In über 120 Beiträgen bieten die "Deutschen Erinnerungsorte" ein einzigartiges, ebenso gelehrtes wie spannend zu lesendes Panorama deutscher Geschichte und zugleich ein herausragendes Beispiel lebendiger Erinnerungskultur.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001Die Nationalmannschaft der neuen Normalität
Geschichtsreligion, made in Germany: Zum Abschluß der "Deutschen Erinnerungsorte" / Von Friedrich Wilhelm Graf
Im Jahre 1984 veröffentlichte Pierre Nora den ersten Band einer monumentalen Bestandsaufnahme der französischen Geschichtskultur. Auf viertausend Seiten wurden bis 1992 lieux de mémoire zu "La République", "La Nation" und "Les Frances" vermessen. Die Topographie von Gedächtnisorten der Grande Nation diente einer geschichtspolitischen Absicht. Auf methodisch reflektierten neuen Wegen sollte nationale Identität versinnbildlicht werden. Nora arbeitete mit einem Konzept des "kollektiven Gedächtnisses", das dem sozialen Konstruktivismus von Maurice Halbwachs verpflichtet war. Mit Halbwachs übertrug er individualpsychologische Begriffe des Erinnerns und Vergessens auf überindividuelle Subjekte.
So wie Individuen Ich-Bewußtsein nur durch Repräsentation zentraler Stationen ihrer Lebensgeschichte ausbilden können und im Fluß der Zeit ihr Leben immer wieder umschreiben, so sollen auch Gruppen, Klassen, ethnische Gemeinschaften und Gesellschaften Identität nur durch aktive Erinnerung gewinnen können. Nora verknüpfte Halbwachs' "kollektives Gedächtnis" mit zweifelhaften kulturkritischen Leitannahmen. Die Geschichte der Moderne deutete er als Verfall sinngebender Memorialkultur. Pluralistische Gesellschaften seien vom Schwund kollektiver Bindungen und von kritischer Zerstörung bergender Traditionen bedroht. Die Beschleunigung der Zeit habe den Gedächtnisverlust gefördert. "Nur deshalb spricht man soviel von Gedächtnis, weil es keines mehr gibt", erklärte Nora in seinem Einleitungsessay.
Die lieux de mémoire bezeichnen Kristallisationspunkte für konstruktive Erinnerungsakte, die die vielen einzelnen wieder zur nationalen Gedächtnisgemeinschaft verbinden sollen. Nora hob die zivilreligiösen Anklänge seiner Geschichtspolitik hervor. Seine Gedächtnisorte sind neue Altäre des Vaterlandes. Die lesende Nation versammelt sich um postmoderne Priester der Clio, die Messen der longue durée zelebrieren. Die Kathedralen des alten, klerikalen Frankreich werden mit den Kultstätten der Revolution ins literarische Gesamt-Mausoleum nationaler Selbstbeweihräucherung gestellt.
Läßt sich Noras Nationalhistoriographie auf das vereinte Deutschland übertragen? Die Zeiten scheinen dem Unternehmen günstig. Die Berliner Republik sucht nach demokratischer Geschichtskultur. Die Historisierung des Nationalsozialismus hat die Frage verschärft, wie Deutsche den tiefen Widersprüchen ihrer Geschichte gerecht werden können. Läßt sich die memoria der Opfer in eine Geschichtskultur integrieren, deren Subjekt primär die Erben der Täter sind? Führt die Differenzierung nach Opfergruppen nicht zum späten ideologischen Sieg der Nazis? Läßt sich das Ausmaß der Verbrechen mit den üblichen Mitteln nationalstaatlicher Erinnerungspflege, etwa mit Denkmälern und Gedenktagen, präsent halten?
Ob solcher Streitfragen betonen Etienne François, der langjährige Leiter des französischen Kulturzentrums Marc Bloch in Berlin und Direktor des Frankreich-Zentrums der Berliner Technischen Universität, und Hagen Schulze, der Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London, die Differenzen ihrer "Deutschen Erinnerungsorte" gegenüber dem französischen Vorbild. Zwar knüpft man an Nora an. Hier wie dort werden hundertzwanzig Essays präsentiert. Doch das deutsche Unternehmen ist durch eine deutlich höhere Reflexivität im Umgang mit der nationalen Geschichte geprägt. Im Unterschied zu Nora konnten François und Schulze keinen einheitlichen kulturellen Kanon oder ein deutsches Nationalcredo voraussetzen. "Die Vielfalt deutscher Geschichten und ihr Übermaß an Verwerfungen, Brüchen und Brechungen bringen eine Vielfalt oft disparater, widersprüchlicher Erinnerungsorte mit sich - regionaler, konfessioneller, politischer."
Dies macht die Auswahl schwer. Im ersten, im Frühjahr erschienenen Band nannten die Herausgeber drei Gesichtspunkte der Selektion aus vierhundert intensiv diskutierten Erinnerungsorten. Anders als Nora, der der Antike, dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit große Aufmerksamkeit schenkte, konzentrieren sie sich auf das Deutschland des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, also auf die Katastrophen und Zerstörungen, Brüche und Neuanfänge, in denen Vergangenheitsbilder im Streit der Weltanschauungsparteien, Konfessionen und politischen Sinndeuter reinterpretiert und aktualisiert wurden.
Die gebotene Reflexivität des Erinnerns deutscher Geschichte veranschaulichen sie im Bild vom Spiegellabyrinth. Das Bild seiner selbst, das der erste Spiegel zurückwirft, wird in den anderen Spiegeln vielfältig gebrochen reflektiert. François und Schulze wollen Bilder des nation building und Prozesse des memory building ineinander spiegeln, um die vieldeutigen Begriffe "deutsch" und "Deutschland" zu dekonstruieren. Gegenüber essentialistischen Konzepten der Nation sehen sie mit der neuen kulturalistischen Nationalismusforschung die Nation als eine imaginierte Gemeinschaft, die sich in Ursprungsmythen und heroischen Erzählungen als nicht-fiktionale, immer schon gegebene ethnische Substanz erfindet. Weder lasse sich Deutschland auf ein für allemal definierte Grenzen beziehen noch ein normatives, kulturell fixiertes Wesen des Deutschen identifizieren.
Ist das Straßburger Münster ein deutscher oder ein französischer Gedächtnisort? Wie fühlen Franzosen in Versailles, und was assoziieren Deutsche, wenn sie an den Spiegelsaal und den Alleinschuldartikel des Versailler Vertrages erinnert werden? Gehört Stalingrad sowohl ins deutsche als auch ins russische Kollektivgedächtnis? Die Herausgeber sprechen glücklich von geteilten Erinnerungsorten, auf die sich Deutsche gemeinsam mit anderen europäischen Nationen beziehen. Sie kontrastieren Fremdwahrnehmung und Introspektion, Blicke von außen und Selbstthematisierung. Die Germania des Tacitus, Madame de Staëls "De l'Allemagne" oder das im Kampf gegen die deutsche Exportstärke einst entwickelte Label Made in Germany werden so zur nationalen Erinnerung empfohlen.
Als drittes Auswahlkriterium gilt postmodern, daß auch ganz anderes hätte ausgewählt werden können. So erzeugt sich ein vielfältig schillerndes Kaleidoskop von Erinnerungsfragmenten, die sich, man schüttele, wie man wolle, zu keinem sinnhaften Ganzen zusammenfügen. In bunter, disparater Vielfalt werden immer neue Risse, Brüche und Leerstellen sichtbar. Neben dem Tiefsinn goethefrommer Bildungsbürger stehen unvermittelt die Trivialmythen des deutschen Schlagers oder der Schrebergarten, wo Spießbürger im Gartenzwerg ihrer Schlafmützigkeit ein Denkmal setzen. Alte Nationaldenkmäler werden ums Bauhaus, Wyhl und den Palast der Republik ergänzt.
Die erstaunliche Materialfülle ist nach achtzehn Leitbegriffen gegliedert. Im ersten Band wurden Reich, Dichter und Denker, Volk, Erbfeind, Zerrissenheit und Schuld behandelt. Nun folgen Revolution, Freiheit, Disziplin, Leistung, Recht und die Moderne (Band 2) sowie Bildung, Gemüt, Glaube und Bekenntnis, Heimat, Romantik und Deutschland (Band 3). Den Begriffen ordnen die Herausgeber teils materielle, teils ideelle Erinnerungsorte zu, zur Revolution etwa Reformation, Napoleon, Paulskirche, das Brandenburger Tor, Bismarck, Rosa Luxemburg und Achtundsechzig.
Fröhliche Dezision ist unverkennbar. Lassen sich die Stasi sinnvoll unter "Disziplin" und die Bundesliga unter "Leistung" verhandeln? Warum soll man der Bundesliga gedenken, nicht aber der Nationalmannschaft? Weshalb fehlt die "deutsche Revolution" von 1933, die wohl folgenreichste Revolution der deutschen Geschichte? Die Herausgeber vermeiden Stellungnahmen zur alten, umstrittenen Frage, ob es eine spezifisch deutsche Idee der Freiheit gibt, geprägt durch lutherisches Gemeinwohlpathos, Individualismuskritik und starken Korporatismus. Waren "die Ideen von 1914" bloß blanke Ideologie, oder wurde damals hochmoralische deutsche Sozialsemantik für den "Kulturkrieg" instrumentalisiert?
Um einer pluralistisch offenen, europäischen Gedächtnisgeschichte willen ist der Kreis der Autoren bunt gemischt. Neben Kulturwissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen sind Journalisten, Schriftsteller und Publizisten beteiligt. Sie stammen aus verschiedenen Generationen mit je eigener Erfahrungsökonomie. Jeder fünfte Autor ist ein Nichtdeutscher. Selbst zur Arbeit am nationalen Gedächtnis stellen die Deutschen nun Gastarbeiter ein. Sie sollen uns Lernfähigkeit in Selbstkritik bescheinigen. Jedenfalls gehen die Herausgeber davon aus, daß die Bundesrepublik seit 1989/90 zu einem normalen Nationalstaat geworden sei. An Gedächtnisorten soll diese neue Normalität inszeniert werden.
Der Begriff des Erinnerungsortes ist komplex und schillernd. Die Herausgeber lesen ihn als Metapher, die sich an der antiken römischen Mnemotechnik, der räumlichen Ordnung von Gedächtnisinhalten nach loci memoriae orientiert. Erinnerungsorte sind teils materieller, teils immaterieller Natur. Neben mythischen Helden stehen die großen Männer, neben Denkmälern auch Institutionen, Begriffe, Bücher und Kunstwerke, die klassischen Rang gewonnen haben. Gedächtnisorte lassen sich als nationale Ikonen oder mit Aby Warburg als Pathosformeln verstehen. Materielle Gegenständlichkeit tritt hinter symbolische Funktion zurück.
François und Schulze sprechen vom Topos. Er sei nicht definitiv fixiert, bilde keine ein für allemal umgrenzte oder abgeschlossene Entität, sondern einen Ort in Erinnerungsräumen, der durch Koordinaten sozialer, politischer oder kultureller Erfahrungen bestimmt werde. So wie der Topos Erinnerung mitkonstituiert, so werden erinnerte Orte von erinnernden Subjekten immer neu gebildet. Die entscheidende Frage umgehen die Herausgeber: Sind ihre Gedächtnisorte im Emotionshaushalt der Deutschen tatsächlich präsent? Oder beschwören sie Topoi, zu denen die Deutschen um eines neuen nation building willen pilgern sollten?
Gedenken und Erinnern sind genuin religiöse Begriffe. Religionen bilden Erinnerungsgemeinschaften. Durch heilige Texte und Riten symbolisieren sie bergende Ordnungen von Raum und Zeit, dank derer die Individuen ihre kontingenten, krisenhaften Lebensgeschichten als sinnhaft deuten können. Gilt dies auch für politische Memorialkulturen? Anders als Nora ignorieren François und Schulze die zivilreligiösen Grundierungen der mémoire collective. Zwar finden sich religionskulturelle Gedächtnisorte wie das evangelische Pfarrhaus, Bach, Oberammergau, Moses Mendelssohn, Marx/Engels und die Jugendweihe. Doch wo bleiben Rankes "tiefste Spaltung der Nation" und die Kulturkämpfe zwischen Katholiken und Protestanten? Kann man der Kulturnation ohne Lutherbibel oder Kleinen Katechismus gedenken?
Die Herausgeber sehen sich als kritische Aufklärer, die uns von der depressiv stimmenden Übermacht einer undurchschauten Geschichte befreien wollen. Analog zum anamnetischen Prozeß soll für die Nation gelten: Wo Es war, soll Ich werden. Entscheidende Fragen bleiben jedoch offen: Darf dazu auch vergessen werden? Darf ich Belastendes abstoßen? Wie verhalte ich mich zu unerfüllten Hoffnungen vergangener Generationen?
Das bißchen neuhistoristische Geschichtsreligion, das postmoderne Memorialkulturexperten anpreisen, kann trotz faszinierender Materialfülle keinen Sinnhunger stillen. Wer der europäisch integrierten Berliner Republik Selbstverständigung an Gedächtnisorten empfiehlt, muß die erhoffte neue Identität auch normativ, in Zielen der Selbstdeutung, bestimmen können. Sonst wird am Gedenkort "Schuld" nur hohle Bußrhetorik gepredigt. In ernsteren Zeiten wird sich der demokratische Rechtsstaat "Sinn" nicht in wunderschön gemachten Büchern über die "Schädelstätten des Geistes" (Hegel) spenden lassen können. Geschichtsreligion light ist nur eine karge Kost, die nicht sättigt, trotz faszinierender neuer Verpackungen, die kulturwissenschaftliche Theorie-Designer Gedächtnisgeschichte nennen.
Etienne François, Hagen Schulze (Hrsg.): "Deutsche Erinnerungsorte". Bde. 2 u. 3. Verlag C.H. Beck, München 2001. 741 u. 784 S., 77 u. 86 Abb., geb., je Band 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschichtsreligion, made in Germany: Zum Abschluß der "Deutschen Erinnerungsorte" / Von Friedrich Wilhelm Graf
Im Jahre 1984 veröffentlichte Pierre Nora den ersten Band einer monumentalen Bestandsaufnahme der französischen Geschichtskultur. Auf viertausend Seiten wurden bis 1992 lieux de mémoire zu "La République", "La Nation" und "Les Frances" vermessen. Die Topographie von Gedächtnisorten der Grande Nation diente einer geschichtspolitischen Absicht. Auf methodisch reflektierten neuen Wegen sollte nationale Identität versinnbildlicht werden. Nora arbeitete mit einem Konzept des "kollektiven Gedächtnisses", das dem sozialen Konstruktivismus von Maurice Halbwachs verpflichtet war. Mit Halbwachs übertrug er individualpsychologische Begriffe des Erinnerns und Vergessens auf überindividuelle Subjekte.
So wie Individuen Ich-Bewußtsein nur durch Repräsentation zentraler Stationen ihrer Lebensgeschichte ausbilden können und im Fluß der Zeit ihr Leben immer wieder umschreiben, so sollen auch Gruppen, Klassen, ethnische Gemeinschaften und Gesellschaften Identität nur durch aktive Erinnerung gewinnen können. Nora verknüpfte Halbwachs' "kollektives Gedächtnis" mit zweifelhaften kulturkritischen Leitannahmen. Die Geschichte der Moderne deutete er als Verfall sinngebender Memorialkultur. Pluralistische Gesellschaften seien vom Schwund kollektiver Bindungen und von kritischer Zerstörung bergender Traditionen bedroht. Die Beschleunigung der Zeit habe den Gedächtnisverlust gefördert. "Nur deshalb spricht man soviel von Gedächtnis, weil es keines mehr gibt", erklärte Nora in seinem Einleitungsessay.
Die lieux de mémoire bezeichnen Kristallisationspunkte für konstruktive Erinnerungsakte, die die vielen einzelnen wieder zur nationalen Gedächtnisgemeinschaft verbinden sollen. Nora hob die zivilreligiösen Anklänge seiner Geschichtspolitik hervor. Seine Gedächtnisorte sind neue Altäre des Vaterlandes. Die lesende Nation versammelt sich um postmoderne Priester der Clio, die Messen der longue durée zelebrieren. Die Kathedralen des alten, klerikalen Frankreich werden mit den Kultstätten der Revolution ins literarische Gesamt-Mausoleum nationaler Selbstbeweihräucherung gestellt.
Läßt sich Noras Nationalhistoriographie auf das vereinte Deutschland übertragen? Die Zeiten scheinen dem Unternehmen günstig. Die Berliner Republik sucht nach demokratischer Geschichtskultur. Die Historisierung des Nationalsozialismus hat die Frage verschärft, wie Deutsche den tiefen Widersprüchen ihrer Geschichte gerecht werden können. Läßt sich die memoria der Opfer in eine Geschichtskultur integrieren, deren Subjekt primär die Erben der Täter sind? Führt die Differenzierung nach Opfergruppen nicht zum späten ideologischen Sieg der Nazis? Läßt sich das Ausmaß der Verbrechen mit den üblichen Mitteln nationalstaatlicher Erinnerungspflege, etwa mit Denkmälern und Gedenktagen, präsent halten?
Ob solcher Streitfragen betonen Etienne François, der langjährige Leiter des französischen Kulturzentrums Marc Bloch in Berlin und Direktor des Frankreich-Zentrums der Berliner Technischen Universität, und Hagen Schulze, der Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London, die Differenzen ihrer "Deutschen Erinnerungsorte" gegenüber dem französischen Vorbild. Zwar knüpft man an Nora an. Hier wie dort werden hundertzwanzig Essays präsentiert. Doch das deutsche Unternehmen ist durch eine deutlich höhere Reflexivität im Umgang mit der nationalen Geschichte geprägt. Im Unterschied zu Nora konnten François und Schulze keinen einheitlichen kulturellen Kanon oder ein deutsches Nationalcredo voraussetzen. "Die Vielfalt deutscher Geschichten und ihr Übermaß an Verwerfungen, Brüchen und Brechungen bringen eine Vielfalt oft disparater, widersprüchlicher Erinnerungsorte mit sich - regionaler, konfessioneller, politischer."
Dies macht die Auswahl schwer. Im ersten, im Frühjahr erschienenen Band nannten die Herausgeber drei Gesichtspunkte der Selektion aus vierhundert intensiv diskutierten Erinnerungsorten. Anders als Nora, der der Antike, dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit große Aufmerksamkeit schenkte, konzentrieren sie sich auf das Deutschland des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, also auf die Katastrophen und Zerstörungen, Brüche und Neuanfänge, in denen Vergangenheitsbilder im Streit der Weltanschauungsparteien, Konfessionen und politischen Sinndeuter reinterpretiert und aktualisiert wurden.
Die gebotene Reflexivität des Erinnerns deutscher Geschichte veranschaulichen sie im Bild vom Spiegellabyrinth. Das Bild seiner selbst, das der erste Spiegel zurückwirft, wird in den anderen Spiegeln vielfältig gebrochen reflektiert. François und Schulze wollen Bilder des nation building und Prozesse des memory building ineinander spiegeln, um die vieldeutigen Begriffe "deutsch" und "Deutschland" zu dekonstruieren. Gegenüber essentialistischen Konzepten der Nation sehen sie mit der neuen kulturalistischen Nationalismusforschung die Nation als eine imaginierte Gemeinschaft, die sich in Ursprungsmythen und heroischen Erzählungen als nicht-fiktionale, immer schon gegebene ethnische Substanz erfindet. Weder lasse sich Deutschland auf ein für allemal definierte Grenzen beziehen noch ein normatives, kulturell fixiertes Wesen des Deutschen identifizieren.
Ist das Straßburger Münster ein deutscher oder ein französischer Gedächtnisort? Wie fühlen Franzosen in Versailles, und was assoziieren Deutsche, wenn sie an den Spiegelsaal und den Alleinschuldartikel des Versailler Vertrages erinnert werden? Gehört Stalingrad sowohl ins deutsche als auch ins russische Kollektivgedächtnis? Die Herausgeber sprechen glücklich von geteilten Erinnerungsorten, auf die sich Deutsche gemeinsam mit anderen europäischen Nationen beziehen. Sie kontrastieren Fremdwahrnehmung und Introspektion, Blicke von außen und Selbstthematisierung. Die Germania des Tacitus, Madame de Staëls "De l'Allemagne" oder das im Kampf gegen die deutsche Exportstärke einst entwickelte Label Made in Germany werden so zur nationalen Erinnerung empfohlen.
Als drittes Auswahlkriterium gilt postmodern, daß auch ganz anderes hätte ausgewählt werden können. So erzeugt sich ein vielfältig schillerndes Kaleidoskop von Erinnerungsfragmenten, die sich, man schüttele, wie man wolle, zu keinem sinnhaften Ganzen zusammenfügen. In bunter, disparater Vielfalt werden immer neue Risse, Brüche und Leerstellen sichtbar. Neben dem Tiefsinn goethefrommer Bildungsbürger stehen unvermittelt die Trivialmythen des deutschen Schlagers oder der Schrebergarten, wo Spießbürger im Gartenzwerg ihrer Schlafmützigkeit ein Denkmal setzen. Alte Nationaldenkmäler werden ums Bauhaus, Wyhl und den Palast der Republik ergänzt.
Die erstaunliche Materialfülle ist nach achtzehn Leitbegriffen gegliedert. Im ersten Band wurden Reich, Dichter und Denker, Volk, Erbfeind, Zerrissenheit und Schuld behandelt. Nun folgen Revolution, Freiheit, Disziplin, Leistung, Recht und die Moderne (Band 2) sowie Bildung, Gemüt, Glaube und Bekenntnis, Heimat, Romantik und Deutschland (Band 3). Den Begriffen ordnen die Herausgeber teils materielle, teils ideelle Erinnerungsorte zu, zur Revolution etwa Reformation, Napoleon, Paulskirche, das Brandenburger Tor, Bismarck, Rosa Luxemburg und Achtundsechzig.
Fröhliche Dezision ist unverkennbar. Lassen sich die Stasi sinnvoll unter "Disziplin" und die Bundesliga unter "Leistung" verhandeln? Warum soll man der Bundesliga gedenken, nicht aber der Nationalmannschaft? Weshalb fehlt die "deutsche Revolution" von 1933, die wohl folgenreichste Revolution der deutschen Geschichte? Die Herausgeber vermeiden Stellungnahmen zur alten, umstrittenen Frage, ob es eine spezifisch deutsche Idee der Freiheit gibt, geprägt durch lutherisches Gemeinwohlpathos, Individualismuskritik und starken Korporatismus. Waren "die Ideen von 1914" bloß blanke Ideologie, oder wurde damals hochmoralische deutsche Sozialsemantik für den "Kulturkrieg" instrumentalisiert?
Um einer pluralistisch offenen, europäischen Gedächtnisgeschichte willen ist der Kreis der Autoren bunt gemischt. Neben Kulturwissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen sind Journalisten, Schriftsteller und Publizisten beteiligt. Sie stammen aus verschiedenen Generationen mit je eigener Erfahrungsökonomie. Jeder fünfte Autor ist ein Nichtdeutscher. Selbst zur Arbeit am nationalen Gedächtnis stellen die Deutschen nun Gastarbeiter ein. Sie sollen uns Lernfähigkeit in Selbstkritik bescheinigen. Jedenfalls gehen die Herausgeber davon aus, daß die Bundesrepublik seit 1989/90 zu einem normalen Nationalstaat geworden sei. An Gedächtnisorten soll diese neue Normalität inszeniert werden.
Der Begriff des Erinnerungsortes ist komplex und schillernd. Die Herausgeber lesen ihn als Metapher, die sich an der antiken römischen Mnemotechnik, der räumlichen Ordnung von Gedächtnisinhalten nach loci memoriae orientiert. Erinnerungsorte sind teils materieller, teils immaterieller Natur. Neben mythischen Helden stehen die großen Männer, neben Denkmälern auch Institutionen, Begriffe, Bücher und Kunstwerke, die klassischen Rang gewonnen haben. Gedächtnisorte lassen sich als nationale Ikonen oder mit Aby Warburg als Pathosformeln verstehen. Materielle Gegenständlichkeit tritt hinter symbolische Funktion zurück.
François und Schulze sprechen vom Topos. Er sei nicht definitiv fixiert, bilde keine ein für allemal umgrenzte oder abgeschlossene Entität, sondern einen Ort in Erinnerungsräumen, der durch Koordinaten sozialer, politischer oder kultureller Erfahrungen bestimmt werde. So wie der Topos Erinnerung mitkonstituiert, so werden erinnerte Orte von erinnernden Subjekten immer neu gebildet. Die entscheidende Frage umgehen die Herausgeber: Sind ihre Gedächtnisorte im Emotionshaushalt der Deutschen tatsächlich präsent? Oder beschwören sie Topoi, zu denen die Deutschen um eines neuen nation building willen pilgern sollten?
Gedenken und Erinnern sind genuin religiöse Begriffe. Religionen bilden Erinnerungsgemeinschaften. Durch heilige Texte und Riten symbolisieren sie bergende Ordnungen von Raum und Zeit, dank derer die Individuen ihre kontingenten, krisenhaften Lebensgeschichten als sinnhaft deuten können. Gilt dies auch für politische Memorialkulturen? Anders als Nora ignorieren François und Schulze die zivilreligiösen Grundierungen der mémoire collective. Zwar finden sich religionskulturelle Gedächtnisorte wie das evangelische Pfarrhaus, Bach, Oberammergau, Moses Mendelssohn, Marx/Engels und die Jugendweihe. Doch wo bleiben Rankes "tiefste Spaltung der Nation" und die Kulturkämpfe zwischen Katholiken und Protestanten? Kann man der Kulturnation ohne Lutherbibel oder Kleinen Katechismus gedenken?
Die Herausgeber sehen sich als kritische Aufklärer, die uns von der depressiv stimmenden Übermacht einer undurchschauten Geschichte befreien wollen. Analog zum anamnetischen Prozeß soll für die Nation gelten: Wo Es war, soll Ich werden. Entscheidende Fragen bleiben jedoch offen: Darf dazu auch vergessen werden? Darf ich Belastendes abstoßen? Wie verhalte ich mich zu unerfüllten Hoffnungen vergangener Generationen?
Das bißchen neuhistoristische Geschichtsreligion, das postmoderne Memorialkulturexperten anpreisen, kann trotz faszinierender Materialfülle keinen Sinnhunger stillen. Wer der europäisch integrierten Berliner Republik Selbstverständigung an Gedächtnisorten empfiehlt, muß die erhoffte neue Identität auch normativ, in Zielen der Selbstdeutung, bestimmen können. Sonst wird am Gedenkort "Schuld" nur hohle Bußrhetorik gepredigt. In ernsteren Zeiten wird sich der demokratische Rechtsstaat "Sinn" nicht in wunderschön gemachten Büchern über die "Schädelstätten des Geistes" (Hegel) spenden lassen können. Geschichtsreligion light ist nur eine karge Kost, die nicht sättigt, trotz faszinierender neuer Verpackungen, die kulturwissenschaftliche Theorie-Designer Gedächtnisgeschichte nennen.
Etienne François, Hagen Schulze (Hrsg.): "Deutsche Erinnerungsorte". Bde. 2 u. 3. Verlag C.H. Beck, München 2001. 741 u. 784 S., 77 u. 86 Abb., geb., je Band 68,- DM.
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