Bereits am 30.10.1918 kommt es zur Gründung Deutsch-Österreichs, doch erst drei Wochen später legt dieser Staat erstmals sein Staatsgebiet fest. Nur schrittweise kann der neue Staat entstehen. Einerseits bewusst konstruiert nach dem Muster eines Lehrbuchs des Staatsrechts, andererseits getrieben von erschwerten Umständen. Denn der junge Staat beschneidet das Recht der Sieger, den inneren Entwicklungsgang hemmt der Zwist der Parteien. Rasch gerät dadurch die Staatsgründung in Vergessenheit, wird mehrfach umgedeutet und fehlinterpretiert - bis heute. Dieses Buch leistet auf wissenschaftlicher Basis allgemein verständliche Informationsarbeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.01.2001Rückzug der alten Staatsgewalt
Staatsrechtliche Details über "Deutsch-Österreich": War der 30. Oktober oder der 12. November 1918 der Gründungstag?
Wilhelm Brauneder: Deutsch-Österreich 1918. Die Republik entsteht. Amalthea Verlag, Wien und München 2000. 368 Seiten, 30 Abbildungen, 48,- Mark.
Der Rechtstheoretiker Hans Kelsen vertrat 1944/45 im "American Journal of International Law" die These vom Untergang des Deutschen Reichs. Dies wurde ihm von der überwältigenden Mehrheit der deutschen Staatsrechtslehrer nach 1945 verübelt. Die ohnehin schon tiefsitzende ältere Überzeugung, Kelsens Theorien seien inakzeptabel, erhielt nun noch eine nationalistische Komponente. Niemand bemerkte dabei, daß Kelsen am Beispiel Deutschlands nur konsequent fortsetzte, was er selbst 1918 im Fall Deutsch-Österreichs erlebt und mitgestaltet hatte. Denn als die Donau-Monarchie zerfiel und ihre verstreuten Teile entweder zu neuen Nationalstaaten wurden oder sich an bestehende anschlossen, wollte keiner von ihnen als ihr staatsrechtlicher Erbe auftreten. Der Staat, der sich nun in der Zentrale Wien und in den deutschsprachigen Provinzen oder "Ländern" zu "Deutsch-Österreich" (später "Republik Österreich") zusammenschloß, beharrte von Anfang an darauf, eine Neugründung zu sein. Die Verantwortung für den Krieg sollte mit den Habsburgern verschwinden.
Freilich war die Lage im "Cisleithanien" (Österreich) des Jahres 1918 anders als diejenige Deutschlands nach Hitler. Das Habsburgerreich war multiethnisch. 1918 zerbrach seine staatsrechtliche Klammer. Übrig blieben die deutschsprachigen Kerngebiete, von denen aus und in deren Sprache regiert worden war. Konsequenterweise übertrugen ihnen die Alliierten die Last der Vergangenheit. Der Wiener Rechtshistoriker Brauneder beschreibt den Zusammenbruch der Doppelmonarchie mit allen staatsrechtlichen Details, den Gründungsvorgang durch eine provisorische Nationalversammlung, die parallelen Vorgänge in Nieder- und Oberösterreich, Steiermark, Tirol, Kärnten, Salzburg und Vorarlberg, die Schaffung neuer Staatsorgane und Staatssymbole sowie die Festlegung des neuen Staatsgebiets. Gleichzeitig sieht man die zunehmend ins Leere agierende alte Staatsgewalt, den schwankenden Rückzug Kaiser Karls, die Abtrennung vor allem Südtirols und des Sudetenlandes durch den Vertrag von St-Germain.
Der Anschluß an das Deutsche Reich wurde von den Siegermächten verboten. Die der provisorischen Nationalversammlung folgende eigentliche Nationalversammlung beschloß dann die - nach 1945 wieder in Kraft gesetzte - Verfassung vom 10. November 1920. Sie war zwar unvollständig, erwies sich aber dank der österreichischen Mischung aus Pragmatismus und Formelkompromissen - verpackt in juristische Interpretationskunst - als elastisch genug.
Die von Brauneder geschilderten Bemühungen der Staatsrechtslehre zur Klärung der Frage, ob damals ein dezentralisierter Einheitsstaat oder ein echter Bundesstaat geschaffen wurde, können heute als erledigt gelten. Auch seine Frage, welches der richtige Gründungstag der Republik Österreich gewesen sei, scheint eher ein Kuriosum zu sein. Für den 30. Oktober 1918 sprechen die gewichtigeren historischen Argumente (das belegt Brauneder eindeutig), aber der 12. November 1918 bürgerte sich ein. Inzwischen ist auch diese Frage durch Installierung des 26. Oktober 1955 als Nationalfeiertag obsolet.
Doch zeigen gerade die heutigen deutschen Debatten um den Tag der Deutschen Einheit (17. Juni, 3. Oktober, 9. November), daß es nicht um Rechthaberei oder staatsrechtliche Kuriosa geht, sondern um "Integration" mit Mitteln der Staatssymbolik. Auch Nationen sind bei Kalenderdaten vergeßlich, palavern durcheinander und erinnern sich eher gruppenspezifisch als homogen. Was sie nicht vergessen, ist das Leid der Familien, der Dörfer oder der Sprachgemeinschaften.
Der wohl wichtigste Aspekt dieses gründlich recherchierten und verständlich geschriebenen Buchs besteht deshalb darin, daß es an die Ursprünge verschiedener Konfliktzonen des 20. Jahrhunderts erinnert, etwa auf dem Balkan, in Südtirol und in der Tschechoslowakei. Es zieht keine moralischen Lehren daraus, hält sich überhaupt mit Werturteilen sehr zurück - es berichtet nur, wenn auch aus der Perspektive der Wiener Politik. Kein Wunder: Der Autor ist Rechts- und Verfassungshistoriker, wurde aber von der Politik in riskanter Weise gestreift, als er 1996 bis 1999 dritter Präsident des österreichischen Parlaments war, und zwar nicht für irgendeine Partei, sondern für die FPÖ. Daß er sich nun wieder ausschließlich der Wissenschaft widmet, ist ein Gewinn.
MICHAEL STOLLEIS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Staatsrechtliche Details über "Deutsch-Österreich": War der 30. Oktober oder der 12. November 1918 der Gründungstag?
Wilhelm Brauneder: Deutsch-Österreich 1918. Die Republik entsteht. Amalthea Verlag, Wien und München 2000. 368 Seiten, 30 Abbildungen, 48,- Mark.
Der Rechtstheoretiker Hans Kelsen vertrat 1944/45 im "American Journal of International Law" die These vom Untergang des Deutschen Reichs. Dies wurde ihm von der überwältigenden Mehrheit der deutschen Staatsrechtslehrer nach 1945 verübelt. Die ohnehin schon tiefsitzende ältere Überzeugung, Kelsens Theorien seien inakzeptabel, erhielt nun noch eine nationalistische Komponente. Niemand bemerkte dabei, daß Kelsen am Beispiel Deutschlands nur konsequent fortsetzte, was er selbst 1918 im Fall Deutsch-Österreichs erlebt und mitgestaltet hatte. Denn als die Donau-Monarchie zerfiel und ihre verstreuten Teile entweder zu neuen Nationalstaaten wurden oder sich an bestehende anschlossen, wollte keiner von ihnen als ihr staatsrechtlicher Erbe auftreten. Der Staat, der sich nun in der Zentrale Wien und in den deutschsprachigen Provinzen oder "Ländern" zu "Deutsch-Österreich" (später "Republik Österreich") zusammenschloß, beharrte von Anfang an darauf, eine Neugründung zu sein. Die Verantwortung für den Krieg sollte mit den Habsburgern verschwinden.
Freilich war die Lage im "Cisleithanien" (Österreich) des Jahres 1918 anders als diejenige Deutschlands nach Hitler. Das Habsburgerreich war multiethnisch. 1918 zerbrach seine staatsrechtliche Klammer. Übrig blieben die deutschsprachigen Kerngebiete, von denen aus und in deren Sprache regiert worden war. Konsequenterweise übertrugen ihnen die Alliierten die Last der Vergangenheit. Der Wiener Rechtshistoriker Brauneder beschreibt den Zusammenbruch der Doppelmonarchie mit allen staatsrechtlichen Details, den Gründungsvorgang durch eine provisorische Nationalversammlung, die parallelen Vorgänge in Nieder- und Oberösterreich, Steiermark, Tirol, Kärnten, Salzburg und Vorarlberg, die Schaffung neuer Staatsorgane und Staatssymbole sowie die Festlegung des neuen Staatsgebiets. Gleichzeitig sieht man die zunehmend ins Leere agierende alte Staatsgewalt, den schwankenden Rückzug Kaiser Karls, die Abtrennung vor allem Südtirols und des Sudetenlandes durch den Vertrag von St-Germain.
Der Anschluß an das Deutsche Reich wurde von den Siegermächten verboten. Die der provisorischen Nationalversammlung folgende eigentliche Nationalversammlung beschloß dann die - nach 1945 wieder in Kraft gesetzte - Verfassung vom 10. November 1920. Sie war zwar unvollständig, erwies sich aber dank der österreichischen Mischung aus Pragmatismus und Formelkompromissen - verpackt in juristische Interpretationskunst - als elastisch genug.
Die von Brauneder geschilderten Bemühungen der Staatsrechtslehre zur Klärung der Frage, ob damals ein dezentralisierter Einheitsstaat oder ein echter Bundesstaat geschaffen wurde, können heute als erledigt gelten. Auch seine Frage, welches der richtige Gründungstag der Republik Österreich gewesen sei, scheint eher ein Kuriosum zu sein. Für den 30. Oktober 1918 sprechen die gewichtigeren historischen Argumente (das belegt Brauneder eindeutig), aber der 12. November 1918 bürgerte sich ein. Inzwischen ist auch diese Frage durch Installierung des 26. Oktober 1955 als Nationalfeiertag obsolet.
Doch zeigen gerade die heutigen deutschen Debatten um den Tag der Deutschen Einheit (17. Juni, 3. Oktober, 9. November), daß es nicht um Rechthaberei oder staatsrechtliche Kuriosa geht, sondern um "Integration" mit Mitteln der Staatssymbolik. Auch Nationen sind bei Kalenderdaten vergeßlich, palavern durcheinander und erinnern sich eher gruppenspezifisch als homogen. Was sie nicht vergessen, ist das Leid der Familien, der Dörfer oder der Sprachgemeinschaften.
Der wohl wichtigste Aspekt dieses gründlich recherchierten und verständlich geschriebenen Buchs besteht deshalb darin, daß es an die Ursprünge verschiedener Konfliktzonen des 20. Jahrhunderts erinnert, etwa auf dem Balkan, in Südtirol und in der Tschechoslowakei. Es zieht keine moralischen Lehren daraus, hält sich überhaupt mit Werturteilen sehr zurück - es berichtet nur, wenn auch aus der Perspektive der Wiener Politik. Kein Wunder: Der Autor ist Rechts- und Verfassungshistoriker, wurde aber von der Politik in riskanter Weise gestreift, als er 1996 bis 1999 dritter Präsident des österreichischen Parlaments war, und zwar nicht für irgendeine Partei, sondern für die FPÖ. Daß er sich nun wieder ausschließlich der Wissenschaft widmet, ist ein Gewinn.
MICHAEL STOLLEIS
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gründlich recherchiert und verständlich geschrieben, urteilt der Rezensent Michael Stolleis über den Band des Rechts- und Verfassungshistorikers Wilhelm Brauneder. Allerdings stelle Brauneder in seiner Entstehungsgeschichte über die Republik Österreich Überlegungen an, die heute längst erledigt seien oder geradezu kurios anmuteten - etwa die Frage nach dem genauen Gründungstag der Republik. Bereichernd findet der Rezensent hingegen Brauneders erstaunlich wertfreie Ausführungen über die Anfänge der Konflikte auf dem Balkan, in Südtirol und in der Tschechoslowakei. Erstaunlich sei das deshalb, weil der Wissenschaftler von 1996 bis 1999 als dritter Präsident des österreichischen Parlaments die Interessen der FPÖ vertreten hatte. Seine Rückkehr in die Wissenschaft kann Stolleis daher nur begrüßen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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