wäre einerseits ohne ihre Berührung mit der deutschen Kultur kaum denkbar. In den Städten dieser Kultur - Berlin, Prag, Wien - lösten sie sich erstmals aus den Ghettos, sahen sich nicht mehr als heiliges Volk sub specie aeternitatis, sondern traten bewußt in die Geschichte ein. Die erste Gesamtdarstellung ihrer Vergangenheit wurde von dem deutschen Juden Heinrich Graetz geschrieben, und sein vielbändiges Werk erschien nicht zufällig von 1855 bis 1874, in der liberalen Zeit zwischen der Revolution des Jahres 1848 und der Reichsgründung Bismarcks. Während Deutschland sich konsolidierte, wollten auch die Juden sich mit ihrer eigenen Geschichte in die neu entstehende Nation einbringen.
Der Optimismus, den Graetz noch auf eine hoffnungsvolle Gegenwart und Zukunft projizieren konnte, ist sinnlos geworden. Für Graetz, schreibt Michael A. Meyer, "hatten die deutschen Juden seit Moses Mendelssohn eine Wiedergeburt des Judentums in modernem Gewande herbeigeführt" - eine aus der Berührung mit Deutschland erwachsene Modernisierung des Judentums freilich, die sich dann auf eine Weise vollzog, die mit Graetz' Erwartungen nichts mehr zu tun hat.
Meyer, 1937 noch in Berlin geboren und heute Professor für Jüdische Geschichte am Hebrew Union College in Cincinnati, ist Leiter des Gesamtprojektes und einer der drei Autoren des nun vorliegenden zweiten Bandes der Serie. Mit den Jahren 1780 bis 1871 umspannt er die Formationszeit des deutschen Judentums, die gemeinhin als "Emanzipation" bekannt ist und vom ersten Austritt aus dem Ghetto bis zur vollen bürgerlichen Gleichstellung im Jahre 1869 reicht. Es gelingt den Autoren, aus dieser Materie eine positive Linie des Aufstiegs zu konstruieren, doch schon die Aufteilung des Stoffes spiegelt die Problematik wider, mit der jede Geschichte dieses Judentums konfrontiert ist.
Die Berliner Historikerin Stefi Jersch-Wenzel, auch sie Jahrgang 1937, gibt zunächst einen Überblick zu Rechtslage, Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur der Juden zwischen 1780 und 1847; ein gewiß notwendiger Unterbau für alles Folgende, der sich aber leider als allzu spröde erweist. Jersch-Wenzel verfolgt die Rechts-und Wirtschaftsfragen nämlich über weite Strecken im politischen Labyrinth der deutschen Fürstentümer, und daß sich dabei für den Leser keine klare Entwicklung abzeichnen kann, ist noch der geringste Nachteil.
Schlimmer ist es, daß die Juden nur als Spielball einer ihnen übergeordneten Bürokratie sichtbar werden. Jersch-Wenzel schreibt hier in Wirklichkeit keine Geschichte der Juden, sondern bestenfalls eine Geschichte der jüdischen Frage, wie sie sich aus den historischen Akten einer feudalen Verwaltung ausnimmt. Eine jüdische Geschichte läßt sich dabei selbst indirekt nicht gewinnen, weil der Aktenbestand, mit dem Jersch-Wenzel arbeitet, einer völlig anderen Perspektive dient. Er wurde nicht angelegt, um ein jüdisches, sondern um ein deutsches Selbstverständnis zu belegen. Dieses Selbstverständnis, das hat die Zukunft nur allzu deutlich gemacht, hat dem Jüdischen niemals Raum gelassen.
Die übrigen Kapitel sind zwar aus der jüdischen Binnenperspektive geschrieben, aber das ändert nichts daran, daß Deutschlands Juden zur politischen Passivität verurteilt bleiben. In den späteren Teilen des Bandes werden sie daher auch weniger als soziales denn als geistesgeschichtliches Phänomen dargestellt - als eklatantes Beispiel dafür, daß der Weg in die Moderne mit verpaßten Gelegenheiten gepflastert ist.
In erster Linie, so stellt es der Band dar, ging es ihnen im neunzehnten Jahrhundert um eine neue Bestimmung des Judentums unter veränderten Bedingungen. Und es ist aufschlußreich, daß dabei ein altes Schlagwort aus der deutsch-jüdischen Historiographie gegen ein anderes ausgetauscht wird. "Der Begriff ,Assimilation', mit dem Historiker traditionell diese Periode kennzeichneten", schreibt Michael Brenner, als jüngster der Autoren 1964 schon im Nachkriegsdeutschland geboren, "wird mit zunehmender Vorsicht gebraucht. Stellt man die Neudefinition des Judentums und nicht seine Selbstaufgabe in den Mittelpunkt, so erscheint für die Mehrzahl der deutschen Juden in der Tat der weniger ideologisch belastete Begriff ,Akkulturation' eher angebracht. Er impliziert nicht ihr einseitiges Aufgehen innerhalb der deutschen Gesellschaft, sondern den Versuch, sowohl an der jüdischen wie auch an der deutschen Kultur und Gesellschaft teilzuhaben."
Daß das Wort von der Assimilation vermieden wird, ist zunächst ein Stück innerjüdischer Apologetik. Aus offensichtlichen Gründen hat sich die Berührung mit Deutschland dem kollektiven Gedächtnis der Juden als tiefes Trauma eingezeichnet, und dem deutsch-jüdischen "Assimilanten", der seine Wurzeln aufgegeben hat, um sich einem fremden Volk anzugleichen, wird unterschwellig eine Schuld zugewiesen, von der in dieser Chronik einer untergegangenen Diaspora möglichst wenig abfärben soll.
Nicht zufällig betont Michael A. Meyer die traditionellen Bindungen, die das jüdische Leben in Deutschland bis weit ins neunzehnte Jahrhundert bestimmt haben - ein konservativer Zug, der durch das Scheitern der Revolution des Jahres 1848 noch verstärkt wurde und bis in die Gründerzeit sichtbar bleibt. "Juden, die aufgewachsen waren in der überlieferten jüdischen Umwelt", schreibt Meyer, "gaben nicht willig die geheiligten Bräuche der Vorväter preis, mochten die Modernisten, die unter ihnen aufstanden, sie auch unvereinbar finden mit der veränderten Wirklichkeit einer fortgeschrittenen Emanzipation und Akkulturation."
Am Beispiel von vier berühmten Rabbinern stellt Meyer die neuen religiösen Positionen sorgfältig dar, die sich zwischen Orthodoxie und radikaler Reform auffächern und im Jahrzehnt 1835 bis 1845 ideologisch festigen. Neben dem Trennenden aber unterstreicht er auch das Gemeinsame, erläutert an ihm das Wesen des deutschen Judentums und macht so erst deutlich, was mit "Akkulturation" gemeint ist. "Ungeachtet der Unterschiede zwischen den von ihnen vertretenen Ideologien", lesen wir, "hatten diese vier Männer vieles gemeinsam, was sie alle von der Alt-Orthodoxie abhob. Jeder von ihnen hatte an einer Universität studiert, jeder war ein Rabbiner des neuen Typs, der seine Gemeinde ganz in der Art eines christlichen Geistlichen erzog. Alle sprachen deutsch und verfaßten die meisten ihrer Schriften auf deutsch. Auf der Kanzel trugen sie Talar und Beffchen, generell das Abzeichen des Klerus. Keiner der vier sah in diesen formalen Anpassungen einen Verstoß gegen das biblische Verbot, die Nichtjuden nachzuahmen. Zusammen waren sie die geistigen Repräsentanten eines neuen, kohärenten und leicht unterscheidbaren Phänomens: eines spezifisch deutschen Judentums."
Kultur also als Morphologie, als neue Form, in die sich alte Inhalte gießen lassen. Mit der Unterscheidung von "außen" und "innen", der Postulierung eines über ein ganzes Jahrhundert der Emanzipation ungebrochenen Judentums aber zeichnet sich zugleich die zweite Front ab, vor der die Rede von der Assimilation hier vermieden werden soll. Ursprünglich stammt das Wort aus der Biologie, und nicht nur von jüdischer, sondern auch von nichtjüdischer Seite her ist es ein Schimpfwort: In ihm deutet sich schon die neue Art des rassistischen Antisemitismus an, dem das deutsche Judentum schließlich zum Opfer fallen sollte.
Bei Léon Poliakov, dem Historiker des Antisemitismus, läßt sich nachlesen, wie die deutsche Kultur bereits im neunzehnten Jahrhundert dem arischen Mythos den Boden bereitet hat. Die geistigen Mittel des Mordes lagen längst bereit, während sich die Juden noch sicher fühlten, doch die Autoren der vorliegenden Studie lassen davon nur wenig in ihre Darstellung einfließen. Vielleicht tun sie gut daran, das unvermeidliche Übel auf die beiden Abschlußbände ihrer Serie zu verschieben, aber zugleich drängt die von Meyer und Brenner konsequent durchgehaltene jüdische Binnenperspektive auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in den Hintergrund.
Der Judenhaß Richard Wagners bleibt nicht unbesprochen, aber auch die vielen Juden im Bayreuther Kreis werden erwähnt. Wilhelm Marr hat das Wort "Antisemitismus" geprägt, doch daneben wird berichtet, daß drei seiner vier Ehefrauen aus dem Judentum stammten. Es sind Ironien, die dem Ende dieser Geschichte nichts von seiner Härte nehmen können, und auch die Autoren haben es empfunden - am Schluß ihrer Darstellung erzählen sie von "Rom und Jerusalem", dem Roman, in dem Moses Hess schon 1862, lange vor Theodor Herzl, die Alternative des politischen Zionismus vorausahnt. JAKOB HESSING
"Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit". Herausgegeben im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Michael A. Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner. Band II: Emanzipation und Akkulturation 1780-1871. Von Michael Brenner, Stefi Jersch-Wenzel, Michael A. Meyer. Verlag C. H. Beck, München 1996. 402 S., geb., 84,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main