Heimat, Leitkultur, Nation: Thea Dorn will diese kontroversen Themen nicht den Rechten überlassen
Seit Jahren streiten wir, und der Ton wird rauer: Befördert die Rede von Heimat und Verwurzelung oder gar Patriotismus ein rückwärtsgewandtes, engstirniges Denken, das über kurz oder lang zu neuem Chauvinismus, Rassismus und Nationalismus führen wird? Oder ist das Beharren auf unseren kulturellen, historisch gewachsenenen Besonderheiten in Zeiten von Migration, Globalisierung und Technokratisierung nicht vielmehr Grundbedingung dafür, jene weltoffene Liberalität und Zivilität zu wahren, zu der das heutige Deutschland ja inzwischen längst gefunden hat? Anknüpfend an Themen, die sie bereits in ihrem Bestseller "Die deutsche Seele" (zusammen mit Richard Wagner) erkundet hat, wendet Thea Dorn sich nun den aktuellen Schicksalsfragen unserer Gesellschaft zu - differenziert, unaufgeregt und dennoch leidenschaftlich.
Seit Jahren streiten wir, und der Ton wird rauer: Befördert die Rede von Heimat und Verwurzelung oder gar Patriotismus ein rückwärtsgewandtes, engstirniges Denken, das über kurz oder lang zu neuem Chauvinismus, Rassismus und Nationalismus führen wird? Oder ist das Beharren auf unseren kulturellen, historisch gewachsenenen Besonderheiten in Zeiten von Migration, Globalisierung und Technokratisierung nicht vielmehr Grundbedingung dafür, jene weltoffene Liberalität und Zivilität zu wahren, zu der das heutige Deutschland ja inzwischen längst gefunden hat? Anknüpfend an Themen, die sie bereits in ihrem Bestseller "Die deutsche Seele" (zusammen mit Richard Wagner) erkundet hat, wendet Thea Dorn sich nun den aktuellen Schicksalsfragen unserer Gesellschaft zu - differenziert, unaufgeregt und dennoch leidenschaftlich.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Stephan Wackwitz liest Thea Dorns Buch als aktuellen Beitrag zur kulturellen Säkularisierung und politisch aktualisierte Version ihrer und Richard Wagners Enzyklopädie "Die deutsche Seele" von 2011. Der Vereinnahmung durch deutsch-nationalkonservative Kräfte stellt sich die Autorin damit laut Rezensent so polemisch-apologetisch wie witzig erfolgreich entgegen. Dorns "Tiefenausleuchtung" von Materialien, Personen, Perioden deutscher Kulturgeschichte in Sachen Demokratie eröffnet Wackwitz nicht nur Denkräume, sondern macht ihn auch mit unbekannten Aufklärern wie Thomas Abbt und Wilhelm Abraham Teller bekannt. Dass die Autorin die Individualpsychologie in diesem Kontext mitunter überstrapaziert, merkt Wackwitz kritisch an. Insgesamt aber ein gelungener Leitfaden für demokratisch Denkende, die Orientierung suchen, findet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.05.2018Ein Garten voll
Kraut und Unkraut
Zwischen Krawallmachern und Konsensverwaltern:
Thea Dorn wünscht sich einen neuen Patriotismus
VON JENS BISKY
Vor einigen Jahren hat Thea Dorn gemeinsam mit ihrem Schriftstellerkollegen Richard Wagner die „deutsche Seele“ in 64 Kapiteln charakterisiert. Das reichte von „Abendbrot“ bis „Zerrissenheit“, auch „Kitsch“ und „Schadenfreude“ waren nicht vergessen. Die lexikalische Form lud zu Ergänzungen ein. Das Unternehmen glich einem Spiel mit Geschichten, Fundstücken, Kuriositäten. In ihrem neuen Buch „deutsch, nicht dumpf“ wird Thea Dorn grundsätzlicher. Sie verweigert den kurzen, abstrakten Bescheid, was deutsche Kultur sei. Ludwig Wittgenstein hat in den „Philosophischen Untersuchungen“ dazu aufgefordert, schauend, betrachtend herauszufinden, was allen Spielen gemeinsam sei. Wer viele Gruppen verschiedener Spiele mustert, Brettspiel, Ballspiele, Kartenspiel, wird merken, wie Ähnlichkeiten auftauchen und wieder verschwinden. So sei es, schließt Thea Dorn, auch mit der „deutschen Kultur“. Man hat es mit einem „komplizierten Netz von Ähnlichkeiten“ zu tun, die „einander übergreifen und kreuzen“.
Wer über Deutsches redet, hat also erst einmal eine intellektuell anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen, genau zu schauen und zu vergleichen. Ähnlich verfährt Thea Dorn mit den Begriffen und Vorstellungen von „Heimat“, „Leitkultur“, „Nation“. Der Patriotismus, für den sie wirbt, liebt die Schwierigkeiten, die Denkaufgaben, das Komplexe und das Gegensätzliche.
Die Philosophin, Kritikerin und Romanautorin will in aktuelle Diskussionen eingreifen, ohne die „rüden Kräfte“ zu stärken. Sie unterscheidet ein „Lager der Krawallmacher“ und ein „Lager der Konsensverwalter“. Der Streit zwischen beiden verhindert „konstruktive Auseinandersetzungen“.
Statt von „Leitkultur“ möchte Thea Dorn lieber von „Leitzivilität“ reden: Verstöße gegen Gesetz und Verfassung müssen konsequent geahndet werden, damit ansonsten große Liberalität herrschen und jede nach ihrer Façon selig werden könne. Eine „Identität“ ist kein Pokal, den man in die Vitrine stellt und ab und an putzt, sondern eine Aufgabe. Auf den Nationalstaat können wir nicht verzichten. Das „Bekenntnis zur Nation“ scheint Thea Dorn das einzige Mittel zu sein, die Gesellschaft „vor einer noch gravierenderen und irgendwann nicht mehr zu kontrollierenden Spaltung zu bewahren“. Im Nationalstaat finden der „emanzipierte Citoyen wie der Bildungsbürger“ ihre Heimat. Den Verfassungspatriotismus soll ein Kulturpatriotismus ergänzen und sichern. Viele gute Absichten.
Thea Dorn entwickelt sie in einer langen Reihe von Zitaten, Referaten aus klassischen Texten zum Thema. Thomas Mann und Fichte dürfen da nicht fehlen; bewegend ist der Hinweis auf die Heimatliebe Kurt Tucholskys: „Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich ,national‘ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. … Wir sind auch noch da.“ Wer Norbert Elias oder Helmuth Plessner noch nicht kennt, bekommt Lust, sie zu lesen.
Dennoch wächst bei der Lektüre von „deutsch, nicht dumpf“ die Ungeduld. Zu oft fällt Thea Dorn in einen gleichermaßen kolloquialen wie belehrenden Ton; sie greift zu viele Streitfälle, Meldungen, aktuelle Äußerungen – Europa, Flüchtlinge, Islam – auf. Die Formprobleme haben einen Grund in der Sache. Der Patriotismus wird mehr beschworen als klar konturiert. Ist er eine Bekenntnisfrage? Ein seelisches Phänomen?
Der aufgeklärte Patriotismus des
18. Jahrhunderts propagierte die Bereitschaft, den Tod fürs Vaterland zu sterben (und übte später Selbstkritik). Was aber bedeutet Opferbereitschaft in postheroischen Gesellschaften? Ob da pünktliches Steuerzahlen ausreicht, sich patriotisch zu fühlen, oder ob an Nachbarschaftshilfe und ehrenamtliches Engagement gedacht ist, hätte man gern genauer gewusst. Thea Dorn argumentiert gegen Versuche, das Soldatische aufzuwerten und will zugleich den Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr Respekt sichern. Die Frage, ob es nicht ein Verlust sei, dass wir befreiten Individuen keine Ideale mehr kennen, für die wir zu sterben bereit wären, wirft sie auf – und beantwortet sie nicht.
Für Patriotismus und Vaterlandsliebe der Vergangenheit kann man ungefähr sagen, was sie förderte: die Konstitution des Dritten Standes als Volk etwa, dazu Wehrpflicht, Eisenbahnen, Buchmarkt und einiges mehr. Für die Gegenwart fällt es leichter aufzuzählen, welche gemeinsamen Räume – als Räume tatsächlicher Begegnung und gemeinsamer Erfahrungen – verschwunden oder kleiner geworden sind. Die Wehrpflicht ist abgeschafft, die Bildungslandschaft zerfasert und spezialisiert. Wer Öffentlichkeit sagt, muss wohl auch immer „fragmentiert“ mitdenken. Zugleich sind andere Formen der Gemeinschaft auf Distanz entstanden. Leider versucht Thea Dorn nicht, diese zu beschreiben. Stattdessen skizziert sie noch einmal den bildungsbürgerlichen Kanon als geistigen Raum.
Trotz dieser Einwände überzeugt ihr Plädoyer, die Zerrissenheit der deutschen Kultur nicht nur anzunehmen, sondern als ihr Bestes zu nutzen. Wenn es stimmt, dass „Naturliebe und Technikgläubigkeit, Heimweh und Fernweh, Provinzialität und Menschheitspathos“ und vieles mehr seit dem 18. Jahrhundert miteinander ringen und dieses Ringen der Motor der deutschen Kultur war, dann sollten sich „aufgeklärte Patrioten“ in den Streit stürzen, kritisieren, polemisieren, argumentieren. Krawall und Konsens wären dann vorübergehende Zustände.
Thea Dorn: deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten. Albrecht Knaus Verlag, München 2018. 336 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Wer derzeit „Öffentlichkeit“
sagt, muss wohl immer
„fragmentiert“ mitdenken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kraut und Unkraut
Zwischen Krawallmachern und Konsensverwaltern:
Thea Dorn wünscht sich einen neuen Patriotismus
VON JENS BISKY
Vor einigen Jahren hat Thea Dorn gemeinsam mit ihrem Schriftstellerkollegen Richard Wagner die „deutsche Seele“ in 64 Kapiteln charakterisiert. Das reichte von „Abendbrot“ bis „Zerrissenheit“, auch „Kitsch“ und „Schadenfreude“ waren nicht vergessen. Die lexikalische Form lud zu Ergänzungen ein. Das Unternehmen glich einem Spiel mit Geschichten, Fundstücken, Kuriositäten. In ihrem neuen Buch „deutsch, nicht dumpf“ wird Thea Dorn grundsätzlicher. Sie verweigert den kurzen, abstrakten Bescheid, was deutsche Kultur sei. Ludwig Wittgenstein hat in den „Philosophischen Untersuchungen“ dazu aufgefordert, schauend, betrachtend herauszufinden, was allen Spielen gemeinsam sei. Wer viele Gruppen verschiedener Spiele mustert, Brettspiel, Ballspiele, Kartenspiel, wird merken, wie Ähnlichkeiten auftauchen und wieder verschwinden. So sei es, schließt Thea Dorn, auch mit der „deutschen Kultur“. Man hat es mit einem „komplizierten Netz von Ähnlichkeiten“ zu tun, die „einander übergreifen und kreuzen“.
Wer über Deutsches redet, hat also erst einmal eine intellektuell anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen, genau zu schauen und zu vergleichen. Ähnlich verfährt Thea Dorn mit den Begriffen und Vorstellungen von „Heimat“, „Leitkultur“, „Nation“. Der Patriotismus, für den sie wirbt, liebt die Schwierigkeiten, die Denkaufgaben, das Komplexe und das Gegensätzliche.
Die Philosophin, Kritikerin und Romanautorin will in aktuelle Diskussionen eingreifen, ohne die „rüden Kräfte“ zu stärken. Sie unterscheidet ein „Lager der Krawallmacher“ und ein „Lager der Konsensverwalter“. Der Streit zwischen beiden verhindert „konstruktive Auseinandersetzungen“.
Statt von „Leitkultur“ möchte Thea Dorn lieber von „Leitzivilität“ reden: Verstöße gegen Gesetz und Verfassung müssen konsequent geahndet werden, damit ansonsten große Liberalität herrschen und jede nach ihrer Façon selig werden könne. Eine „Identität“ ist kein Pokal, den man in die Vitrine stellt und ab und an putzt, sondern eine Aufgabe. Auf den Nationalstaat können wir nicht verzichten. Das „Bekenntnis zur Nation“ scheint Thea Dorn das einzige Mittel zu sein, die Gesellschaft „vor einer noch gravierenderen und irgendwann nicht mehr zu kontrollierenden Spaltung zu bewahren“. Im Nationalstaat finden der „emanzipierte Citoyen wie der Bildungsbürger“ ihre Heimat. Den Verfassungspatriotismus soll ein Kulturpatriotismus ergänzen und sichern. Viele gute Absichten.
Thea Dorn entwickelt sie in einer langen Reihe von Zitaten, Referaten aus klassischen Texten zum Thema. Thomas Mann und Fichte dürfen da nicht fehlen; bewegend ist der Hinweis auf die Heimatliebe Kurt Tucholskys: „Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich ,national‘ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. … Wir sind auch noch da.“ Wer Norbert Elias oder Helmuth Plessner noch nicht kennt, bekommt Lust, sie zu lesen.
Dennoch wächst bei der Lektüre von „deutsch, nicht dumpf“ die Ungeduld. Zu oft fällt Thea Dorn in einen gleichermaßen kolloquialen wie belehrenden Ton; sie greift zu viele Streitfälle, Meldungen, aktuelle Äußerungen – Europa, Flüchtlinge, Islam – auf. Die Formprobleme haben einen Grund in der Sache. Der Patriotismus wird mehr beschworen als klar konturiert. Ist er eine Bekenntnisfrage? Ein seelisches Phänomen?
Der aufgeklärte Patriotismus des
18. Jahrhunderts propagierte die Bereitschaft, den Tod fürs Vaterland zu sterben (und übte später Selbstkritik). Was aber bedeutet Opferbereitschaft in postheroischen Gesellschaften? Ob da pünktliches Steuerzahlen ausreicht, sich patriotisch zu fühlen, oder ob an Nachbarschaftshilfe und ehrenamtliches Engagement gedacht ist, hätte man gern genauer gewusst. Thea Dorn argumentiert gegen Versuche, das Soldatische aufzuwerten und will zugleich den Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr Respekt sichern. Die Frage, ob es nicht ein Verlust sei, dass wir befreiten Individuen keine Ideale mehr kennen, für die wir zu sterben bereit wären, wirft sie auf – und beantwortet sie nicht.
Für Patriotismus und Vaterlandsliebe der Vergangenheit kann man ungefähr sagen, was sie förderte: die Konstitution des Dritten Standes als Volk etwa, dazu Wehrpflicht, Eisenbahnen, Buchmarkt und einiges mehr. Für die Gegenwart fällt es leichter aufzuzählen, welche gemeinsamen Räume – als Räume tatsächlicher Begegnung und gemeinsamer Erfahrungen – verschwunden oder kleiner geworden sind. Die Wehrpflicht ist abgeschafft, die Bildungslandschaft zerfasert und spezialisiert. Wer Öffentlichkeit sagt, muss wohl auch immer „fragmentiert“ mitdenken. Zugleich sind andere Formen der Gemeinschaft auf Distanz entstanden. Leider versucht Thea Dorn nicht, diese zu beschreiben. Stattdessen skizziert sie noch einmal den bildungsbürgerlichen Kanon als geistigen Raum.
Trotz dieser Einwände überzeugt ihr Plädoyer, die Zerrissenheit der deutschen Kultur nicht nur anzunehmen, sondern als ihr Bestes zu nutzen. Wenn es stimmt, dass „Naturliebe und Technikgläubigkeit, Heimweh und Fernweh, Provinzialität und Menschheitspathos“ und vieles mehr seit dem 18. Jahrhundert miteinander ringen und dieses Ringen der Motor der deutschen Kultur war, dann sollten sich „aufgeklärte Patrioten“ in den Streit stürzen, kritisieren, polemisieren, argumentieren. Krawall und Konsens wären dann vorübergehende Zustände.
Thea Dorn: deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten. Albrecht Knaus Verlag, München 2018. 336 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Wer derzeit „Öffentlichkeit“
sagt, muss wohl immer
„fragmentiert“ mitdenken
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2018Im Haus ihres Vaters gibt es viele Wohnungen
Von deutscher Demokratie und Menschenfreundlichkeit: Thea Dorn streift durch die Kulturgeschichte
Die Schriftstellerin und Fernsehjournalistin Thea Dorn beschäftigt sich mit Einrichtungen, Bräuchen, kulturellen Einstellungen und habituellen Stilen des Selbstausdrucks, an denen kulturvergleichende Beobachter spontan die "Familienähnlichkeit" (Ludwig Wittgenstein) des "Deutschen" zu erkennen glauben - oder zumindest glaubwürdig machen können. In ihrem lexikonartig aufgebauten Buch "Die deutsche Seele" (2011, zusammen mit Richard Wagner, F.A.Z vom 25. Januar 2012) versammelte sie zu diesem Zweck Stichworte wie "Abendbrot", "Arbeitswut", "Narrenfreiheit", "Pfarrhaus" oder "Ordnungsliebe" und kommentierte sie witzig und geistvoll.
Ihre Beobachtungen eröffnen Denkräume, die ihrerseits eine Familienähnlichkeit aufweisen zu den Beobachtungen Norbert Elias' in seinem Buch über die Deutschen oder zu Heinz Schlaffers Buch über die Kürze der weltliterarischen Bedeutung deutscher Literatur. Das neue Buch "deutsch, nicht dumpf" ist gleichsam eine politisch aktualisierte Version der Enzyklopädie von 2011. Es soll Dorns und Wagners kulturphysiognomische Funde vor einer Vereinnahmung durch die deutsch-nationalkonservativen und völkischen Stimmungen bewahren, die seit dem Herbst 2015 aufgewallt sind und mit der letzten Bundestagswahl parlamentarische Machtpositionen begründen konnten.
Dies erklärt einen gewissen polemisch-apologetischen Grundzug des Buchs, das von der entspannten Entdeckungsfreude des Vorgängers ebenso weit entfernt ist wie die Stimmung der Republik im Jahr 2011 von derjenigen heute. Dorns Methode ist die der kulturhistorischen Tiefenausleuchtung. Sie richtet ihre Suchscheinwerfer auf Materialien, Personen und Perioden der deutschen Kulturgeschichte, die einen Traditionsstrang deutscher Demokratie und Menschenfreundlichkeit begründen können. Zu ihren interessantesten Entdeckungen gehören weithin unbekannte Denker der deutschen Aufklärung wie Thomas Abbt, Wilhelm Abraham Teller und Christian Samuel Ludwig von Beyer, die als explizite Vorläufer des von Sternberger und Habermas postulierten "Verfassungspatriotismus" gelesen werden können.
Ein glücklicher Gedanke ist auch die Umkodierung des missverständlichen Begriffs der "Leitkultur" zu dem fruchtbaren einer "Leitzivilität". Ihr wichtigster historischer Gewährsmann für einen Republikanismus in deutschen Farben aber ist Thomas Mann und sein Weg von den "Ideen von 1914" zur politischen und kulturellen Westorientierung. An Manns intellektuellen Wandlungen ist zu studieren, dass die historische Selbstvergewisserung des spezifisch deutschen Republikanismus eine kompliziertere Angelegenheit ist als zum Beispiel diejenige der Amerikaner, die sich auf Figuren wie Thomas Jefferson, Ralph Waldo Emerson, Walt Whitman oder John Dewey berufen kann.
Thomas Mann schrieb 1945: "Es gibt nicht zwei Deutschland, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: ,Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weissen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung'."
Die Nähe, die völkisch-nationalistische und demokratisch-fortschrittliche Stränge der deutschen Kulturgeschichte schon seit Herder und der deutschen Romantik aufgewiesen haben, verleitet deutsche Selbstbeobachter, die auf Progressivität und Weltoffenheit Wert legen, allzu oft dazu, die deutsche Tradition grundsätzlich zu verdammen oder ihr kurzerhand die Existenz abzusprechen. Sie halten das Deutsche für Alkohol und sich selbst für trockene Alkoholiker. Ein Tropfen würde genügen, und die Katastrophe stünde wieder vor der Tür. Sie flüchten sich vor dem Nationalen ins Regionale einerseits, ins Europäische oder Menschheitliche andererseits.
Thea Dorn rät, genauer hinzusehen. Sie warnt vor der Wiederkunft des Verleugneten in zerstörerischer und "dumpfer" Gestalt. Ihr trennscharfer und ausgesprochen witziger Streifzug durch die demokratisch aufgeklärte deutsche Kulturgeschichte - mit Seitenhieben gegen rechte und linke Sektierer - ist, wie sein Untertitel behauptet, ein Leitfaden, ein historisch zuverlässig informierendes Vademecum für politisch interessierte und demokratisch orientierte Zeitgenossen, die sich in einer aufgeheizten innenpolitischen Atmosphäre zurechtfinden müssen.
Wenn man einen kritischen Einwand vorbringen wollte, dann wäre es der, dass die Autorin dazu zu neigt, Erkenntnisse aus der Individualpsychologie unzulässig auf die Bewegungsformen nationaler Selbstvergewisserungen zu projizieren. Besonders deutlich wird diese Neigung in den ausführlichen Passagen über nationale Identität, wo die entwicklungspädagogischen Begriffe Erik Erikssons umstandslos dazu verwendet werden, "die Deutschen" zu einem zugleich stabilen als auch aufnahmebereiten und flexiblen Selbstbewusstsein zu ermuntern. Nationale Mentalitäten mögen eine "Familienähnlichkeit" zu individuellen Charakterzügen und deren Entwicklung aufweisen. Aber sie funktionieren grundlegend anders.
Vermutlich ist es von außen überhaupt schwer zu verstehen, auf welch komplizierten Wegen ein Individuum dazu kommt, eine stabile und zugleich aufgeschlossene Identität zu entwickeln. Solche Individualitäten scheinen eine natürliche Affinität zur Demokratie zu unterhalten. Denn eine Wahlpopulation, die aus in sich sicheren und offenherzigen Individuen besteht, wird es leichter haben, demokratische Entscheidungen zu verwirklichen, als eine, deren kulturelles Klima enge Persönlichkeitsgrenzen begünstigt. Thea Dorns Zentralthese lautet daher: Ein positives Verhältnis zum eigenen Land und zur eigenen Kultur scheint eine gute Voraussetzung für ein geglücktes Hineinpassen eines stabilen Individuums in ein demokratisches Land.
Eine ihrer Erkenntnisse besteht darin, dass es "im Hause meines Vaters viele Wohnungen" gibt und viele Wege zum Verfassungspatriotismus und zu demokratieaffinen Persönlichkeitsstrukturen offenstehen. Wenn es die Deutschen - die noch 1945 einem psychopathischen Tyrannen massenhaft in den Untergang gefolgt sind - geschafft haben, zu Demokraten zu werden, dann gibt es kein prinzipielles Hindernis für eine solche Wandlung - gleichgültig, aus welcher Kultur oder Religion auch immer ein Individuum kommt. Erforderlich ist dazu offenbar eine Art kultureller Säkularisierung, die das kulturell und religiös Eigene zwar individuell liebbehält, aber den kühlen Verfahren demokratischer Willensbildung nicht in die Quere kommen lässt. Zu dieser kulturellen Säkularisierung leistet Thea Dorns Buch einen aktuellen Beitrag.
STEPHAN WACKWITZ
Thea Dorn: "deutsch, nicht dumpf". Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten.
Knaus Verlag, München 2018. 336 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von deutscher Demokratie und Menschenfreundlichkeit: Thea Dorn streift durch die Kulturgeschichte
Die Schriftstellerin und Fernsehjournalistin Thea Dorn beschäftigt sich mit Einrichtungen, Bräuchen, kulturellen Einstellungen und habituellen Stilen des Selbstausdrucks, an denen kulturvergleichende Beobachter spontan die "Familienähnlichkeit" (Ludwig Wittgenstein) des "Deutschen" zu erkennen glauben - oder zumindest glaubwürdig machen können. In ihrem lexikonartig aufgebauten Buch "Die deutsche Seele" (2011, zusammen mit Richard Wagner, F.A.Z vom 25. Januar 2012) versammelte sie zu diesem Zweck Stichworte wie "Abendbrot", "Arbeitswut", "Narrenfreiheit", "Pfarrhaus" oder "Ordnungsliebe" und kommentierte sie witzig und geistvoll.
Ihre Beobachtungen eröffnen Denkräume, die ihrerseits eine Familienähnlichkeit aufweisen zu den Beobachtungen Norbert Elias' in seinem Buch über die Deutschen oder zu Heinz Schlaffers Buch über die Kürze der weltliterarischen Bedeutung deutscher Literatur. Das neue Buch "deutsch, nicht dumpf" ist gleichsam eine politisch aktualisierte Version der Enzyklopädie von 2011. Es soll Dorns und Wagners kulturphysiognomische Funde vor einer Vereinnahmung durch die deutsch-nationalkonservativen und völkischen Stimmungen bewahren, die seit dem Herbst 2015 aufgewallt sind und mit der letzten Bundestagswahl parlamentarische Machtpositionen begründen konnten.
Dies erklärt einen gewissen polemisch-apologetischen Grundzug des Buchs, das von der entspannten Entdeckungsfreude des Vorgängers ebenso weit entfernt ist wie die Stimmung der Republik im Jahr 2011 von derjenigen heute. Dorns Methode ist die der kulturhistorischen Tiefenausleuchtung. Sie richtet ihre Suchscheinwerfer auf Materialien, Personen und Perioden der deutschen Kulturgeschichte, die einen Traditionsstrang deutscher Demokratie und Menschenfreundlichkeit begründen können. Zu ihren interessantesten Entdeckungen gehören weithin unbekannte Denker der deutschen Aufklärung wie Thomas Abbt, Wilhelm Abraham Teller und Christian Samuel Ludwig von Beyer, die als explizite Vorläufer des von Sternberger und Habermas postulierten "Verfassungspatriotismus" gelesen werden können.
Ein glücklicher Gedanke ist auch die Umkodierung des missverständlichen Begriffs der "Leitkultur" zu dem fruchtbaren einer "Leitzivilität". Ihr wichtigster historischer Gewährsmann für einen Republikanismus in deutschen Farben aber ist Thomas Mann und sein Weg von den "Ideen von 1914" zur politischen und kulturellen Westorientierung. An Manns intellektuellen Wandlungen ist zu studieren, dass die historische Selbstvergewisserung des spezifisch deutschen Republikanismus eine kompliziertere Angelegenheit ist als zum Beispiel diejenige der Amerikaner, die sich auf Figuren wie Thomas Jefferson, Ralph Waldo Emerson, Walt Whitman oder John Dewey berufen kann.
Thomas Mann schrieb 1945: "Es gibt nicht zwei Deutschland, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: ,Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weissen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung'."
Die Nähe, die völkisch-nationalistische und demokratisch-fortschrittliche Stränge der deutschen Kulturgeschichte schon seit Herder und der deutschen Romantik aufgewiesen haben, verleitet deutsche Selbstbeobachter, die auf Progressivität und Weltoffenheit Wert legen, allzu oft dazu, die deutsche Tradition grundsätzlich zu verdammen oder ihr kurzerhand die Existenz abzusprechen. Sie halten das Deutsche für Alkohol und sich selbst für trockene Alkoholiker. Ein Tropfen würde genügen, und die Katastrophe stünde wieder vor der Tür. Sie flüchten sich vor dem Nationalen ins Regionale einerseits, ins Europäische oder Menschheitliche andererseits.
Thea Dorn rät, genauer hinzusehen. Sie warnt vor der Wiederkunft des Verleugneten in zerstörerischer und "dumpfer" Gestalt. Ihr trennscharfer und ausgesprochen witziger Streifzug durch die demokratisch aufgeklärte deutsche Kulturgeschichte - mit Seitenhieben gegen rechte und linke Sektierer - ist, wie sein Untertitel behauptet, ein Leitfaden, ein historisch zuverlässig informierendes Vademecum für politisch interessierte und demokratisch orientierte Zeitgenossen, die sich in einer aufgeheizten innenpolitischen Atmosphäre zurechtfinden müssen.
Wenn man einen kritischen Einwand vorbringen wollte, dann wäre es der, dass die Autorin dazu zu neigt, Erkenntnisse aus der Individualpsychologie unzulässig auf die Bewegungsformen nationaler Selbstvergewisserungen zu projizieren. Besonders deutlich wird diese Neigung in den ausführlichen Passagen über nationale Identität, wo die entwicklungspädagogischen Begriffe Erik Erikssons umstandslos dazu verwendet werden, "die Deutschen" zu einem zugleich stabilen als auch aufnahmebereiten und flexiblen Selbstbewusstsein zu ermuntern. Nationale Mentalitäten mögen eine "Familienähnlichkeit" zu individuellen Charakterzügen und deren Entwicklung aufweisen. Aber sie funktionieren grundlegend anders.
Vermutlich ist es von außen überhaupt schwer zu verstehen, auf welch komplizierten Wegen ein Individuum dazu kommt, eine stabile und zugleich aufgeschlossene Identität zu entwickeln. Solche Individualitäten scheinen eine natürliche Affinität zur Demokratie zu unterhalten. Denn eine Wahlpopulation, die aus in sich sicheren und offenherzigen Individuen besteht, wird es leichter haben, demokratische Entscheidungen zu verwirklichen, als eine, deren kulturelles Klima enge Persönlichkeitsgrenzen begünstigt. Thea Dorns Zentralthese lautet daher: Ein positives Verhältnis zum eigenen Land und zur eigenen Kultur scheint eine gute Voraussetzung für ein geglücktes Hineinpassen eines stabilen Individuums in ein demokratisches Land.
Eine ihrer Erkenntnisse besteht darin, dass es "im Hause meines Vaters viele Wohnungen" gibt und viele Wege zum Verfassungspatriotismus und zu demokratieaffinen Persönlichkeitsstrukturen offenstehen. Wenn es die Deutschen - die noch 1945 einem psychopathischen Tyrannen massenhaft in den Untergang gefolgt sind - geschafft haben, zu Demokraten zu werden, dann gibt es kein prinzipielles Hindernis für eine solche Wandlung - gleichgültig, aus welcher Kultur oder Religion auch immer ein Individuum kommt. Erforderlich ist dazu offenbar eine Art kultureller Säkularisierung, die das kulturell und religiös Eigene zwar individuell liebbehält, aber den kühlen Verfahren demokratischer Willensbildung nicht in die Quere kommen lässt. Zu dieser kulturellen Säkularisierung leistet Thea Dorns Buch einen aktuellen Beitrag.
STEPHAN WACKWITZ
Thea Dorn: "deutsch, nicht dumpf". Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten.
Knaus Verlag, München 2018. 336 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Das Buch ist eine kluge, abwägende und doch pathetische Streitschrift für Deutschland, das sich seiner Besonderheiten bewusst ist, ohne dabei auf Sonderwege zu geraten.« DER SPIEGEL, Sigmar Gabriel
Rezensent Stephan Wackwitz liest Thea Dorns Buch als aktuellen Beitrag zur kulturellen Säkularisierung und politisch aktualisierte Version ihrer und Richard Wagners Enzyklopädie "Die deutsche Seele" von 2011. Der Vereinnahmung durch deutsch-nationalkonservative Kräfte stellt sich die Autorin damit laut Rezensent so polemisch-apologetisch wie witzig erfolgreich entgegen. Dorns "Tiefenausleuchtung" von Materialien, Personen, Perioden deutscher Kulturgeschichte in Sachen Demokratie eröffnet Wackwitz nicht nur Denkräume, sondern macht ihn auch mit unbekannten Aufklärern wie Thomas Abbt und Wilhelm Abraham Teller bekannt. Dass die Autorin die Individualpsychologie in diesem Kontext mitunter überstrapaziert, merkt Wackwitz kritisch an. Insgesamt aber ein gelungener Leitfaden für demokratisch Denkende, die Orientierung suchen, findet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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