In über 120 Beiträgen bieten die "Deutschen Erinnerungsorte" ein einzigartiges, ebenso gelehrtes wie spannend zu lesendes Panorama deutscher Geschichte und zugleich ein herausragendes Beispiel lebendiger Erinnerungskultur.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.10.2001Ein Volk von Bohrern sollt ihr sein
Das Sammelwerk der „Deutschen Erinnerungsorte” von Etienne François und Hagen Schulze ist abgeschlossen
Nach einer gängigen Sottise der siebziger und achtziger Jahre gab es für die Bundesdeutschen keine Objekte nationaler Genugtuung außer ihrer D-Mark und ihrer erfolgreichen Fußballmannschaft. Was bleibt ihnen dann heute noch? 1997 wurde im Feuilleton dieser Zeitung die rhetorische Frage gestellt, was denn noch deutsch sei in einem Europa, das die Mark abschaffe. Nun, in dem Sammelwerk, dessen zweiter und dritter Band hier angezeigt werden, geben Historiker, Philosophen, Germanisten, Soziologen und Publizisten auf gut 2100 Seiten ernsthaft Antwort auf eben diese Frage. Die Bände erscheinen zur rechten Zeit, denn die Alteingesessenen hierzulande sind auf dem besten Weg zu vergessen, an was sie sich alles erinnern könnten. Schon nach dem Überfliegen der Inhaltsverzeichnisse wird kein Leser daran zweifeln, dass das Werk um weitere drei oder sechs Bände erweitert werden könnte. Sogar die beiden wichtigsten, weil allgegenwärtigen deutschen Erinnerungsspeicher, die Sprache und die Landschaft, wurden ausgespart, als wollte man bestätigen, dass Deutsches für Deutsche auch und gerade bei gründlicher Innenschau voller blinder Flecken ist.
Das Projekt der Herausgeber Etienne François und Hagen Schulze frappiert vorab mit dem, was es wie selbstverständlich voraussetzt: ein „kollektives Gedächtnis der Nation”, eine Erinnerungsgemeinschaft, die die bekennenden Deutschen mit den gleichgültig und widerwillig Deutschen vereint und nicht ausschließlich auf dem nachgeborenen Entsetzen über „Auschwitz” gründet, vielmehr außer diesem Topos des absolut Bösen eine unbestimmbar große Zahl anderer, sehr unterschiedlich beleumundeter Urszenen, Mythen, Plätze, Werke und Leitbilder geerbt hat. Was Pierre Nora mit seinen „Lieux de mémoire” für Frankreich unternommen hat, glaubten die Herausgeber für das deutsche Nachbarland nicht erst rechtfertigen zu müssen. (Und Recht hatten sie.) Insgesamt einhunderteinundzwanzig überlieferte Topoi haben sie untersuchen lassen. Zweiundachtzig werden in den Bänden II und III vorgestellt, unter ihnen so verfängliche Motive wie: Reformation, Bauernkrieg, Friedrich der Große, Stalingrad, „Achtundsechzig”, Pflicht, „goldenes Handwerk”, „Ruhe und Ordnung”, „Moloch Großstadt”, Weihnachten, deutscher Wald, Karl Marx, Karl May, Schrebergarten, Richard Wagner und Faust. D-Mark und Fußball werden unter der Rubrik „Leistung” abgehandelt.
Das Vertrackte an Erinnerungsorten ist freilich, dass sie von allen Erinnernden und nicht von den Historikern gekürt werden. Hier muss die Hermeneutik der Empirie den Vortritt lassen. Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich eine gewisse Unentschlossenheit der Herausgeber. Oftmals ließen sie ihren auf Entmystifizierung geschichtlicher Vorgänge erpichten Fachautoren die Zügel schießen und unterließen es, sie zu einer eingehenden Analyse heutiger Vergangenheitswahrnehmung zu verpflichten. Zu den aufschlussreichsten Kapiteln gehören jene, in denen der Nachwirkung und der aktuellen Phänomenologie breiter Raum gewährt wird, beispielsweise die Beiträge von Gérald Chaix („Die Reformation”), Rolf Kießling („Der Bauernkrieg”), Sylvia Paletschek („Kinder – Küche – Kirche”), Albrecht Lehmann („Der deutsche Wald”), Catharina Clemens („Neuschwanstein”) und Stephan Krass („Der Kulturbunker”).
Leider ist nicht wenigen Autoren nach dem Galopp durch die Nachgeschichte ihrer „Orte” bei der Ankunft im Heute die Luft ausgegangen. Ihre Darstellungen erschöpfen sich in historischer Detailzeichnung und Richtigstellung und kulturpolitischer Wertung. Über die Umtriebigkeit ihrer Themen in der Phantombildnerei der Gegenwart erfahren wir nichts. Auf diese Weise wurden die „Orte” Stalingrad, Moloch Großstadt, Versicherung, Richard Wagner, Albert Einstein, Marlene Dietrich und Karneval vergeudet.
Auch werden Kristallisationspunkte deutscher Selbstvergewisserung präsentiert, die nach Auskunft der jeweiligen Bearbeiter ihren Nimbus seit längerem eingebüßt haben, etwa die Devise „Frisch, fromm, fröhlich, frei” des Turnvaters Jahn, die Berliner „Freiheitsglocke”, die documenta I des Jahres 1955, das Straßburger Münster, Arminius, Friedrich Schiller, die „Völkerschlacht” vor Leipzig und die Hausmusik. So ist das Projekt auch zu einer provisorischen Bestandsaufnahme deutscher Erinnerungsverluste und - verlagerungen geraten.
Die Verluste treten in den beiden abschließenden Bänden, die sich den Selbstwertbildern und Institutionen und den Gestaltungen deutscher Innerlichkeit widmen, deutlicher hervor als im ersten Band, der die prominentesten deutschen Leitmotive (unter den Rubriken „Reich”, „Dichter und Denker”, „Volk”, „Erbfeind”, „Zerrissenheit”und „Schuld”) herausstellt. Aber das tut dem Unternehmen keinen Abbruch.
Was nunmehr in unvergleichlicher Fülle vor uns liegt, sind Ergebnisse von Probebohrungen in auratischen Ablagerungen des 19. und 20. Jahrhunderts und vereinzelt in älteren Schichten, teils nach bildungsbürgerlichen Auswahlkriterien, teils mit kalkulierter Willkür angesetzt, so dass sich Erwartbares und Überraschendes assoziierend durchdringen. Eine Enzyklopädie der Erinnerungsorte ist nicht entstanden, konnte nicht entstehen. Vieles musste übergangen werden, und fast alles ist noch im Fluss. Die drei Bände sind Arbeitsbücher, Materialsammlungen für Recherchen nach Unter- und Hintergründen gemeindeutscher Bilderproduktion in einer Zeit, die solche Produktivität für vorgestrig hält und blind dafür ist, dass nahezu alle Stoffe und Figuren des globalisierten Kulturangebots wenigen alteuropäischen Repertoires entstammen.
Was also beschäftigt die deutsche Kollektiverinnerung zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Es arbeitet sich mehr denn je an Nachbildungen von Täter-, Opfer- und Widerstandsrollen in den zwölf Jahren der Herrschaft Adolf Hitlers ab. Horror, Angstlust und Verehrung, die ständigen Warnungen ebenso wie die Koketterien mit dem Verbotenen polieren den Schreckensglanz des Nationalsozialismus auf. Dieser avanciert inmitten des medialen Realitätengewitters zu einer Art Realissimum und wird in (anti)faschistischen Wiederaufführungen leidenschaftlich parodiert. In den „Erinnerungsorten” gliedert er als Zeitenwende die meisten Einzeldarstellungen in Vorher und Nachher. Vermutlich wird unsere Faszination solange anhalten, bis ein anderes Realissimum – der 11. September 2001 und seine Folgen? – das alte ablöst.
Die Anthologie von François und Schulze verrät uns noch mehr über die gegenwärtige deutsche Gedächtniskultur: Viele historische Bezugspunkte sind nicht mehr national, sondern nur noch regional verortet. Andere haben ein ostentativ ostdeutsches oder westdeutsches Gepräge (Rosa Luxemburg vs. Achtundsechzig, „Wir sind das Volk” vs. Sozialstaat). Als richtungweisende Bindekräfte wiederentdeckt werden Disziplin, Leistungswillen, Religion und Natur just dann, wenn sie vollends desavouiert zu sein scheinen. Auf ähnliche Weise laden sich Weihnachten, Karneval und andere entleerte Traditionsfeste durch das Marketing kaufkräftiger Erinnerungen auf. Der deutsche Wald hat Albrecht Lehmann zufolge seine ideologische Bedeutung verloren und seine ästhetische bewahrt. Kurioserweise geht der Prozess der Individualisierung „offenbar mit einer Abwertung des Symbols ‚Wald‘ und einer Aufwertung der Bäume als Einzelwesen einher”. Und die bedrohte Menschenart der Deutschen macht sich Gedanken um die Nachwelt. Sie will ihre Kulturgüter vor der Gleichgültigkeit der Nachkommen schützen und lagert Duplikate in Kulturbunkern ein.
Zweifel nagen an der eigenen Überlieferungsbereitschaft in einem Land, in dem nicht nur der Anteil der Ein-Personen-Haushalte stetig wächst, sondern auch die meisten Kleinfamilien wie Singles nebeneinander her leben. Nur sehr beschränkt lässt sich das Bedürfnis nach kultischer Erinnerung kunsthistorisch, archivarisch, mahnmalerrichtend und pädagogisch beleben. Es folgt seinen eigenen Zyklen. Die Beschwörung „nationaler Identität” jedenfalls gehört zu den Konservierungsbestrebungen. In ihrer Abstraktheit vernebelt und schablonisiert sie die schwankenden Gestalten des Deutschseins – das nie und nimmer mit sich identisch war. Zuwanderer aus der Türkei und anderen Ländern bringen ihre eigenen Erinnerungsorte mit (deren Zukunft in westlicher, postindustrieller Umgebung jedoch unsicher ist). Wer ihnen gegenüber das deutsche Herkommen lebendig halten möchte, tut das am besten dadurch, dass er regelmäßig die überindividuellen Orte seines Herzens aufsucht und von ihnen spricht.
Grundlos ist die Besorgnis, dass sich in der Ära des entgrenzten Datenverkehrs der Genius loci verflüchtigen werde. So wie im Orbit die Erde als unwahrscheinlicher und verletzlicher Hort des Lebens sichtbar wird, schärfen Aufenthalte im virtuellen Einerlei den Sinn für die neue Entrücktheit der irdischen Stätten und die Unersetzlichkeit der eigenen. Ortlosigkeit verlockt die verblichenen Orte zur Wiederkehr. Niemand macht in Atopia Politik und in Telepolis Geschäfte ohne erinnernde Rückbindung an die nichtvirtuellen Plätze. So austauschbar aber die Programme sind, so wenig sind es die Wege der Erinnerung.
Das nun abgeschlossene Sammelwerk der „deutschen Erinnerungsorte” öffnet den Blick auf das Offensichtliche, das die Deutschen, alles Nationalen überdrüssig, auszublenden gewohnt sind. Die Lektüre gibt ihnen die erlösende Chance, konkret zu werden, anstatt anti- und prodeutsche Phrasen zu dreschen.
FRANK BÖCKELMANN
ETIENNE FRANCOIS und HAGEN SCHULZE (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Verlag C.H. Beck, München 2001. Band II, 725 Seiten mit 77 Abbildungen, 68 Mark. Band III, ca. 740 Seiten mit ca. 75 Abbildungen, 68 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Das Sammelwerk der „Deutschen Erinnerungsorte” von Etienne François und Hagen Schulze ist abgeschlossen
Nach einer gängigen Sottise der siebziger und achtziger Jahre gab es für die Bundesdeutschen keine Objekte nationaler Genugtuung außer ihrer D-Mark und ihrer erfolgreichen Fußballmannschaft. Was bleibt ihnen dann heute noch? 1997 wurde im Feuilleton dieser Zeitung die rhetorische Frage gestellt, was denn noch deutsch sei in einem Europa, das die Mark abschaffe. Nun, in dem Sammelwerk, dessen zweiter und dritter Band hier angezeigt werden, geben Historiker, Philosophen, Germanisten, Soziologen und Publizisten auf gut 2100 Seiten ernsthaft Antwort auf eben diese Frage. Die Bände erscheinen zur rechten Zeit, denn die Alteingesessenen hierzulande sind auf dem besten Weg zu vergessen, an was sie sich alles erinnern könnten. Schon nach dem Überfliegen der Inhaltsverzeichnisse wird kein Leser daran zweifeln, dass das Werk um weitere drei oder sechs Bände erweitert werden könnte. Sogar die beiden wichtigsten, weil allgegenwärtigen deutschen Erinnerungsspeicher, die Sprache und die Landschaft, wurden ausgespart, als wollte man bestätigen, dass Deutsches für Deutsche auch und gerade bei gründlicher Innenschau voller blinder Flecken ist.
Das Projekt der Herausgeber Etienne François und Hagen Schulze frappiert vorab mit dem, was es wie selbstverständlich voraussetzt: ein „kollektives Gedächtnis der Nation”, eine Erinnerungsgemeinschaft, die die bekennenden Deutschen mit den gleichgültig und widerwillig Deutschen vereint und nicht ausschließlich auf dem nachgeborenen Entsetzen über „Auschwitz” gründet, vielmehr außer diesem Topos des absolut Bösen eine unbestimmbar große Zahl anderer, sehr unterschiedlich beleumundeter Urszenen, Mythen, Plätze, Werke und Leitbilder geerbt hat. Was Pierre Nora mit seinen „Lieux de mémoire” für Frankreich unternommen hat, glaubten die Herausgeber für das deutsche Nachbarland nicht erst rechtfertigen zu müssen. (Und Recht hatten sie.) Insgesamt einhunderteinundzwanzig überlieferte Topoi haben sie untersuchen lassen. Zweiundachtzig werden in den Bänden II und III vorgestellt, unter ihnen so verfängliche Motive wie: Reformation, Bauernkrieg, Friedrich der Große, Stalingrad, „Achtundsechzig”, Pflicht, „goldenes Handwerk”, „Ruhe und Ordnung”, „Moloch Großstadt”, Weihnachten, deutscher Wald, Karl Marx, Karl May, Schrebergarten, Richard Wagner und Faust. D-Mark und Fußball werden unter der Rubrik „Leistung” abgehandelt.
Das Vertrackte an Erinnerungsorten ist freilich, dass sie von allen Erinnernden und nicht von den Historikern gekürt werden. Hier muss die Hermeneutik der Empirie den Vortritt lassen. Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich eine gewisse Unentschlossenheit der Herausgeber. Oftmals ließen sie ihren auf Entmystifizierung geschichtlicher Vorgänge erpichten Fachautoren die Zügel schießen und unterließen es, sie zu einer eingehenden Analyse heutiger Vergangenheitswahrnehmung zu verpflichten. Zu den aufschlussreichsten Kapiteln gehören jene, in denen der Nachwirkung und der aktuellen Phänomenologie breiter Raum gewährt wird, beispielsweise die Beiträge von Gérald Chaix („Die Reformation”), Rolf Kießling („Der Bauernkrieg”), Sylvia Paletschek („Kinder – Küche – Kirche”), Albrecht Lehmann („Der deutsche Wald”), Catharina Clemens („Neuschwanstein”) und Stephan Krass („Der Kulturbunker”).
Leider ist nicht wenigen Autoren nach dem Galopp durch die Nachgeschichte ihrer „Orte” bei der Ankunft im Heute die Luft ausgegangen. Ihre Darstellungen erschöpfen sich in historischer Detailzeichnung und Richtigstellung und kulturpolitischer Wertung. Über die Umtriebigkeit ihrer Themen in der Phantombildnerei der Gegenwart erfahren wir nichts. Auf diese Weise wurden die „Orte” Stalingrad, Moloch Großstadt, Versicherung, Richard Wagner, Albert Einstein, Marlene Dietrich und Karneval vergeudet.
Auch werden Kristallisationspunkte deutscher Selbstvergewisserung präsentiert, die nach Auskunft der jeweiligen Bearbeiter ihren Nimbus seit längerem eingebüßt haben, etwa die Devise „Frisch, fromm, fröhlich, frei” des Turnvaters Jahn, die Berliner „Freiheitsglocke”, die documenta I des Jahres 1955, das Straßburger Münster, Arminius, Friedrich Schiller, die „Völkerschlacht” vor Leipzig und die Hausmusik. So ist das Projekt auch zu einer provisorischen Bestandsaufnahme deutscher Erinnerungsverluste und - verlagerungen geraten.
Die Verluste treten in den beiden abschließenden Bänden, die sich den Selbstwertbildern und Institutionen und den Gestaltungen deutscher Innerlichkeit widmen, deutlicher hervor als im ersten Band, der die prominentesten deutschen Leitmotive (unter den Rubriken „Reich”, „Dichter und Denker”, „Volk”, „Erbfeind”, „Zerrissenheit”und „Schuld”) herausstellt. Aber das tut dem Unternehmen keinen Abbruch.
Was nunmehr in unvergleichlicher Fülle vor uns liegt, sind Ergebnisse von Probebohrungen in auratischen Ablagerungen des 19. und 20. Jahrhunderts und vereinzelt in älteren Schichten, teils nach bildungsbürgerlichen Auswahlkriterien, teils mit kalkulierter Willkür angesetzt, so dass sich Erwartbares und Überraschendes assoziierend durchdringen. Eine Enzyklopädie der Erinnerungsorte ist nicht entstanden, konnte nicht entstehen. Vieles musste übergangen werden, und fast alles ist noch im Fluss. Die drei Bände sind Arbeitsbücher, Materialsammlungen für Recherchen nach Unter- und Hintergründen gemeindeutscher Bilderproduktion in einer Zeit, die solche Produktivität für vorgestrig hält und blind dafür ist, dass nahezu alle Stoffe und Figuren des globalisierten Kulturangebots wenigen alteuropäischen Repertoires entstammen.
Was also beschäftigt die deutsche Kollektiverinnerung zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Es arbeitet sich mehr denn je an Nachbildungen von Täter-, Opfer- und Widerstandsrollen in den zwölf Jahren der Herrschaft Adolf Hitlers ab. Horror, Angstlust und Verehrung, die ständigen Warnungen ebenso wie die Koketterien mit dem Verbotenen polieren den Schreckensglanz des Nationalsozialismus auf. Dieser avanciert inmitten des medialen Realitätengewitters zu einer Art Realissimum und wird in (anti)faschistischen Wiederaufführungen leidenschaftlich parodiert. In den „Erinnerungsorten” gliedert er als Zeitenwende die meisten Einzeldarstellungen in Vorher und Nachher. Vermutlich wird unsere Faszination solange anhalten, bis ein anderes Realissimum – der 11. September 2001 und seine Folgen? – das alte ablöst.
Die Anthologie von François und Schulze verrät uns noch mehr über die gegenwärtige deutsche Gedächtniskultur: Viele historische Bezugspunkte sind nicht mehr national, sondern nur noch regional verortet. Andere haben ein ostentativ ostdeutsches oder westdeutsches Gepräge (Rosa Luxemburg vs. Achtundsechzig, „Wir sind das Volk” vs. Sozialstaat). Als richtungweisende Bindekräfte wiederentdeckt werden Disziplin, Leistungswillen, Religion und Natur just dann, wenn sie vollends desavouiert zu sein scheinen. Auf ähnliche Weise laden sich Weihnachten, Karneval und andere entleerte Traditionsfeste durch das Marketing kaufkräftiger Erinnerungen auf. Der deutsche Wald hat Albrecht Lehmann zufolge seine ideologische Bedeutung verloren und seine ästhetische bewahrt. Kurioserweise geht der Prozess der Individualisierung „offenbar mit einer Abwertung des Symbols ‚Wald‘ und einer Aufwertung der Bäume als Einzelwesen einher”. Und die bedrohte Menschenart der Deutschen macht sich Gedanken um die Nachwelt. Sie will ihre Kulturgüter vor der Gleichgültigkeit der Nachkommen schützen und lagert Duplikate in Kulturbunkern ein.
Zweifel nagen an der eigenen Überlieferungsbereitschaft in einem Land, in dem nicht nur der Anteil der Ein-Personen-Haushalte stetig wächst, sondern auch die meisten Kleinfamilien wie Singles nebeneinander her leben. Nur sehr beschränkt lässt sich das Bedürfnis nach kultischer Erinnerung kunsthistorisch, archivarisch, mahnmalerrichtend und pädagogisch beleben. Es folgt seinen eigenen Zyklen. Die Beschwörung „nationaler Identität” jedenfalls gehört zu den Konservierungsbestrebungen. In ihrer Abstraktheit vernebelt und schablonisiert sie die schwankenden Gestalten des Deutschseins – das nie und nimmer mit sich identisch war. Zuwanderer aus der Türkei und anderen Ländern bringen ihre eigenen Erinnerungsorte mit (deren Zukunft in westlicher, postindustrieller Umgebung jedoch unsicher ist). Wer ihnen gegenüber das deutsche Herkommen lebendig halten möchte, tut das am besten dadurch, dass er regelmäßig die überindividuellen Orte seines Herzens aufsucht und von ihnen spricht.
Grundlos ist die Besorgnis, dass sich in der Ära des entgrenzten Datenverkehrs der Genius loci verflüchtigen werde. So wie im Orbit die Erde als unwahrscheinlicher und verletzlicher Hort des Lebens sichtbar wird, schärfen Aufenthalte im virtuellen Einerlei den Sinn für die neue Entrücktheit der irdischen Stätten und die Unersetzlichkeit der eigenen. Ortlosigkeit verlockt die verblichenen Orte zur Wiederkehr. Niemand macht in Atopia Politik und in Telepolis Geschäfte ohne erinnernde Rückbindung an die nichtvirtuellen Plätze. So austauschbar aber die Programme sind, so wenig sind es die Wege der Erinnerung.
Das nun abgeschlossene Sammelwerk der „deutschen Erinnerungsorte” öffnet den Blick auf das Offensichtliche, das die Deutschen, alles Nationalen überdrüssig, auszublenden gewohnt sind. Die Lektüre gibt ihnen die erlösende Chance, konkret zu werden, anstatt anti- und prodeutsche Phrasen zu dreschen.
FRANK BÖCKELMANN
ETIENNE FRANCOIS und HAGEN SCHULZE (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Verlag C.H. Beck, München 2001. Band II, 725 Seiten mit 77 Abbildungen, 68 Mark. Band III, ca. 740 Seiten mit ca. 75 Abbildungen, 68 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001Die Nationalmannschaft der neuen Normalität
Geschichtsreligion, made in Germany: Zum Abschluß der "Deutschen Erinnerungsorte" / Von Friedrich Wilhelm Graf
Im Jahre 1984 veröffentlichte Pierre Nora den ersten Band einer monumentalen Bestandsaufnahme der französischen Geschichtskultur. Auf viertausend Seiten wurden bis 1992 lieux de mémoire zu "La République", "La Nation" und "Les Frances" vermessen. Die Topographie von Gedächtnisorten der Grande Nation diente einer geschichtspolitischen Absicht. Auf methodisch reflektierten neuen Wegen sollte nationale Identität versinnbildlicht werden. Nora arbeitete mit einem Konzept des "kollektiven Gedächtnisses", das dem sozialen Konstruktivismus von Maurice Halbwachs verpflichtet war. Mit Halbwachs übertrug er individualpsychologische Begriffe des Erinnerns und Vergessens auf überindividuelle Subjekte.
So wie Individuen Ich-Bewußtsein nur durch Repräsentation zentraler Stationen ihrer Lebensgeschichte ausbilden können und im Fluß der Zeit ihr Leben immer wieder umschreiben, so sollen auch Gruppen, Klassen, ethnische Gemeinschaften und Gesellschaften Identität nur durch aktive Erinnerung gewinnen können. Nora verknüpfte Halbwachs' "kollektives Gedächtnis" mit zweifelhaften kulturkritischen Leitannahmen. Die Geschichte der Moderne deutete er als Verfall sinngebender Memorialkultur. Pluralistische Gesellschaften seien vom Schwund kollektiver Bindungen und von kritischer Zerstörung bergender Traditionen bedroht. Die Beschleunigung der Zeit habe den Gedächtnisverlust gefördert. "Nur deshalb spricht man soviel von Gedächtnis, weil es keines mehr gibt", erklärte Nora in seinem Einleitungsessay.
Die lieux de mémoire bezeichnen Kristallisationspunkte für konstruktive Erinnerungsakte, die die vielen einzelnen wieder zur nationalen Gedächtnisgemeinschaft verbinden sollen. Nora hob die zivilreligiösen Anklänge seiner Geschichtspolitik hervor. Seine Gedächtnisorte sind neue Altäre des Vaterlandes. Die lesende Nation versammelt sich um postmoderne Priester der Clio, die Messen der longue durée zelebrieren. Die Kathedralen des alten, klerikalen Frankreich werden mit den Kultstätten der Revolution ins literarische Gesamt-Mausoleum nationaler Selbstbeweihräucherung gestellt.
Läßt sich Noras Nationalhistoriographie auf das vereinte Deutschland übertragen? Die Zeiten scheinen dem Unternehmen günstig. Die Berliner Republik sucht nach demokratischer Geschichtskultur. Die Historisierung des Nationalsozialismus hat die Frage verschärft, wie Deutsche den tiefen Widersprüchen ihrer Geschichte gerecht werden können. Läßt sich die memoria der Opfer in eine Geschichtskultur integrieren, deren Subjekt primär die Erben der Täter sind? Führt die Differenzierung nach Opfergruppen nicht zum späten ideologischen Sieg der Nazis? Läßt sich das Ausmaß der Verbrechen mit den üblichen Mitteln nationalstaatlicher Erinnerungspflege, etwa mit Denkmälern und Gedenktagen, präsent halten?
Ob solcher Streitfragen betonen Etienne François, der langjährige Leiter des französischen Kulturzentrums Marc Bloch in Berlin und Direktor des Frankreich-Zentrums der Berliner Technischen Universität, und Hagen Schulze, der Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London, die Differenzen ihrer "Deutschen Erinnerungsorte" gegenüber dem französischen Vorbild. Zwar knüpft man an Nora an. Hier wie dort werden hundertzwanzig Essays präsentiert. Doch das deutsche Unternehmen ist durch eine deutlich höhere Reflexivität im Umgang mit der nationalen Geschichte geprägt. Im Unterschied zu Nora konnten François und Schulze keinen einheitlichen kulturellen Kanon oder ein deutsches Nationalcredo voraussetzen. "Die Vielfalt deutscher Geschichten und ihr Übermaß an Verwerfungen, Brüchen und Brechungen bringen eine Vielfalt oft disparater, widersprüchlicher Erinnerungsorte mit sich - regionaler, konfessioneller, politischer."
Dies macht die Auswahl schwer. Im ersten, im Frühjahr erschienenen Band nannten die Herausgeber drei Gesichtspunkte der Selektion aus vierhundert intensiv diskutierten Erinnerungsorten. Anders als Nora, der der Antike, dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit große Aufmerksamkeit schenkte, konzentrieren sie sich auf das Deutschland des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, also auf die Katastrophen und Zerstörungen, Brüche und Neuanfänge, in denen Vergangenheitsbilder im Streit der Weltanschauungsparteien, Konfessionen und politischen Sinndeuter reinterpretiert und aktualisiert wurden.
Die gebotene Reflexivität des Erinnerns deutscher Geschichte veranschaulichen sie im Bild vom Spiegellabyrinth. Das Bild seiner selbst, das der erste Spiegel zurückwirft, wird in den anderen Spiegeln vielfältig gebrochen reflektiert. François und Schulze wollen Bilder des nation building und Prozesse des memory building ineinander spiegeln, um die vieldeutigen Begriffe "deutsch" und "Deutschland" zu dekonstruieren. Gegenüber essentialistischen Konzepten der Nation sehen sie mit der neuen kulturalistischen Nationalismusforschung die Nation als eine imaginierte Gemeinschaft, die sich in Ursprungsmythen und heroischen Erzählungen als nicht-fiktionale, immer schon gegebene ethnische Substanz erfindet. Weder lasse sich Deutschland auf ein für allemal definierte Grenzen beziehen noch ein normatives, kulturell fixiertes Wesen des Deutschen identifizieren.
Ist das Straßburger Münster ein deutscher oder ein französischer Gedächtnisort? Wie fühlen Franzosen in Versailles, und was assoziieren Deutsche, wenn sie an den Spiegelsaal und den Alleinschuldartikel des Versailler Vertrages erinnert werden? Gehört Stalingrad sowohl ins deutsche als auch ins russische Kollektivgedächtnis? Die Herausgeber sprechen glücklich von geteilten Erinnerungsorten, auf die sich Deutsche gemeinsam mit anderen europäischen Nationen beziehen. Sie kontrastieren Fremdwahrnehmung und Introspektion, Blicke von außen und Selbstthematisierung. Die Germania des Tacitus, Madame de Staëls "De l'Allemagne" oder das im Kampf gegen die deutsche Exportstärke einst entwickelte Label Made in Germany werden so zur nationalen Erinnerung empfohlen.
Als drittes Auswahlkriterium gilt postmodern, daß auch ganz anderes hätte ausgewählt werden können. So erzeugt sich ein vielfältig schillerndes Kaleidoskop von Erinnerungsfragmenten, die sich, man schüttele, wie man wolle, zu keinem sinnhaften Ganzen zusammenfügen. In bunter, disparater Vielfalt werden immer neue Risse, Brüche und Leerstellen sichtbar. Neben dem Tiefsinn goethefrommer Bildungsbürger stehen unvermittelt die Trivialmythen des deutschen Schlagers oder der Schrebergarten, wo Spießbürger im Gartenzwerg ihrer Schlafmützigkeit ein Denkmal setzen. Alte Nationaldenkmäler werden ums Bauhaus, Wyhl und den Palast der Republik ergänzt.
Die erstaunliche Materialfülle ist nach achtzehn Leitbegriffen gegliedert. Im ersten Band wurden Reich, Dichter und Denker, Volk, Erbfeind, Zerrissenheit und Schuld behandelt. Nun folgen Revolution, Freiheit, Disziplin, Leistung, Recht und die Moderne (Band 2) sowie Bildung, Gemüt, Glaube und Bekenntnis, Heimat, Romantik und Deutschland (Band 3). Den Begriffen ordnen die Herausgeber teils materielle, teils ideelle Erinnerungsorte zu, zur Revolution etwa Reformation, Napoleon, Paulskirche, das Brandenburger Tor, Bismarck, Rosa Luxemburg und Achtundsechzig.
Fröhliche Dezision ist unverkennbar. Lassen sich die Stasi sinnvoll unter "Disziplin" und die Bundesliga unter "Leistung" verhandeln? Warum soll man der Bundesliga gedenken, nicht aber der Nationalmannschaft? Weshalb fehlt die "deutsche Revolution" von 1933, die wohl folgenreichste Revolution der deutschen Geschichte? Die Herausgeber vermeiden Stellungnahmen zur alten, umstrittenen Frage, ob es eine spezifisch deutsche Idee der Freiheit gibt, geprägt durch lutherisches Gemeinwohlpathos, Individualismuskritik und starken Korporatismus. Waren "die Ideen von 1914" bloß blanke Ideologie, oder wurde damals hochmoralische deutsche Sozialsemantik für den "Kulturkrieg" instrumentalisiert?
Um einer pluralistisch offenen, europäischen Gedächtnisgeschichte willen ist der Kreis der Autoren bunt gemischt. Neben Kulturwissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen sind Journalisten, Schriftsteller und Publizisten beteiligt. Sie stammen aus verschiedenen Generationen mit je eigener Erfahrungsökonomie. Jeder fünfte Autor ist ein Nichtdeutscher. Selbst zur Arbeit am nationalen Gedächtnis stellen die Deutschen nun Gastarbeiter ein. Sie sollen uns Lernfähigkeit in Selbstkritik bescheinigen. Jedenfalls gehen die Herausgeber davon aus, daß die Bundesrepublik seit 1989/90 zu einem normalen Nationalstaat geworden sei. An Gedächtnisorten soll diese neue Normalität inszeniert werden.
Der Begriff des Erinnerungsortes ist komplex und schillernd. Die Herausgeber lesen ihn als Metapher, die sich an der antiken römischen Mnemotechnik, der räumlichen Ordnung von Gedächtnisinhalten nach loci memoriae orientiert. Erinnerungsorte sind teils materieller, teils immaterieller Natur. Neben mythischen Helden stehen die großen Männer, neben Denkmälern auch Institutionen, Begriffe, Bücher und Kunstwerke, die klassischen Rang gewonnen haben. Gedächtnisorte lassen sich als nationale Ikonen oder mit Aby Warburg als Pathosformeln verstehen. Materielle Gegenständlichkeit tritt hinter symbolische Funktion zurück.
François und Schulze sprechen vom Topos. Er sei nicht definitiv fixiert, bilde keine ein für allemal umgrenzte oder abgeschlossene Entität, sondern einen Ort in Erinnerungsräumen, der durch Koordinaten sozialer, politischer oder kultureller Erfahrungen bestimmt werde. So wie der Topos Erinnerung mitkonstituiert, so werden erinnerte Orte von erinnernden Subjekten immer neu gebildet. Die entscheidende Frage umgehen die Herausgeber: Sind ihre Gedächtnisorte im Emotionshaushalt der Deutschen tatsächlich präsent? Oder beschwören sie Topoi, zu denen die Deutschen um eines neuen nation building willen pilgern sollten?
Gedenken und Erinnern sind genuin religiöse Begriffe. Religionen bilden Erinnerungsgemeinschaften. Durch heilige Texte und Riten symbolisieren sie bergende Ordnungen von Raum und Zeit, dank derer die Individuen ihre kontingenten, krisenhaften Lebensgeschichten als sinnhaft deuten können. Gilt dies auch für politische Memorialkulturen? Anders als Nora ignorieren François und Schulze die zivilreligiösen Grundierungen der mémoire collective. Zwar finden sich religionskulturelle Gedächtnisorte wie das evangelische Pfarrhaus, Bach, Oberammergau, Moses Mendelssohn, Marx/Engels und die Jugendweihe. Doch wo bleiben Rankes "tiefste Spaltung der Nation" und die Kulturkämpfe zwischen Katholiken und Protestanten? Kann man der Kulturnation ohne Lutherbibel oder Kleinen Katechismus gedenken?
Die Herausgeber sehen sich als kritische Aufklärer, die uns von der depressiv stimmenden Übermacht einer undurchschauten Geschichte befreien wollen. Analog zum anamnetischen Prozeß soll für die Nation gelten: Wo Es war, soll Ich werden. Entscheidende Fragen bleiben jedoch offen: Darf dazu auch vergessen werden? Darf ich Belastendes abstoßen? Wie verhalte ich mich zu unerfüllten Hoffnungen vergangener Generationen?
Das bißchen neuhistoristische Geschichtsreligion, das postmoderne Memorialkulturexperten anpreisen, kann trotz faszinierender Materialfülle keinen Sinnhunger stillen. Wer der europäisch integrierten Berliner Republik Selbstverständigung an Gedächtnisorten empfiehlt, muß die erhoffte neue Identität auch normativ, in Zielen der Selbstdeutung, bestimmen können. Sonst wird am Gedenkort "Schuld" nur hohle Bußrhetorik gepredigt. In ernsteren Zeiten wird sich der demokratische Rechtsstaat "Sinn" nicht in wunderschön gemachten Büchern über die "Schädelstätten des Geistes" (Hegel) spenden lassen können. Geschichtsreligion light ist nur eine karge Kost, die nicht sättigt, trotz faszinierender neuer Verpackungen, die kulturwissenschaftliche Theorie-Designer Gedächtnisgeschichte nennen.
Etienne François, Hagen Schulze (Hrsg.): "Deutsche Erinnerungsorte". Bde. 2 u. 3. Verlag C.H. Beck, München 2001. 741 u. 784 S., 77 u. 86 Abb., geb., je Band 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschichtsreligion, made in Germany: Zum Abschluß der "Deutschen Erinnerungsorte" / Von Friedrich Wilhelm Graf
Im Jahre 1984 veröffentlichte Pierre Nora den ersten Band einer monumentalen Bestandsaufnahme der französischen Geschichtskultur. Auf viertausend Seiten wurden bis 1992 lieux de mémoire zu "La République", "La Nation" und "Les Frances" vermessen. Die Topographie von Gedächtnisorten der Grande Nation diente einer geschichtspolitischen Absicht. Auf methodisch reflektierten neuen Wegen sollte nationale Identität versinnbildlicht werden. Nora arbeitete mit einem Konzept des "kollektiven Gedächtnisses", das dem sozialen Konstruktivismus von Maurice Halbwachs verpflichtet war. Mit Halbwachs übertrug er individualpsychologische Begriffe des Erinnerns und Vergessens auf überindividuelle Subjekte.
So wie Individuen Ich-Bewußtsein nur durch Repräsentation zentraler Stationen ihrer Lebensgeschichte ausbilden können und im Fluß der Zeit ihr Leben immer wieder umschreiben, so sollen auch Gruppen, Klassen, ethnische Gemeinschaften und Gesellschaften Identität nur durch aktive Erinnerung gewinnen können. Nora verknüpfte Halbwachs' "kollektives Gedächtnis" mit zweifelhaften kulturkritischen Leitannahmen. Die Geschichte der Moderne deutete er als Verfall sinngebender Memorialkultur. Pluralistische Gesellschaften seien vom Schwund kollektiver Bindungen und von kritischer Zerstörung bergender Traditionen bedroht. Die Beschleunigung der Zeit habe den Gedächtnisverlust gefördert. "Nur deshalb spricht man soviel von Gedächtnis, weil es keines mehr gibt", erklärte Nora in seinem Einleitungsessay.
Die lieux de mémoire bezeichnen Kristallisationspunkte für konstruktive Erinnerungsakte, die die vielen einzelnen wieder zur nationalen Gedächtnisgemeinschaft verbinden sollen. Nora hob die zivilreligiösen Anklänge seiner Geschichtspolitik hervor. Seine Gedächtnisorte sind neue Altäre des Vaterlandes. Die lesende Nation versammelt sich um postmoderne Priester der Clio, die Messen der longue durée zelebrieren. Die Kathedralen des alten, klerikalen Frankreich werden mit den Kultstätten der Revolution ins literarische Gesamt-Mausoleum nationaler Selbstbeweihräucherung gestellt.
Läßt sich Noras Nationalhistoriographie auf das vereinte Deutschland übertragen? Die Zeiten scheinen dem Unternehmen günstig. Die Berliner Republik sucht nach demokratischer Geschichtskultur. Die Historisierung des Nationalsozialismus hat die Frage verschärft, wie Deutsche den tiefen Widersprüchen ihrer Geschichte gerecht werden können. Läßt sich die memoria der Opfer in eine Geschichtskultur integrieren, deren Subjekt primär die Erben der Täter sind? Führt die Differenzierung nach Opfergruppen nicht zum späten ideologischen Sieg der Nazis? Läßt sich das Ausmaß der Verbrechen mit den üblichen Mitteln nationalstaatlicher Erinnerungspflege, etwa mit Denkmälern und Gedenktagen, präsent halten?
Ob solcher Streitfragen betonen Etienne François, der langjährige Leiter des französischen Kulturzentrums Marc Bloch in Berlin und Direktor des Frankreich-Zentrums der Berliner Technischen Universität, und Hagen Schulze, der Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London, die Differenzen ihrer "Deutschen Erinnerungsorte" gegenüber dem französischen Vorbild. Zwar knüpft man an Nora an. Hier wie dort werden hundertzwanzig Essays präsentiert. Doch das deutsche Unternehmen ist durch eine deutlich höhere Reflexivität im Umgang mit der nationalen Geschichte geprägt. Im Unterschied zu Nora konnten François und Schulze keinen einheitlichen kulturellen Kanon oder ein deutsches Nationalcredo voraussetzen. "Die Vielfalt deutscher Geschichten und ihr Übermaß an Verwerfungen, Brüchen und Brechungen bringen eine Vielfalt oft disparater, widersprüchlicher Erinnerungsorte mit sich - regionaler, konfessioneller, politischer."
Dies macht die Auswahl schwer. Im ersten, im Frühjahr erschienenen Band nannten die Herausgeber drei Gesichtspunkte der Selektion aus vierhundert intensiv diskutierten Erinnerungsorten. Anders als Nora, der der Antike, dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit große Aufmerksamkeit schenkte, konzentrieren sie sich auf das Deutschland des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, also auf die Katastrophen und Zerstörungen, Brüche und Neuanfänge, in denen Vergangenheitsbilder im Streit der Weltanschauungsparteien, Konfessionen und politischen Sinndeuter reinterpretiert und aktualisiert wurden.
Die gebotene Reflexivität des Erinnerns deutscher Geschichte veranschaulichen sie im Bild vom Spiegellabyrinth. Das Bild seiner selbst, das der erste Spiegel zurückwirft, wird in den anderen Spiegeln vielfältig gebrochen reflektiert. François und Schulze wollen Bilder des nation building und Prozesse des memory building ineinander spiegeln, um die vieldeutigen Begriffe "deutsch" und "Deutschland" zu dekonstruieren. Gegenüber essentialistischen Konzepten der Nation sehen sie mit der neuen kulturalistischen Nationalismusforschung die Nation als eine imaginierte Gemeinschaft, die sich in Ursprungsmythen und heroischen Erzählungen als nicht-fiktionale, immer schon gegebene ethnische Substanz erfindet. Weder lasse sich Deutschland auf ein für allemal definierte Grenzen beziehen noch ein normatives, kulturell fixiertes Wesen des Deutschen identifizieren.
Ist das Straßburger Münster ein deutscher oder ein französischer Gedächtnisort? Wie fühlen Franzosen in Versailles, und was assoziieren Deutsche, wenn sie an den Spiegelsaal und den Alleinschuldartikel des Versailler Vertrages erinnert werden? Gehört Stalingrad sowohl ins deutsche als auch ins russische Kollektivgedächtnis? Die Herausgeber sprechen glücklich von geteilten Erinnerungsorten, auf die sich Deutsche gemeinsam mit anderen europäischen Nationen beziehen. Sie kontrastieren Fremdwahrnehmung und Introspektion, Blicke von außen und Selbstthematisierung. Die Germania des Tacitus, Madame de Staëls "De l'Allemagne" oder das im Kampf gegen die deutsche Exportstärke einst entwickelte Label Made in Germany werden so zur nationalen Erinnerung empfohlen.
Als drittes Auswahlkriterium gilt postmodern, daß auch ganz anderes hätte ausgewählt werden können. So erzeugt sich ein vielfältig schillerndes Kaleidoskop von Erinnerungsfragmenten, die sich, man schüttele, wie man wolle, zu keinem sinnhaften Ganzen zusammenfügen. In bunter, disparater Vielfalt werden immer neue Risse, Brüche und Leerstellen sichtbar. Neben dem Tiefsinn goethefrommer Bildungsbürger stehen unvermittelt die Trivialmythen des deutschen Schlagers oder der Schrebergarten, wo Spießbürger im Gartenzwerg ihrer Schlafmützigkeit ein Denkmal setzen. Alte Nationaldenkmäler werden ums Bauhaus, Wyhl und den Palast der Republik ergänzt.
Die erstaunliche Materialfülle ist nach achtzehn Leitbegriffen gegliedert. Im ersten Band wurden Reich, Dichter und Denker, Volk, Erbfeind, Zerrissenheit und Schuld behandelt. Nun folgen Revolution, Freiheit, Disziplin, Leistung, Recht und die Moderne (Band 2) sowie Bildung, Gemüt, Glaube und Bekenntnis, Heimat, Romantik und Deutschland (Band 3). Den Begriffen ordnen die Herausgeber teils materielle, teils ideelle Erinnerungsorte zu, zur Revolution etwa Reformation, Napoleon, Paulskirche, das Brandenburger Tor, Bismarck, Rosa Luxemburg und Achtundsechzig.
Fröhliche Dezision ist unverkennbar. Lassen sich die Stasi sinnvoll unter "Disziplin" und die Bundesliga unter "Leistung" verhandeln? Warum soll man der Bundesliga gedenken, nicht aber der Nationalmannschaft? Weshalb fehlt die "deutsche Revolution" von 1933, die wohl folgenreichste Revolution der deutschen Geschichte? Die Herausgeber vermeiden Stellungnahmen zur alten, umstrittenen Frage, ob es eine spezifisch deutsche Idee der Freiheit gibt, geprägt durch lutherisches Gemeinwohlpathos, Individualismuskritik und starken Korporatismus. Waren "die Ideen von 1914" bloß blanke Ideologie, oder wurde damals hochmoralische deutsche Sozialsemantik für den "Kulturkrieg" instrumentalisiert?
Um einer pluralistisch offenen, europäischen Gedächtnisgeschichte willen ist der Kreis der Autoren bunt gemischt. Neben Kulturwissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen sind Journalisten, Schriftsteller und Publizisten beteiligt. Sie stammen aus verschiedenen Generationen mit je eigener Erfahrungsökonomie. Jeder fünfte Autor ist ein Nichtdeutscher. Selbst zur Arbeit am nationalen Gedächtnis stellen die Deutschen nun Gastarbeiter ein. Sie sollen uns Lernfähigkeit in Selbstkritik bescheinigen. Jedenfalls gehen die Herausgeber davon aus, daß die Bundesrepublik seit 1989/90 zu einem normalen Nationalstaat geworden sei. An Gedächtnisorten soll diese neue Normalität inszeniert werden.
Der Begriff des Erinnerungsortes ist komplex und schillernd. Die Herausgeber lesen ihn als Metapher, die sich an der antiken römischen Mnemotechnik, der räumlichen Ordnung von Gedächtnisinhalten nach loci memoriae orientiert. Erinnerungsorte sind teils materieller, teils immaterieller Natur. Neben mythischen Helden stehen die großen Männer, neben Denkmälern auch Institutionen, Begriffe, Bücher und Kunstwerke, die klassischen Rang gewonnen haben. Gedächtnisorte lassen sich als nationale Ikonen oder mit Aby Warburg als Pathosformeln verstehen. Materielle Gegenständlichkeit tritt hinter symbolische Funktion zurück.
François und Schulze sprechen vom Topos. Er sei nicht definitiv fixiert, bilde keine ein für allemal umgrenzte oder abgeschlossene Entität, sondern einen Ort in Erinnerungsräumen, der durch Koordinaten sozialer, politischer oder kultureller Erfahrungen bestimmt werde. So wie der Topos Erinnerung mitkonstituiert, so werden erinnerte Orte von erinnernden Subjekten immer neu gebildet. Die entscheidende Frage umgehen die Herausgeber: Sind ihre Gedächtnisorte im Emotionshaushalt der Deutschen tatsächlich präsent? Oder beschwören sie Topoi, zu denen die Deutschen um eines neuen nation building willen pilgern sollten?
Gedenken und Erinnern sind genuin religiöse Begriffe. Religionen bilden Erinnerungsgemeinschaften. Durch heilige Texte und Riten symbolisieren sie bergende Ordnungen von Raum und Zeit, dank derer die Individuen ihre kontingenten, krisenhaften Lebensgeschichten als sinnhaft deuten können. Gilt dies auch für politische Memorialkulturen? Anders als Nora ignorieren François und Schulze die zivilreligiösen Grundierungen der mémoire collective. Zwar finden sich religionskulturelle Gedächtnisorte wie das evangelische Pfarrhaus, Bach, Oberammergau, Moses Mendelssohn, Marx/Engels und die Jugendweihe. Doch wo bleiben Rankes "tiefste Spaltung der Nation" und die Kulturkämpfe zwischen Katholiken und Protestanten? Kann man der Kulturnation ohne Lutherbibel oder Kleinen Katechismus gedenken?
Die Herausgeber sehen sich als kritische Aufklärer, die uns von der depressiv stimmenden Übermacht einer undurchschauten Geschichte befreien wollen. Analog zum anamnetischen Prozeß soll für die Nation gelten: Wo Es war, soll Ich werden. Entscheidende Fragen bleiben jedoch offen: Darf dazu auch vergessen werden? Darf ich Belastendes abstoßen? Wie verhalte ich mich zu unerfüllten Hoffnungen vergangener Generationen?
Das bißchen neuhistoristische Geschichtsreligion, das postmoderne Memorialkulturexperten anpreisen, kann trotz faszinierender Materialfülle keinen Sinnhunger stillen. Wer der europäisch integrierten Berliner Republik Selbstverständigung an Gedächtnisorten empfiehlt, muß die erhoffte neue Identität auch normativ, in Zielen der Selbstdeutung, bestimmen können. Sonst wird am Gedenkort "Schuld" nur hohle Bußrhetorik gepredigt. In ernsteren Zeiten wird sich der demokratische Rechtsstaat "Sinn" nicht in wunderschön gemachten Büchern über die "Schädelstätten des Geistes" (Hegel) spenden lassen können. Geschichtsreligion light ist nur eine karge Kost, die nicht sättigt, trotz faszinierender neuer Verpackungen, die kulturwissenschaftliche Theorie-Designer Gedächtnisgeschichte nennen.
Etienne François, Hagen Schulze (Hrsg.): "Deutsche Erinnerungsorte". Bde. 2 u. 3. Verlag C.H. Beck, München 2001. 741 u. 784 S., 77 u. 86 Abb., geb., je Band 68,- DM.
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