Ein historisches Jahrhundertunternehmen
Von Canossa bis zum Reichstag, vom Nibelungenlied bis zur Familie Mann, vom Weißwurstäquator bis zur Berliner Mauer, vom Dolchstoß bis zu Willy Brandts Kniefall in Warschau - in insgesamt vierzig ebenso klugen wie glänzend geschriebenen Beiträgen präsentieren herausragende Autoren aus dem In- und Ausland die wichtigsten Bezugspunkte im kulturellen Gedächtnis der Deutschen. Band 1 der Deutschen Erinnerungsorte ist der Auftakt zu einem Abenteuer Geschichte, wie es bislang in Deutschland nicht zu erleben war. Von Arminius bis zu den 68ern, vom Bauernkrieg bis zur Schlacht von Stalingrad, von der Hanse bis zur D-Mark, von Bach bis zu Karl May - mit den Bänden 2 und 3 liegen die 'Deutschen Erinnerungsorte' nunmehr vollständig vor. In über 120 ebenso klugen wie glänzend geschriebenen Beiträgen präsentieren herausragende Autoren aus dem In- und Ausland die wichtigsten Bezugspunkte im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Ein Standardwerk zur deutschen Geschichte, das Maßstäbe setzt in Sachen Erinnerungskultur.
Von Canossa bis zum Reichstag, vom Nibelungenlied bis zur Familie Mann, vom Weißwurstäquator bis zur Berliner Mauer, vom Dolchstoß bis zu Willy Brandts Kniefall in Warschau - in insgesamt vierzig ebenso klugen wie glänzend geschriebenen Beiträgen präsentieren herausragende Autoren aus dem In- und Ausland die wichtigsten Bezugspunkte im kulturellen Gedächtnis der Deutschen. Band 1 der Deutschen Erinnerungsorte ist der Auftakt zu einem Abenteuer Geschichte, wie es bislang in Deutschland nicht zu erleben war. Von Arminius bis zu den 68ern, vom Bauernkrieg bis zur Schlacht von Stalingrad, von der Hanse bis zur D-Mark, von Bach bis zu Karl May - mit den Bänden 2 und 3 liegen die 'Deutschen Erinnerungsorte' nunmehr vollständig vor. In über 120 ebenso klugen wie glänzend geschriebenen Beiträgen präsentieren herausragende Autoren aus dem In- und Ausland die wichtigsten Bezugspunkte im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Ein Standardwerk zur deutschen Geschichte, das Maßstäbe setzt in Sachen Erinnerungskultur.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.10.2001Ein Volk von Bohrern sollt ihr sein
Das Sammelwerk der „Deutschen Erinnerungsorte” von Etienne François und Hagen Schulze ist abgeschlossen
Nach einer gängigen Sottise der siebziger und achtziger Jahre gab es für die Bundesdeutschen keine Objekte nationaler Genugtuung außer ihrer D-Mark und ihrer erfolgreichen Fußballmannschaft. Was bleibt ihnen dann heute noch? 1997 wurde im Feuilleton dieser Zeitung die rhetorische Frage gestellt, was denn noch deutsch sei in einem Europa, das die Mark abschaffe. Nun, in dem Sammelwerk, dessen zweiter und dritter Band hier angezeigt werden, geben Historiker, Philosophen, Germanisten, Soziologen und Publizisten auf gut 2100 Seiten ernsthaft Antwort auf eben diese Frage. Die Bände erscheinen zur rechten Zeit, denn die Alteingesessenen hierzulande sind auf dem besten Weg zu vergessen, an was sie sich alles erinnern könnten. Schon nach dem Überfliegen der Inhaltsverzeichnisse wird kein Leser daran zweifeln, dass das Werk um weitere drei oder sechs Bände erweitert werden könnte. Sogar die beiden wichtigsten, weil allgegenwärtigen deutschen Erinnerungsspeicher, die Sprache und die Landschaft, wurden ausgespart, als wollte man bestätigen, dass Deutsches für Deutsche auch und gerade bei gründlicher Innenschau voller blinder Flecken ist.
Das Projekt der Herausgeber Etienne François und Hagen Schulze frappiert vorab mit dem, was es wie selbstverständlich voraussetzt: ein „kollektives Gedächtnis der Nation”, eine Erinnerungsgemeinschaft, die die bekennenden Deutschen mit den gleichgültig und widerwillig Deutschen vereint und nicht ausschließlich auf dem nachgeborenen Entsetzen über „Auschwitz” gründet, vielmehr außer diesem Topos des absolut Bösen eine unbestimmbar große Zahl anderer, sehr unterschiedlich beleumundeter Urszenen, Mythen, Plätze, Werke und Leitbilder geerbt hat. Was Pierre Nora mit seinen „Lieux de mémoire” für Frankreich unternommen hat, glaubten die Herausgeber für das deutsche Nachbarland nicht erst rechtfertigen zu müssen. (Und Recht hatten sie.) Insgesamt einhunderteinundzwanzig überlieferte Topoi haben sie untersuchen lassen. Zweiundachtzig werden in den Bänden II und III vorgestellt, unter ihnen so verfängliche Motive wie: Reformation, Bauernkrieg, Friedrich der Große, Stalingrad, „Achtundsechzig”, Pflicht, „goldenes Handwerk”, „Ruhe und Ordnung”, „Moloch Großstadt”, Weihnachten, deutscher Wald, Karl Marx, Karl May, Schrebergarten, Richard Wagner und Faust. D-Mark und Fußball werden unter der Rubrik „Leistung” abgehandelt.
Das Vertrackte an Erinnerungsorten ist freilich, dass sie von allen Erinnernden und nicht von den Historikern gekürt werden. Hier muss die Hermeneutik der Empirie den Vortritt lassen. Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich eine gewisse Unentschlossenheit der Herausgeber. Oftmals ließen sie ihren auf Entmystifizierung geschichtlicher Vorgänge erpichten Fachautoren die Zügel schießen und unterließen es, sie zu einer eingehenden Analyse heutiger Vergangenheitswahrnehmung zu verpflichten. Zu den aufschlussreichsten Kapiteln gehören jene, in denen der Nachwirkung und der aktuellen Phänomenologie breiter Raum gewährt wird, beispielsweise die Beiträge von Gérald Chaix („Die Reformation”), Rolf Kießling („Der Bauernkrieg”), Sylvia Paletschek („Kinder – Küche – Kirche”), Albrecht Lehmann („Der deutsche Wald”), Catharina Clemens („Neuschwanstein”) und Stephan Krass („Der Kulturbunker”).
Leider ist nicht wenigen Autoren nach dem Galopp durch die Nachgeschichte ihrer „Orte” bei der Ankunft im Heute die Luft ausgegangen. Ihre Darstellungen erschöpfen sich in historischer Detailzeichnung und Richtigstellung und kulturpolitischer Wertung. Über die Umtriebigkeit ihrer Themen in der Phantombildnerei der Gegenwart erfahren wir nichts. Auf diese Weise wurden die „Orte” Stalingrad, Moloch Großstadt, Versicherung, Richard Wagner, Albert Einstein, Marlene Dietrich und Karneval vergeudet.
Auch werden Kristallisationspunkte deutscher Selbstvergewisserung präsentiert, die nach Auskunft der jeweiligen Bearbeiter ihren Nimbus seit längerem eingebüßt haben, etwa die Devise „Frisch, fromm, fröhlich, frei” des Turnvaters Jahn, die Berliner „Freiheitsglocke”, die documenta I des Jahres 1955, das Straßburger Münster, Arminius, Friedrich Schiller, die „Völkerschlacht” vor Leipzig und die Hausmusik. So ist das Projekt auch zu einer provisorischen Bestandsaufnahme deutscher Erinnerungsverluste und - verlagerungen geraten.
Die Verluste treten in den beiden abschließenden Bänden, die sich den Selbstwertbildern und Institutionen und den Gestaltungen deutscher Innerlichkeit widmen, deutlicher hervor als im ersten Band, der die prominentesten deutschen Leitmotive (unter den Rubriken „Reich”, „Dichter und Denker”, „Volk”, „Erbfeind”, „Zerrissenheit”und „Schuld”) herausstellt. Aber das tut dem Unternehmen keinen Abbruch.
Was nunmehr in unvergleichlicher Fülle vor uns liegt, sind Ergebnisse von Probebohrungen in auratischen Ablagerungen des 19. und 20. Jahrhunderts und vereinzelt in älteren Schichten, teils nach bildungsbürgerlichen Auswahlkriterien, teils mit kalkulierter Willkür angesetzt, so dass sich Erwartbares und Überraschendes assoziierend durchdringen. Eine Enzyklopädie der Erinnerungsorte ist nicht entstanden, konnte nicht entstehen. Vieles musste übergangen werden, und fast alles ist noch im Fluss. Die drei Bände sind Arbeitsbücher, Materialsammlungen für Recherchen nach Unter- und Hintergründen gemeindeutscher Bilderproduktion in einer Zeit, die solche Produktivität für vorgestrig hält und blind dafür ist, dass nahezu alle Stoffe und Figuren des globalisierten Kulturangebots wenigen alteuropäischen Repertoires entstammen.
Was also beschäftigt die deutsche Kollektiverinnerung zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Es arbeitet sich mehr denn je an Nachbildungen von Täter-, Opfer- und Widerstandsrollen in den zwölf Jahren der Herrschaft Adolf Hitlers ab. Horror, Angstlust und Verehrung, die ständigen Warnungen ebenso wie die Koketterien mit dem Verbotenen polieren den Schreckensglanz des Nationalsozialismus auf. Dieser avanciert inmitten des medialen Realitätengewitters zu einer Art Realissimum und wird in (anti)faschistischen Wiederaufführungen leidenschaftlich parodiert. In den „Erinnerungsorten” gliedert er als Zeitenwende die meisten Einzeldarstellungen in Vorher und Nachher. Vermutlich wird unsere Faszination solange anhalten, bis ein anderes Realissimum – der 11. September 2001 und seine Folgen? – das alte ablöst.
Die Anthologie von François und Schulze verrät uns noch mehr über die gegenwärtige deutsche Gedächtniskultur: Viele historische Bezugspunkte sind nicht mehr national, sondern nur noch regional verortet. Andere haben ein ostentativ ostdeutsches oder westdeutsches Gepräge (Rosa Luxemburg vs. Achtundsechzig, „Wir sind das Volk” vs. Sozialstaat). Als richtungweisende Bindekräfte wiederentdeckt werden Disziplin, Leistungswillen, Religion und Natur just dann, wenn sie vollends desavouiert zu sein scheinen. Auf ähnliche Weise laden sich Weihnachten, Karneval und andere entleerte Traditionsfeste durch das Marketing kaufkräftiger Erinnerungen auf. Der deutsche Wald hat Albrecht Lehmann zufolge seine ideologische Bedeutung verloren und seine ästhetische bewahrt. Kurioserweise geht der Prozess der Individualisierung „offenbar mit einer Abwertung des Symbols ‚Wald‘ und einer Aufwertung der Bäume als Einzelwesen einher”. Und die bedrohte Menschenart der Deutschen macht sich Gedanken um die Nachwelt. Sie will ihre Kulturgüter vor der Gleichgültigkeit der Nachkommen schützen und lagert Duplikate in Kulturbunkern ein.
Zweifel nagen an der eigenen Überlieferungsbereitschaft in einem Land, in dem nicht nur der Anteil der Ein-Personen-Haushalte stetig wächst, sondern auch die meisten Kleinfamilien wie Singles nebeneinander her leben. Nur sehr beschränkt lässt sich das Bedürfnis nach kultischer Erinnerung kunsthistorisch, archivarisch, mahnmalerrichtend und pädagogisch beleben. Es folgt seinen eigenen Zyklen. Die Beschwörung „nationaler Identität” jedenfalls gehört zu den Konservierungsbestrebungen. In ihrer Abstraktheit vernebelt und schablonisiert sie die schwankenden Gestalten des Deutschseins – das nie und nimmer mit sich identisch war. Zuwanderer aus der Türkei und anderen Ländern bringen ihre eigenen Erinnerungsorte mit (deren Zukunft in westlicher, postindustrieller Umgebung jedoch unsicher ist). Wer ihnen gegenüber das deutsche Herkommen lebendig halten möchte, tut das am besten dadurch, dass er regelmäßig die überindividuellen Orte seines Herzens aufsucht und von ihnen spricht.
Grundlos ist die Besorgnis, dass sich in der Ära des entgrenzten Datenverkehrs der Genius loci verflüchtigen werde. So wie im Orbit die Erde als unwahrscheinlicher und verletzlicher Hort des Lebens sichtbar wird, schärfen Aufenthalte im virtuellen Einerlei den Sinn für die neue Entrücktheit der irdischen Stätten und die Unersetzlichkeit der eigenen. Ortlosigkeit verlockt die verblichenen Orte zur Wiederkehr. Niemand macht in Atopia Politik und in Telepolis Geschäfte ohne erinnernde Rückbindung an die nichtvirtuellen Plätze. So austauschbar aber die Programme sind, so wenig sind es die Wege der Erinnerung.
Das nun abgeschlossene Sammelwerk der „deutschen Erinnerungsorte” öffnet den Blick auf das Offensichtliche, das die Deutschen, alles Nationalen überdrüssig, auszublenden gewohnt sind. Die Lektüre gibt ihnen die erlösende Chance, konkret zu werden, anstatt anti- und prodeutsche Phrasen zu dreschen.
FRANK BÖCKELMANN
ETIENNE FRANCOIS und HAGEN SCHULZE (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Verlag C.H. Beck, München 2001. Band II, 725 Seiten mit 77 Abbildungen, 68 Mark. Band III, ca. 740 Seiten mit ca. 75 Abbildungen, 68 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Das Sammelwerk der „Deutschen Erinnerungsorte” von Etienne François und Hagen Schulze ist abgeschlossen
Nach einer gängigen Sottise der siebziger und achtziger Jahre gab es für die Bundesdeutschen keine Objekte nationaler Genugtuung außer ihrer D-Mark und ihrer erfolgreichen Fußballmannschaft. Was bleibt ihnen dann heute noch? 1997 wurde im Feuilleton dieser Zeitung die rhetorische Frage gestellt, was denn noch deutsch sei in einem Europa, das die Mark abschaffe. Nun, in dem Sammelwerk, dessen zweiter und dritter Band hier angezeigt werden, geben Historiker, Philosophen, Germanisten, Soziologen und Publizisten auf gut 2100 Seiten ernsthaft Antwort auf eben diese Frage. Die Bände erscheinen zur rechten Zeit, denn die Alteingesessenen hierzulande sind auf dem besten Weg zu vergessen, an was sie sich alles erinnern könnten. Schon nach dem Überfliegen der Inhaltsverzeichnisse wird kein Leser daran zweifeln, dass das Werk um weitere drei oder sechs Bände erweitert werden könnte. Sogar die beiden wichtigsten, weil allgegenwärtigen deutschen Erinnerungsspeicher, die Sprache und die Landschaft, wurden ausgespart, als wollte man bestätigen, dass Deutsches für Deutsche auch und gerade bei gründlicher Innenschau voller blinder Flecken ist.
Das Projekt der Herausgeber Etienne François und Hagen Schulze frappiert vorab mit dem, was es wie selbstverständlich voraussetzt: ein „kollektives Gedächtnis der Nation”, eine Erinnerungsgemeinschaft, die die bekennenden Deutschen mit den gleichgültig und widerwillig Deutschen vereint und nicht ausschließlich auf dem nachgeborenen Entsetzen über „Auschwitz” gründet, vielmehr außer diesem Topos des absolut Bösen eine unbestimmbar große Zahl anderer, sehr unterschiedlich beleumundeter Urszenen, Mythen, Plätze, Werke und Leitbilder geerbt hat. Was Pierre Nora mit seinen „Lieux de mémoire” für Frankreich unternommen hat, glaubten die Herausgeber für das deutsche Nachbarland nicht erst rechtfertigen zu müssen. (Und Recht hatten sie.) Insgesamt einhunderteinundzwanzig überlieferte Topoi haben sie untersuchen lassen. Zweiundachtzig werden in den Bänden II und III vorgestellt, unter ihnen so verfängliche Motive wie: Reformation, Bauernkrieg, Friedrich der Große, Stalingrad, „Achtundsechzig”, Pflicht, „goldenes Handwerk”, „Ruhe und Ordnung”, „Moloch Großstadt”, Weihnachten, deutscher Wald, Karl Marx, Karl May, Schrebergarten, Richard Wagner und Faust. D-Mark und Fußball werden unter der Rubrik „Leistung” abgehandelt.
Das Vertrackte an Erinnerungsorten ist freilich, dass sie von allen Erinnernden und nicht von den Historikern gekürt werden. Hier muss die Hermeneutik der Empirie den Vortritt lassen. Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich eine gewisse Unentschlossenheit der Herausgeber. Oftmals ließen sie ihren auf Entmystifizierung geschichtlicher Vorgänge erpichten Fachautoren die Zügel schießen und unterließen es, sie zu einer eingehenden Analyse heutiger Vergangenheitswahrnehmung zu verpflichten. Zu den aufschlussreichsten Kapiteln gehören jene, in denen der Nachwirkung und der aktuellen Phänomenologie breiter Raum gewährt wird, beispielsweise die Beiträge von Gérald Chaix („Die Reformation”), Rolf Kießling („Der Bauernkrieg”), Sylvia Paletschek („Kinder – Küche – Kirche”), Albrecht Lehmann („Der deutsche Wald”), Catharina Clemens („Neuschwanstein”) und Stephan Krass („Der Kulturbunker”).
Leider ist nicht wenigen Autoren nach dem Galopp durch die Nachgeschichte ihrer „Orte” bei der Ankunft im Heute die Luft ausgegangen. Ihre Darstellungen erschöpfen sich in historischer Detailzeichnung und Richtigstellung und kulturpolitischer Wertung. Über die Umtriebigkeit ihrer Themen in der Phantombildnerei der Gegenwart erfahren wir nichts. Auf diese Weise wurden die „Orte” Stalingrad, Moloch Großstadt, Versicherung, Richard Wagner, Albert Einstein, Marlene Dietrich und Karneval vergeudet.
Auch werden Kristallisationspunkte deutscher Selbstvergewisserung präsentiert, die nach Auskunft der jeweiligen Bearbeiter ihren Nimbus seit längerem eingebüßt haben, etwa die Devise „Frisch, fromm, fröhlich, frei” des Turnvaters Jahn, die Berliner „Freiheitsglocke”, die documenta I des Jahres 1955, das Straßburger Münster, Arminius, Friedrich Schiller, die „Völkerschlacht” vor Leipzig und die Hausmusik. So ist das Projekt auch zu einer provisorischen Bestandsaufnahme deutscher Erinnerungsverluste und - verlagerungen geraten.
Die Verluste treten in den beiden abschließenden Bänden, die sich den Selbstwertbildern und Institutionen und den Gestaltungen deutscher Innerlichkeit widmen, deutlicher hervor als im ersten Band, der die prominentesten deutschen Leitmotive (unter den Rubriken „Reich”, „Dichter und Denker”, „Volk”, „Erbfeind”, „Zerrissenheit”und „Schuld”) herausstellt. Aber das tut dem Unternehmen keinen Abbruch.
Was nunmehr in unvergleichlicher Fülle vor uns liegt, sind Ergebnisse von Probebohrungen in auratischen Ablagerungen des 19. und 20. Jahrhunderts und vereinzelt in älteren Schichten, teils nach bildungsbürgerlichen Auswahlkriterien, teils mit kalkulierter Willkür angesetzt, so dass sich Erwartbares und Überraschendes assoziierend durchdringen. Eine Enzyklopädie der Erinnerungsorte ist nicht entstanden, konnte nicht entstehen. Vieles musste übergangen werden, und fast alles ist noch im Fluss. Die drei Bände sind Arbeitsbücher, Materialsammlungen für Recherchen nach Unter- und Hintergründen gemeindeutscher Bilderproduktion in einer Zeit, die solche Produktivität für vorgestrig hält und blind dafür ist, dass nahezu alle Stoffe und Figuren des globalisierten Kulturangebots wenigen alteuropäischen Repertoires entstammen.
Was also beschäftigt die deutsche Kollektiverinnerung zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Es arbeitet sich mehr denn je an Nachbildungen von Täter-, Opfer- und Widerstandsrollen in den zwölf Jahren der Herrschaft Adolf Hitlers ab. Horror, Angstlust und Verehrung, die ständigen Warnungen ebenso wie die Koketterien mit dem Verbotenen polieren den Schreckensglanz des Nationalsozialismus auf. Dieser avanciert inmitten des medialen Realitätengewitters zu einer Art Realissimum und wird in (anti)faschistischen Wiederaufführungen leidenschaftlich parodiert. In den „Erinnerungsorten” gliedert er als Zeitenwende die meisten Einzeldarstellungen in Vorher und Nachher. Vermutlich wird unsere Faszination solange anhalten, bis ein anderes Realissimum – der 11. September 2001 und seine Folgen? – das alte ablöst.
Die Anthologie von François und Schulze verrät uns noch mehr über die gegenwärtige deutsche Gedächtniskultur: Viele historische Bezugspunkte sind nicht mehr national, sondern nur noch regional verortet. Andere haben ein ostentativ ostdeutsches oder westdeutsches Gepräge (Rosa Luxemburg vs. Achtundsechzig, „Wir sind das Volk” vs. Sozialstaat). Als richtungweisende Bindekräfte wiederentdeckt werden Disziplin, Leistungswillen, Religion und Natur just dann, wenn sie vollends desavouiert zu sein scheinen. Auf ähnliche Weise laden sich Weihnachten, Karneval und andere entleerte Traditionsfeste durch das Marketing kaufkräftiger Erinnerungen auf. Der deutsche Wald hat Albrecht Lehmann zufolge seine ideologische Bedeutung verloren und seine ästhetische bewahrt. Kurioserweise geht der Prozess der Individualisierung „offenbar mit einer Abwertung des Symbols ‚Wald‘ und einer Aufwertung der Bäume als Einzelwesen einher”. Und die bedrohte Menschenart der Deutschen macht sich Gedanken um die Nachwelt. Sie will ihre Kulturgüter vor der Gleichgültigkeit der Nachkommen schützen und lagert Duplikate in Kulturbunkern ein.
Zweifel nagen an der eigenen Überlieferungsbereitschaft in einem Land, in dem nicht nur der Anteil der Ein-Personen-Haushalte stetig wächst, sondern auch die meisten Kleinfamilien wie Singles nebeneinander her leben. Nur sehr beschränkt lässt sich das Bedürfnis nach kultischer Erinnerung kunsthistorisch, archivarisch, mahnmalerrichtend und pädagogisch beleben. Es folgt seinen eigenen Zyklen. Die Beschwörung „nationaler Identität” jedenfalls gehört zu den Konservierungsbestrebungen. In ihrer Abstraktheit vernebelt und schablonisiert sie die schwankenden Gestalten des Deutschseins – das nie und nimmer mit sich identisch war. Zuwanderer aus der Türkei und anderen Ländern bringen ihre eigenen Erinnerungsorte mit (deren Zukunft in westlicher, postindustrieller Umgebung jedoch unsicher ist). Wer ihnen gegenüber das deutsche Herkommen lebendig halten möchte, tut das am besten dadurch, dass er regelmäßig die überindividuellen Orte seines Herzens aufsucht und von ihnen spricht.
Grundlos ist die Besorgnis, dass sich in der Ära des entgrenzten Datenverkehrs der Genius loci verflüchtigen werde. So wie im Orbit die Erde als unwahrscheinlicher und verletzlicher Hort des Lebens sichtbar wird, schärfen Aufenthalte im virtuellen Einerlei den Sinn für die neue Entrücktheit der irdischen Stätten und die Unersetzlichkeit der eigenen. Ortlosigkeit verlockt die verblichenen Orte zur Wiederkehr. Niemand macht in Atopia Politik und in Telepolis Geschäfte ohne erinnernde Rückbindung an die nichtvirtuellen Plätze. So austauschbar aber die Programme sind, so wenig sind es die Wege der Erinnerung.
Das nun abgeschlossene Sammelwerk der „deutschen Erinnerungsorte” öffnet den Blick auf das Offensichtliche, das die Deutschen, alles Nationalen überdrüssig, auszublenden gewohnt sind. Die Lektüre gibt ihnen die erlösende Chance, konkret zu werden, anstatt anti- und prodeutsche Phrasen zu dreschen.
FRANK BÖCKELMANN
ETIENNE FRANCOIS und HAGEN SCHULZE (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Verlag C.H. Beck, München 2001. Band II, 725 Seiten mit 77 Abbildungen, 68 Mark. Band III, ca. 740 Seiten mit ca. 75 Abbildungen, 68 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001Heil dir im Kaffeekranz
Übers Dorf: Hagen Schulze und Etienne François sammeln das Verschwinden / Von Ulrich Raulff
Man denkt an Deutschland nicht nur bei der Nacht. Gelegentlich muß man auch bei Tage erklären, was es mit diesem merkwürdigen Land auf sich hat. Dazu wähle man ein emblematisches Bild, einen typischen Satz, an dem sich weite Bezirke der Nationalseele beschreiben lassen. Zum Beispiel das jedem romantischen Wanderer aus Ausflugslokalen bekannte Schild: "Im Garten nur Kännchen". Der Topos, den der Leser in der ersten Tranche des dreibändigen Werks "Deutsche Gedächtnisorte" am schmerzlichsten vermißt, liegt eine knappe Kanne weiter. Es ist der Beerdigungskaffee. An diesem nationalen Kulturinstitut, einem Seelenort von langer Überlieferung und literarischer Dignität, ließe sich am besten dartun, woran es dem von Hagen Schulze und Etienne François besorgten Jahrhundertwerk am meisten gebricht: nicht an Einfallsreichtum der Kondolenten, sondern an jener höheren Heiterkeit, welche die Trauer über den unwiederbringlichen Verlust ablöst. Vergnüglich nämlich wollte ihre Wissenschaft sein, eine Historie nicht als Widerpart, sondern als verständnisvoller Begleiter des Lebens - und am Ende lehrt sie uns das Schaudern vor der Endlichkeit der Erinnerung: tragisches Ende eines Beerdigungskaffees.
Zwanzig Jahre sind vergangen, seit Pierre Nora sein berühmtes Projekt der französischen lieux de mémoire zuerst vorstellte, das schließlich in sieben immer fetteren Bänden seinen Abschluß fand. Zwanzig Jahre, und doch besteht wenig Grund zum Spott über die verspätete Nation. Nora ist zwar viel zitiert und übersetzt, aber wenig übertragen und appliziert worden, und so stellt das Werk von François, Schulze & Co. tatsächlich ein bemerkenswertes Pionierunternehmen dar. Zumal die beiden Herausgeber, ausgewiesene Kenner der neueren deutschen und europäischen Geschichte, sich gehütet haben, in der deutschen Geschichte nach französischem Rezept zu kochen. Denn das deutsche Gedächtnis hat andere Narben und Lücken als das französische. Entsprechend ruinöser, kritischer sind seine Orte.
Mit dem aus der Rhetorik übertragenen Konzept der "Gedächtnisorte" wollte Nora eine Geschichte der Nation im postnationalen Zeitalter schreiben. Analog zum Begriff des "offenen Kunstwerks" sollte eine offene Geschichte entstehen, die dem subjektiven, fragmentarischen und polemischen Charakter des Gedächtnisses mehr vertraute als den abgeklärten Hervorbringungen der Geschichtswissenschaft. Eine Neugeburt der Historie aus dem Geist der Anthropologie - und zugleich Selbstreflexion der Geschichtsschreibung auf ihren Bankrott im Zeitalter des institutionalisierten und politisierten Gedenkens. An den "Orten" in vielerlei Gestalt - Symbole, Bauten, Bücher, Bilder, Lieder und Insignien von Nation und Republik - fand das nationale Gedächtnis seine letzte Zuflucht, in denselben Orten aber dokumentierte sich auch die Verstreuung des gemeinsamen Leid- und Glücksschatzes.
Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald", schrieb 1949 Richard Alewyn, und in gewisser Weise läßt sich dieses Diktum auf die gesamte Geschichte der Deutschen erweitern. Auch andere nationale Gedächtnisse haben ihre verfluchten Inseln, sie heißen Revolution oder Sezession, Vendée oder Vietnam. Den Zivilisationsbruch aber kennt nur die deutsche Geschichte; sie als einzige hat das Undenkbare als Denknotwendigkeit akzeptiert. Wer hier auf dem Weg zu den Gedächtnisorten in die Tiefe steigt, zahlt Entschädigung für Jahre der historisch-semantischen Zwangsarbeit. Denn alle Gedächtnisgeschichte ist Deutungsgeschichte, und zu den Siegen, die Hitler nicht mehr zu entreißen sind, gehört die restlose Zerstörung des Kontinuums überlieferter Bedeutungen.
Da das zwanzigste Jahrhundert weniger im Guten denn im Bösen "das deutsche Jahrhundert" geworden ist, glauben die Herausgeber sich berechtigt, sich bei der Auswahl der Gedächtnisorte stark auf die beiden letzten Jahrhunderte zu konzentrieren. Hätte ein Mediävist im Herausgebergremium anders optiert? fragt sich der Leser. Und freut sich umgekehrt über den klugen Schachzug, mit dem François und Schulze den dezentralen Besonderheiten der deutschen Geschichte methodisch Kapital abgewinnen. Weil nämlich die deutschen Geschichten auf so vielen Linien liefen, erst spät durch die Nation totalisiert und wenige Jahrzehnte danach schon wieder gebrochen wurden, haben sich die beiden Archäologen des Gedächtnisses dafür entschieden, bevorzugt die europäischen Verbindungen der deutschen Seele auszugraben. Im ersten Band zeigt sich das gleich mehrmals, etwa in den zweiseitigen Betrachtungen (Charlemagne - Karl der Große oder Tannenberg - Grunwald) ein und desselben Gedächtnisorts, die Modellcharakter für künftige europäische Geschichten haben könnten.
Andere Grenzen haben die Herausgeber weniger leicht überschritten. Schon die Lektüre des ersten Bandes und ein Blick ins Inhaltsverzeichnis der beiden für den Herbst angekündigten Folgebände zeigt die Beschränkung auf die gute Stube der Geschichtsschreibung. Die Literatur- und Kunstgeschichte kommt zu kurz - wie kann man "Deutsche Gedächtnisorte" ohne den "Faust" und ohne das Stichwort "Dürer" wagen? Die Abteilung "Bildung", angekündigt für den dritten Band, springt von Rahel Varnhagen zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft - und da ist kein Luther, nirgends, und kein Katechismus, keine Volksschule und kein Wilhelm Busch, da ist vor allem, und das ist gravierend, kein "Rembrandt als Erzieher". Wie denn überhaupt, sieht man von dem großartigen Auftakt des ersten Bandes mit Felix Dahns "Kampf um Rom", wiedergelesen von Arnold Esch, ab, die Bücher und Bilder, auch die Lieder der Deutschen nicht so präsent sind, wie sie es zu sein verdienten. Die Matratzengruft von Paris ist da, gottlob, doch was ist mit dem Grab in Highgate, was mit demjenigen auf dem Friedhof von Minusio - sind das keine deutschen Gedächtnisorte? Schmerzlich vermißt man zentrale Namen wie Krupp, Rosa Luxemburg und Konrad Adenauer, ungern verzichtet man auf Einträge wie die Normierung 08/15, von der man ebenso rasch auf eine Via regia zur deutschen Seele im industriellen Zeitalter gelangt wäre wie von dem besagten Kännchen im Garten. Doch man kann nicht alles haben.
Und man bekommt ja nicht wenig. Exemplarisch gut gelungen ist der Beitrag von Hagen Schulze über Versailles, der in Zügen von geradezu mathematischer Eleganz den Aufstieg dieses französischen Ortes zum deutschen Triumph- und Haßtopos ersten Ranges und sein allmähliches Verglühen im Gedächtnishintergrund nachzeichnet. Großartig in ihrer souveränen Materialbeherrschung - und das heißt bei dieser gedrängten, essayistischen Behandlungsart immer Verdichtung - sind die Beiträge von Otto Gerhard Oexle über Canossa, Gerd Krumeich über die Dolchstoßlegende und Georg Bollenbeck über Weimar. Bestechend klar ist Heinz Dieter Kittsteiners Kurzgeschichte des deutschen Idealismus, ein dramaturgisches Kabinettstück Joachim Fests Darstellung der letzten Stunden im Führerbunker. Eigentümlich schief wirkt demgegenüber der Beitrag von Dieter Borchmeyer über Goethe, der sich wenig für seinen Helden, um so mehr aber für dessen parodistischen Gegenspieler Pustkuchen interessiert. Noch mehr zu beklagen ist das Versagen vor einem so "heißen" Gedächtnisort wie Nietzsche: Steven E. Aschheim gibt nur die erste Hälfte der hundertjährigen Lebens- und Leidensgeschichte der Deutschen mit diesem Denker richtig wieder, verkürzt aber die NS-Deutungsgeschichte und Heideggers Gegenprojekt, versagt schließlich völlig vor den dramatischen Auseinandersetzungen Benns und Thomas Manns mit Nietzsche und seiner allmählichen Entgiftung durch Löwith und Schlechta: Hier wurde eine große Chance vertan.
Ihre Chance gut genutzt haben hingegen Anne G. Kosfeld in ihren Überlegungen zu Nürnberg und Wolfgang Ullrich in den seinen zum Bamberger Reiter und zu Uta von Naumburg - die eine, weil sie darstellt, wie die Bürger seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts selbst ihre Stadt planmäßig zum Gedächtnisort ausbauten, der andere, weil er die späte Geburt zweier vermeintlich alter Gedächtnisorte mit lichtbildnerischen Mitteln beschreibt.
Ein ähnliches Maß an Sensibilität für den eigenen historischen Standort hätte man auch dem Unternehmen von François und Schulze gewünscht. Aber anders als Nora, der sein Projekt zeitdiagnostisch betrieb, meiden François und Schulze die riskanteren Spiele der Selbsterkenntnis. Nun gibt es zwei Auffassungen der Gedächtnisgeschichte, pausbäckig und positiv die eine, schalkhaft und destruktiv die andere. Die eine sieht sich als Erbin aller historisch-anthropologischer Einsprüche gegen die wissenschaftliche Geschichte seit Nietzsche, Péguy und Halbwachs, eine existentialistische Geschichte, die registriert, woran die Menschen in Gemeinschaft festgehalten haben: eine geglaubte Vergangenheit diesseits der kalten Vergangenheit der Historie. Die andere sieht sich als ironische Aufzeichnung der immensen Vergessensleistungen, die der historische Sinn der Europäer in dem Bemühen vollbracht hat, die gesamte Vergangenheit in der Form der Nationalgeschichte abzuspeichern: keine Begriffs-, sondern eine Vergriffsgeschichte. Die eine erzählt Bewahrensgeschichten, die andere Verschwindensgeschichten. Auch die "Deutschen Gedächtnisorte" möchten Bewahrensgeschichten erzählen, ermitteln aber lauter Vergessensgeschichten.
Dabei haben die Herausgeber, ach! darauf verzichtet, eine Liste der erkalteten Gedächtnisorte aufzumachen: Germania, die Gotik, Helgoland, Sedan, Troja und die Kolonien, Hugo Eckener und der Busento bei Cosenza . . . Und trotzdem endet jeder zweite der Beiträge mit der melancholischen Feststellung, daß auch der soeben beschriebene Gedächtnisort in spätestens einer Generation versunken und vom Vergessen überspült sein wird, weil die nachwachsenden Geschlechter sich bei der Erwähnung von Felix Dahn und der Schlacht von Tannenberg verständnislos durchs Haargel fahren. Ballermann eignet sich eben nicht zum Gedächtnisort, und die Generation Golf gibt sich mit der Erinnerung an die Ritterburg von Playmobil zufrieden. Die Zerstörung der Vergangenheit, verstanden als Bruch der Überlieferungsketten, hat Eric Hobsbawm geschrieben, den das Vorwort zitiert, sei die bestürzendste Erfahrung der Europäer an der Schwelle zum dritten Jahrtausend - eine Erfahrung, die die "Deutschen Gedächtnisorte" widerspiegeln, ohne sie zu reflektieren. Was sie erfassen, sind nicht die deutschen Gedächtnisorte, sondern unsere Gedächtnisorte, wie sie gerade noch auftauchen auf der Benutzeroberfläche der Jetztzeit.
Die PC-Metapher ist so abwegig nicht. Tatsächlich bieten die "Deutschen Gedächtnisorte" anhand vielfach vernetzter Knotenpunkte eine zeitgemäße Form der Geschichtsvermittlung. Je nachdem, wie man das Buch liest, glaubt man durch eine Reihe von Drehbüchern für den Kulturkanal zu blättern oder ein Skript für eine Ausstellung in der Hand zu halten. Deutlich verspürt man das Bestreben, sozusagen die Entelechie dieser Geschichtsschreibung, aus der Zweidimensionalität monographischer Behandlung in eine andere, mediale oder monumentale Körperlichkeit auszubrechen. Und entspricht das nicht ihrer eigentümlichen Genese? Denn die Gedächtnisgeschichte ist eine vielhändige Schreibarbeit, an der zahllose Autoren und Generationen von Autoren mitgewirkt haben. Diese Schreibarbeit zu entziffern, in der Tradition der Brüder Grimm nicht die Naturpoesie des deutschen Volkes, sondern dessen eigentümliche Geschichtspoesie einzufangen - dies ist der Sinn des Unternehmens, das Etienne François und Hagen Schulze gewagt haben. Sagen wir, es sei gelungen.
Etienne François, Hagen Schulze (Hrsg.): "Deutsche Erinnerungsorte". Band 1. C. H. Beck Verlag, München 2001. 725 S., 77 Abb., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Übers Dorf: Hagen Schulze und Etienne François sammeln das Verschwinden / Von Ulrich Raulff
Man denkt an Deutschland nicht nur bei der Nacht. Gelegentlich muß man auch bei Tage erklären, was es mit diesem merkwürdigen Land auf sich hat. Dazu wähle man ein emblematisches Bild, einen typischen Satz, an dem sich weite Bezirke der Nationalseele beschreiben lassen. Zum Beispiel das jedem romantischen Wanderer aus Ausflugslokalen bekannte Schild: "Im Garten nur Kännchen". Der Topos, den der Leser in der ersten Tranche des dreibändigen Werks "Deutsche Gedächtnisorte" am schmerzlichsten vermißt, liegt eine knappe Kanne weiter. Es ist der Beerdigungskaffee. An diesem nationalen Kulturinstitut, einem Seelenort von langer Überlieferung und literarischer Dignität, ließe sich am besten dartun, woran es dem von Hagen Schulze und Etienne François besorgten Jahrhundertwerk am meisten gebricht: nicht an Einfallsreichtum der Kondolenten, sondern an jener höheren Heiterkeit, welche die Trauer über den unwiederbringlichen Verlust ablöst. Vergnüglich nämlich wollte ihre Wissenschaft sein, eine Historie nicht als Widerpart, sondern als verständnisvoller Begleiter des Lebens - und am Ende lehrt sie uns das Schaudern vor der Endlichkeit der Erinnerung: tragisches Ende eines Beerdigungskaffees.
Zwanzig Jahre sind vergangen, seit Pierre Nora sein berühmtes Projekt der französischen lieux de mémoire zuerst vorstellte, das schließlich in sieben immer fetteren Bänden seinen Abschluß fand. Zwanzig Jahre, und doch besteht wenig Grund zum Spott über die verspätete Nation. Nora ist zwar viel zitiert und übersetzt, aber wenig übertragen und appliziert worden, und so stellt das Werk von François, Schulze & Co. tatsächlich ein bemerkenswertes Pionierunternehmen dar. Zumal die beiden Herausgeber, ausgewiesene Kenner der neueren deutschen und europäischen Geschichte, sich gehütet haben, in der deutschen Geschichte nach französischem Rezept zu kochen. Denn das deutsche Gedächtnis hat andere Narben und Lücken als das französische. Entsprechend ruinöser, kritischer sind seine Orte.
Mit dem aus der Rhetorik übertragenen Konzept der "Gedächtnisorte" wollte Nora eine Geschichte der Nation im postnationalen Zeitalter schreiben. Analog zum Begriff des "offenen Kunstwerks" sollte eine offene Geschichte entstehen, die dem subjektiven, fragmentarischen und polemischen Charakter des Gedächtnisses mehr vertraute als den abgeklärten Hervorbringungen der Geschichtswissenschaft. Eine Neugeburt der Historie aus dem Geist der Anthropologie - und zugleich Selbstreflexion der Geschichtsschreibung auf ihren Bankrott im Zeitalter des institutionalisierten und politisierten Gedenkens. An den "Orten" in vielerlei Gestalt - Symbole, Bauten, Bücher, Bilder, Lieder und Insignien von Nation und Republik - fand das nationale Gedächtnis seine letzte Zuflucht, in denselben Orten aber dokumentierte sich auch die Verstreuung des gemeinsamen Leid- und Glücksschatzes.
Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald", schrieb 1949 Richard Alewyn, und in gewisser Weise läßt sich dieses Diktum auf die gesamte Geschichte der Deutschen erweitern. Auch andere nationale Gedächtnisse haben ihre verfluchten Inseln, sie heißen Revolution oder Sezession, Vendée oder Vietnam. Den Zivilisationsbruch aber kennt nur die deutsche Geschichte; sie als einzige hat das Undenkbare als Denknotwendigkeit akzeptiert. Wer hier auf dem Weg zu den Gedächtnisorten in die Tiefe steigt, zahlt Entschädigung für Jahre der historisch-semantischen Zwangsarbeit. Denn alle Gedächtnisgeschichte ist Deutungsgeschichte, und zu den Siegen, die Hitler nicht mehr zu entreißen sind, gehört die restlose Zerstörung des Kontinuums überlieferter Bedeutungen.
Da das zwanzigste Jahrhundert weniger im Guten denn im Bösen "das deutsche Jahrhundert" geworden ist, glauben die Herausgeber sich berechtigt, sich bei der Auswahl der Gedächtnisorte stark auf die beiden letzten Jahrhunderte zu konzentrieren. Hätte ein Mediävist im Herausgebergremium anders optiert? fragt sich der Leser. Und freut sich umgekehrt über den klugen Schachzug, mit dem François und Schulze den dezentralen Besonderheiten der deutschen Geschichte methodisch Kapital abgewinnen. Weil nämlich die deutschen Geschichten auf so vielen Linien liefen, erst spät durch die Nation totalisiert und wenige Jahrzehnte danach schon wieder gebrochen wurden, haben sich die beiden Archäologen des Gedächtnisses dafür entschieden, bevorzugt die europäischen Verbindungen der deutschen Seele auszugraben. Im ersten Band zeigt sich das gleich mehrmals, etwa in den zweiseitigen Betrachtungen (Charlemagne - Karl der Große oder Tannenberg - Grunwald) ein und desselben Gedächtnisorts, die Modellcharakter für künftige europäische Geschichten haben könnten.
Andere Grenzen haben die Herausgeber weniger leicht überschritten. Schon die Lektüre des ersten Bandes und ein Blick ins Inhaltsverzeichnis der beiden für den Herbst angekündigten Folgebände zeigt die Beschränkung auf die gute Stube der Geschichtsschreibung. Die Literatur- und Kunstgeschichte kommt zu kurz - wie kann man "Deutsche Gedächtnisorte" ohne den "Faust" und ohne das Stichwort "Dürer" wagen? Die Abteilung "Bildung", angekündigt für den dritten Band, springt von Rahel Varnhagen zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft - und da ist kein Luther, nirgends, und kein Katechismus, keine Volksschule und kein Wilhelm Busch, da ist vor allem, und das ist gravierend, kein "Rembrandt als Erzieher". Wie denn überhaupt, sieht man von dem großartigen Auftakt des ersten Bandes mit Felix Dahns "Kampf um Rom", wiedergelesen von Arnold Esch, ab, die Bücher und Bilder, auch die Lieder der Deutschen nicht so präsent sind, wie sie es zu sein verdienten. Die Matratzengruft von Paris ist da, gottlob, doch was ist mit dem Grab in Highgate, was mit demjenigen auf dem Friedhof von Minusio - sind das keine deutschen Gedächtnisorte? Schmerzlich vermißt man zentrale Namen wie Krupp, Rosa Luxemburg und Konrad Adenauer, ungern verzichtet man auf Einträge wie die Normierung 08/15, von der man ebenso rasch auf eine Via regia zur deutschen Seele im industriellen Zeitalter gelangt wäre wie von dem besagten Kännchen im Garten. Doch man kann nicht alles haben.
Und man bekommt ja nicht wenig. Exemplarisch gut gelungen ist der Beitrag von Hagen Schulze über Versailles, der in Zügen von geradezu mathematischer Eleganz den Aufstieg dieses französischen Ortes zum deutschen Triumph- und Haßtopos ersten Ranges und sein allmähliches Verglühen im Gedächtnishintergrund nachzeichnet. Großartig in ihrer souveränen Materialbeherrschung - und das heißt bei dieser gedrängten, essayistischen Behandlungsart immer Verdichtung - sind die Beiträge von Otto Gerhard Oexle über Canossa, Gerd Krumeich über die Dolchstoßlegende und Georg Bollenbeck über Weimar. Bestechend klar ist Heinz Dieter Kittsteiners Kurzgeschichte des deutschen Idealismus, ein dramaturgisches Kabinettstück Joachim Fests Darstellung der letzten Stunden im Führerbunker. Eigentümlich schief wirkt demgegenüber der Beitrag von Dieter Borchmeyer über Goethe, der sich wenig für seinen Helden, um so mehr aber für dessen parodistischen Gegenspieler Pustkuchen interessiert. Noch mehr zu beklagen ist das Versagen vor einem so "heißen" Gedächtnisort wie Nietzsche: Steven E. Aschheim gibt nur die erste Hälfte der hundertjährigen Lebens- und Leidensgeschichte der Deutschen mit diesem Denker richtig wieder, verkürzt aber die NS-Deutungsgeschichte und Heideggers Gegenprojekt, versagt schließlich völlig vor den dramatischen Auseinandersetzungen Benns und Thomas Manns mit Nietzsche und seiner allmählichen Entgiftung durch Löwith und Schlechta: Hier wurde eine große Chance vertan.
Ihre Chance gut genutzt haben hingegen Anne G. Kosfeld in ihren Überlegungen zu Nürnberg und Wolfgang Ullrich in den seinen zum Bamberger Reiter und zu Uta von Naumburg - die eine, weil sie darstellt, wie die Bürger seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts selbst ihre Stadt planmäßig zum Gedächtnisort ausbauten, der andere, weil er die späte Geburt zweier vermeintlich alter Gedächtnisorte mit lichtbildnerischen Mitteln beschreibt.
Ein ähnliches Maß an Sensibilität für den eigenen historischen Standort hätte man auch dem Unternehmen von François und Schulze gewünscht. Aber anders als Nora, der sein Projekt zeitdiagnostisch betrieb, meiden François und Schulze die riskanteren Spiele der Selbsterkenntnis. Nun gibt es zwei Auffassungen der Gedächtnisgeschichte, pausbäckig und positiv die eine, schalkhaft und destruktiv die andere. Die eine sieht sich als Erbin aller historisch-anthropologischer Einsprüche gegen die wissenschaftliche Geschichte seit Nietzsche, Péguy und Halbwachs, eine existentialistische Geschichte, die registriert, woran die Menschen in Gemeinschaft festgehalten haben: eine geglaubte Vergangenheit diesseits der kalten Vergangenheit der Historie. Die andere sieht sich als ironische Aufzeichnung der immensen Vergessensleistungen, die der historische Sinn der Europäer in dem Bemühen vollbracht hat, die gesamte Vergangenheit in der Form der Nationalgeschichte abzuspeichern: keine Begriffs-, sondern eine Vergriffsgeschichte. Die eine erzählt Bewahrensgeschichten, die andere Verschwindensgeschichten. Auch die "Deutschen Gedächtnisorte" möchten Bewahrensgeschichten erzählen, ermitteln aber lauter Vergessensgeschichten.
Dabei haben die Herausgeber, ach! darauf verzichtet, eine Liste der erkalteten Gedächtnisorte aufzumachen: Germania, die Gotik, Helgoland, Sedan, Troja und die Kolonien, Hugo Eckener und der Busento bei Cosenza . . . Und trotzdem endet jeder zweite der Beiträge mit der melancholischen Feststellung, daß auch der soeben beschriebene Gedächtnisort in spätestens einer Generation versunken und vom Vergessen überspült sein wird, weil die nachwachsenden Geschlechter sich bei der Erwähnung von Felix Dahn und der Schlacht von Tannenberg verständnislos durchs Haargel fahren. Ballermann eignet sich eben nicht zum Gedächtnisort, und die Generation Golf gibt sich mit der Erinnerung an die Ritterburg von Playmobil zufrieden. Die Zerstörung der Vergangenheit, verstanden als Bruch der Überlieferungsketten, hat Eric Hobsbawm geschrieben, den das Vorwort zitiert, sei die bestürzendste Erfahrung der Europäer an der Schwelle zum dritten Jahrtausend - eine Erfahrung, die die "Deutschen Gedächtnisorte" widerspiegeln, ohne sie zu reflektieren. Was sie erfassen, sind nicht die deutschen Gedächtnisorte, sondern unsere Gedächtnisorte, wie sie gerade noch auftauchen auf der Benutzeroberfläche der Jetztzeit.
Die PC-Metapher ist so abwegig nicht. Tatsächlich bieten die "Deutschen Gedächtnisorte" anhand vielfach vernetzter Knotenpunkte eine zeitgemäße Form der Geschichtsvermittlung. Je nachdem, wie man das Buch liest, glaubt man durch eine Reihe von Drehbüchern für den Kulturkanal zu blättern oder ein Skript für eine Ausstellung in der Hand zu halten. Deutlich verspürt man das Bestreben, sozusagen die Entelechie dieser Geschichtsschreibung, aus der Zweidimensionalität monographischer Behandlung in eine andere, mediale oder monumentale Körperlichkeit auszubrechen. Und entspricht das nicht ihrer eigentümlichen Genese? Denn die Gedächtnisgeschichte ist eine vielhändige Schreibarbeit, an der zahllose Autoren und Generationen von Autoren mitgewirkt haben. Diese Schreibarbeit zu entziffern, in der Tradition der Brüder Grimm nicht die Naturpoesie des deutschen Volkes, sondern dessen eigentümliche Geschichtspoesie einzufangen - dies ist der Sinn des Unternehmens, das Etienne François und Hagen Schulze gewagt haben. Sagen wir, es sei gelungen.
Etienne François, Hagen Schulze (Hrsg.): "Deutsche Erinnerungsorte". Band 1. C. H. Beck Verlag, München 2001. 725 S., 77 Abb., geb., 68,- DM.
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