Von Arminius bis zu den 68ern, vom Bauernkrieg bis zur Schlacht von Stalingrad, von der Hanse bis zur D-Mark, von Bach bis zu Karl May - mit den Bänden 2 und 3 liegen die 'Deutschen Erinnerungsorte' nunmehr vollständig vor. In über 120 ebenso klugen wie glänzend geschriebenen Beiträgen präsentieren herausragende Autoren aus dem In- und Ausland die wichtigsten Bezugspunkte im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Ein Standardwerk zur deutschen Geschichte, das Maßstäbe setzt in Sachen Erinnerungskultur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2003Hinweis
ORTE DER ERINNERUNG. Ein Bedürfnis erfüllen die "Deutschen Erinnerungsorte". Es handelt sich um drei dicke Bände mit dem Anspruch, zentrale Themen und Leitmotive der kollektiven Erinnerung der Deutschen in 120 Essays zu beschreiben und wie in einem Atlas oder einer kognitiven thematischen Landkarte unserer historischen Identität zu sammeln. Beispiele sind Canossa, Goethe, Auschwitz, Flucht und Vertreibung, Versailles, der Kniefall von Warschau, Bismarck, Stalingrad, der Sozialstaat, das Bauhaus, der Duden, der Wald, Richard Wagner, Friedrich der Große. Schon diese Aufzählung wirkungsmächtiger Kollektivsymbole macht den Reiz des Unternehmens spürbar. So ergibt sich, wie unser Rezensent Friedrich Wilhelm Graf schrieb, "ein vielfältig schillerndes Kaleidoskop von Erinnerungsfragmenten", die sich allerdings, "man schüttele, wie man wolle, zu keinem sinnhaften Ganzen zusammenfügen". Diese bunte Vielfalt mit ihren Rissen, Brüchen und Leerstellen liegt jetzt in fünfter Auflage als broschierte Sonderausgabe vor. (Etienne François, Hagen Schulze [Hrsg.]: "Deutsche Erinnerungsorte". 3 Bände. Verlag C. H. Beck, München 2003. 727, 741 u. 784 S., zahlreiche Abb., br., je Band 19,90 [Euro].)
F.A.Z.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
ORTE DER ERINNERUNG. Ein Bedürfnis erfüllen die "Deutschen Erinnerungsorte". Es handelt sich um drei dicke Bände mit dem Anspruch, zentrale Themen und Leitmotive der kollektiven Erinnerung der Deutschen in 120 Essays zu beschreiben und wie in einem Atlas oder einer kognitiven thematischen Landkarte unserer historischen Identität zu sammeln. Beispiele sind Canossa, Goethe, Auschwitz, Flucht und Vertreibung, Versailles, der Kniefall von Warschau, Bismarck, Stalingrad, der Sozialstaat, das Bauhaus, der Duden, der Wald, Richard Wagner, Friedrich der Große. Schon diese Aufzählung wirkungsmächtiger Kollektivsymbole macht den Reiz des Unternehmens spürbar. So ergibt sich, wie unser Rezensent Friedrich Wilhelm Graf schrieb, "ein vielfältig schillerndes Kaleidoskop von Erinnerungsfragmenten", die sich allerdings, "man schüttele, wie man wolle, zu keinem sinnhaften Ganzen zusammenfügen". Diese bunte Vielfalt mit ihren Rissen, Brüchen und Leerstellen liegt jetzt in fünfter Auflage als broschierte Sonderausgabe vor. (Etienne François, Hagen Schulze [Hrsg.]: "Deutsche Erinnerungsorte". 3 Bände. Verlag C. H. Beck, München 2003. 727, 741 u. 784 S., zahlreiche Abb., br., je Band 19,90 [Euro].)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.10.2001Ein Volk von Bohrern sollt ihr sein
Das Sammelwerk der „Deutschen Erinnerungsorte” von Etienne François und Hagen Schulze ist abgeschlossen
Nach einer gängigen Sottise der siebziger und achtziger Jahre gab es für die Bundesdeutschen keine Objekte nationaler Genugtuung außer ihrer D-Mark und ihrer erfolgreichen Fußballmannschaft. Was bleibt ihnen dann heute noch? 1997 wurde im Feuilleton dieser Zeitung die rhetorische Frage gestellt, was denn noch deutsch sei in einem Europa, das die Mark abschaffe. Nun, in dem Sammelwerk, dessen zweiter und dritter Band hier angezeigt werden, geben Historiker, Philosophen, Germanisten, Soziologen und Publizisten auf gut 2100 Seiten ernsthaft Antwort auf eben diese Frage. Die Bände erscheinen zur rechten Zeit, denn die Alteingesessenen hierzulande sind auf dem besten Weg zu vergessen, an was sie sich alles erinnern könnten. Schon nach dem Überfliegen der Inhaltsverzeichnisse wird kein Leser daran zweifeln, dass das Werk um weitere drei oder sechs Bände erweitert werden könnte. Sogar die beiden wichtigsten, weil allgegenwärtigen deutschen Erinnerungsspeicher, die Sprache und die Landschaft, wurden ausgespart, als wollte man bestätigen, dass Deutsches für Deutsche auch und gerade bei gründlicher Innenschau voller blinder Flecken ist.
Das Projekt der Herausgeber Etienne François und Hagen Schulze frappiert vorab mit dem, was es wie selbstverständlich voraussetzt: ein „kollektives Gedächtnis der Nation”, eine Erinnerungsgemeinschaft, die die bekennenden Deutschen mit den gleichgültig und widerwillig Deutschen vereint und nicht ausschließlich auf dem nachgeborenen Entsetzen über „Auschwitz” gründet, vielmehr außer diesem Topos des absolut Bösen eine unbestimmbar große Zahl anderer, sehr unterschiedlich beleumundeter Urszenen, Mythen, Plätze, Werke und Leitbilder geerbt hat. Was Pierre Nora mit seinen „Lieux de mémoire” für Frankreich unternommen hat, glaubten die Herausgeber für das deutsche Nachbarland nicht erst rechtfertigen zu müssen. (Und Recht hatten sie.) Insgesamt einhunderteinundzwanzig überlieferte Topoi haben sie untersuchen lassen. Zweiundachtzig werden in den Bänden II und III vorgestellt, unter ihnen so verfängliche Motive wie: Reformation, Bauernkrieg, Friedrich der Große, Stalingrad, „Achtundsechzig”, Pflicht, „goldenes Handwerk”, „Ruhe und Ordnung”, „Moloch Großstadt”, Weihnachten, deutscher Wald, Karl Marx, Karl May, Schrebergarten, Richard Wagner und Faust. D-Mark und Fußball werden unter der Rubrik „Leistung” abgehandelt.
Das Vertrackte an Erinnerungsorten ist freilich, dass sie von allen Erinnernden und nicht von den Historikern gekürt werden. Hier muss die Hermeneutik der Empirie den Vortritt lassen. Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich eine gewisse Unentschlossenheit der Herausgeber. Oftmals ließen sie ihren auf Entmystifizierung geschichtlicher Vorgänge erpichten Fachautoren die Zügel schießen und unterließen es, sie zu einer eingehenden Analyse heutiger Vergangenheitswahrnehmung zu verpflichten. Zu den aufschlussreichsten Kapiteln gehören jene, in denen der Nachwirkung und der aktuellen Phänomenologie breiter Raum gewährt wird, beispielsweise die Beiträge von Gérald Chaix („Die Reformation”), Rolf Kießling („Der Bauernkrieg”), Sylvia Paletschek („Kinder – Küche – Kirche”), Albrecht Lehmann („Der deutsche Wald”), Catharina Clemens („Neuschwanstein”) und Stephan Krass („Der Kulturbunker”).
Leider ist nicht wenigen Autoren nach dem Galopp durch die Nachgeschichte ihrer „Orte” bei der Ankunft im Heute die Luft ausgegangen. Ihre Darstellungen erschöpfen sich in historischer Detailzeichnung und Richtigstellung und kulturpolitischer Wertung. Über die Umtriebigkeit ihrer Themen in der Phantombildnerei der Gegenwart erfahren wir nichts. Auf diese Weise wurden die „Orte” Stalingrad, Moloch Großstadt, Versicherung, Richard Wagner, Albert Einstein, Marlene Dietrich und Karneval vergeudet.
Auch werden Kristallisationspunkte deutscher Selbstvergewisserung präsentiert, die nach Auskunft der jeweiligen Bearbeiter ihren Nimbus seit längerem eingebüßt haben, etwa die Devise „Frisch, fromm, fröhlich, frei” des Turnvaters Jahn, die Berliner „Freiheitsglocke”, die documenta I des Jahres 1955, das Straßburger Münster, Arminius, Friedrich Schiller, die „Völkerschlacht” vor Leipzig und die Hausmusik. So ist das Projekt auch zu einer provisorischen Bestandsaufnahme deutscher Erinnerungsverluste und - verlagerungen geraten.
Die Verluste treten in den beiden abschließenden Bänden, die sich den Selbstwertbildern und Institutionen und den Gestaltungen deutscher Innerlichkeit widmen, deutlicher hervor als im ersten Band, der die prominentesten deutschen Leitmotive (unter den Rubriken „Reich”, „Dichter und Denker”, „Volk”, „Erbfeind”, „Zerrissenheit”und „Schuld”) herausstellt. Aber das tut dem Unternehmen keinen Abbruch.
Was nunmehr in unvergleichlicher Fülle vor uns liegt, sind Ergebnisse von Probebohrungen in auratischen Ablagerungen des 19. und 20. Jahrhunderts und vereinzelt in älteren Schichten, teils nach bildungsbürgerlichen Auswahlkriterien, teils mit kalkulierter Willkür angesetzt, so dass sich Erwartbares und Überraschendes assoziierend durchdringen. Eine Enzyklopädie der Erinnerungsorte ist nicht entstanden, konnte nicht entstehen. Vieles musste übergangen werden, und fast alles ist noch im Fluss. Die drei Bände sind Arbeitsbücher, Materialsammlungen für Recherchen nach Unter- und Hintergründen gemeindeutscher Bilderproduktion in einer Zeit, die solche Produktivität für vorgestrig hält und blind dafür ist, dass nahezu alle Stoffe und Figuren des globalisierten Kulturangebots wenigen alteuropäischen Repertoires entstammen.
Was also beschäftigt die deutsche Kollektiverinnerung zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Es arbeitet sich mehr denn je an Nachbildungen von Täter-, Opfer- und Widerstandsrollen in den zwölf Jahren der Herrschaft Adolf Hitlers ab. Horror, Angstlust und Verehrung, die ständigen Warnungen ebenso wie die Koketterien mit dem Verbotenen polieren den Schreckensglanz des Nationalsozialismus auf. Dieser avanciert inmitten des medialen Realitätengewitters zu einer Art Realissimum und wird in (anti)faschistischen Wiederaufführungen leidenschaftlich parodiert. In den „Erinnerungsorten” gliedert er als Zeitenwende die meisten Einzeldarstellungen in Vorher und Nachher. Vermutlich wird unsere Faszination solange anhalten, bis ein anderes Realissimum – der 11. September 2001 und seine Folgen? – das alte ablöst.
Die Anthologie von François und Schulze verrät uns noch mehr über die gegenwärtige deutsche Gedächtniskultur: Viele historische Bezugspunkte sind nicht mehr national, sondern nur noch regional verortet. Andere haben ein ostentativ ostdeutsches oder westdeutsches Gepräge (Rosa Luxemburg vs. Achtundsechzig, „Wir sind das Volk” vs. Sozialstaat). Als richtungweisende Bindekräfte wiederentdeckt werden Disziplin, Leistungswillen, Religion und Natur just dann, wenn sie vollends desavouiert zu sein scheinen. Auf ähnliche Weise laden sich Weihnachten, Karneval und andere entleerte Traditionsfeste durch das Marketing kaufkräftiger Erinnerungen auf. Der deutsche Wald hat Albrecht Lehmann zufolge seine ideologische Bedeutung verloren und seine ästhetische bewahrt. Kurioserweise geht der Prozess der Individualisierung „offenbar mit einer Abwertung des Symbols ‚Wald‘ und einer Aufwertung der Bäume als Einzelwesen einher”. Und die bedrohte Menschenart der Deutschen macht sich Gedanken um die Nachwelt. Sie will ihre Kulturgüter vor der Gleichgültigkeit der Nachkommen schützen und lagert Duplikate in Kulturbunkern ein.
Zweifel nagen an der eigenen Überlieferungsbereitschaft in einem Land, in dem nicht nur der Anteil der Ein-Personen-Haushalte stetig wächst, sondern auch die meisten Kleinfamilien wie Singles nebeneinander her leben. Nur sehr beschränkt lässt sich das Bedürfnis nach kultischer Erinnerung kunsthistorisch, archivarisch, mahnmalerrichtend und pädagogisch beleben. Es folgt seinen eigenen Zyklen. Die Beschwörung „nationaler Identität” jedenfalls gehört zu den Konservierungsbestrebungen. In ihrer Abstraktheit vernebelt und schablonisiert sie die schwankenden Gestalten des Deutschseins – das nie und nimmer mit sich identisch war. Zuwanderer aus der Türkei und anderen Ländern bringen ihre eigenen Erinnerungsorte mit (deren Zukunft in westlicher, postindustrieller Umgebung jedoch unsicher ist). Wer ihnen gegenüber das deutsche Herkommen lebendig halten möchte, tut das am besten dadurch, dass er regelmäßig die überindividuellen Orte seines Herzens aufsucht und von ihnen spricht.
Grundlos ist die Besorgnis, dass sich in der Ära des entgrenzten Datenverkehrs der Genius loci verflüchtigen werde. So wie im Orbit die Erde als unwahrscheinlicher und verletzlicher Hort des Lebens sichtbar wird, schärfen Aufenthalte im virtuellen Einerlei den Sinn für die neue Entrücktheit der irdischen Stätten und die Unersetzlichkeit der eigenen. Ortlosigkeit verlockt die verblichenen Orte zur Wiederkehr. Niemand macht in Atopia Politik und in Telepolis Geschäfte ohne erinnernde Rückbindung an die nichtvirtuellen Plätze. So austauschbar aber die Programme sind, so wenig sind es die Wege der Erinnerung.
Das nun abgeschlossene Sammelwerk der „deutschen Erinnerungsorte” öffnet den Blick auf das Offensichtliche, das die Deutschen, alles Nationalen überdrüssig, auszublenden gewohnt sind. Die Lektüre gibt ihnen die erlösende Chance, konkret zu werden, anstatt anti- und prodeutsche Phrasen zu dreschen.
FRANK BÖCKELMANN
ETIENNE FRANCOIS und HAGEN SCHULZE (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Verlag C.H. Beck, München 2001. Band II, 725 Seiten mit 77 Abbildungen, 68 Mark. Band III, ca. 740 Seiten mit ca. 75 Abbildungen, 68 Mark.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Das Sammelwerk der „Deutschen Erinnerungsorte” von Etienne François und Hagen Schulze ist abgeschlossen
Nach einer gängigen Sottise der siebziger und achtziger Jahre gab es für die Bundesdeutschen keine Objekte nationaler Genugtuung außer ihrer D-Mark und ihrer erfolgreichen Fußballmannschaft. Was bleibt ihnen dann heute noch? 1997 wurde im Feuilleton dieser Zeitung die rhetorische Frage gestellt, was denn noch deutsch sei in einem Europa, das die Mark abschaffe. Nun, in dem Sammelwerk, dessen zweiter und dritter Band hier angezeigt werden, geben Historiker, Philosophen, Germanisten, Soziologen und Publizisten auf gut 2100 Seiten ernsthaft Antwort auf eben diese Frage. Die Bände erscheinen zur rechten Zeit, denn die Alteingesessenen hierzulande sind auf dem besten Weg zu vergessen, an was sie sich alles erinnern könnten. Schon nach dem Überfliegen der Inhaltsverzeichnisse wird kein Leser daran zweifeln, dass das Werk um weitere drei oder sechs Bände erweitert werden könnte. Sogar die beiden wichtigsten, weil allgegenwärtigen deutschen Erinnerungsspeicher, die Sprache und die Landschaft, wurden ausgespart, als wollte man bestätigen, dass Deutsches für Deutsche auch und gerade bei gründlicher Innenschau voller blinder Flecken ist.
Das Projekt der Herausgeber Etienne François und Hagen Schulze frappiert vorab mit dem, was es wie selbstverständlich voraussetzt: ein „kollektives Gedächtnis der Nation”, eine Erinnerungsgemeinschaft, die die bekennenden Deutschen mit den gleichgültig und widerwillig Deutschen vereint und nicht ausschließlich auf dem nachgeborenen Entsetzen über „Auschwitz” gründet, vielmehr außer diesem Topos des absolut Bösen eine unbestimmbar große Zahl anderer, sehr unterschiedlich beleumundeter Urszenen, Mythen, Plätze, Werke und Leitbilder geerbt hat. Was Pierre Nora mit seinen „Lieux de mémoire” für Frankreich unternommen hat, glaubten die Herausgeber für das deutsche Nachbarland nicht erst rechtfertigen zu müssen. (Und Recht hatten sie.) Insgesamt einhunderteinundzwanzig überlieferte Topoi haben sie untersuchen lassen. Zweiundachtzig werden in den Bänden II und III vorgestellt, unter ihnen so verfängliche Motive wie: Reformation, Bauernkrieg, Friedrich der Große, Stalingrad, „Achtundsechzig”, Pflicht, „goldenes Handwerk”, „Ruhe und Ordnung”, „Moloch Großstadt”, Weihnachten, deutscher Wald, Karl Marx, Karl May, Schrebergarten, Richard Wagner und Faust. D-Mark und Fußball werden unter der Rubrik „Leistung” abgehandelt.
Das Vertrackte an Erinnerungsorten ist freilich, dass sie von allen Erinnernden und nicht von den Historikern gekürt werden. Hier muss die Hermeneutik der Empirie den Vortritt lassen. Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich eine gewisse Unentschlossenheit der Herausgeber. Oftmals ließen sie ihren auf Entmystifizierung geschichtlicher Vorgänge erpichten Fachautoren die Zügel schießen und unterließen es, sie zu einer eingehenden Analyse heutiger Vergangenheitswahrnehmung zu verpflichten. Zu den aufschlussreichsten Kapiteln gehören jene, in denen der Nachwirkung und der aktuellen Phänomenologie breiter Raum gewährt wird, beispielsweise die Beiträge von Gérald Chaix („Die Reformation”), Rolf Kießling („Der Bauernkrieg”), Sylvia Paletschek („Kinder – Küche – Kirche”), Albrecht Lehmann („Der deutsche Wald”), Catharina Clemens („Neuschwanstein”) und Stephan Krass („Der Kulturbunker”).
Leider ist nicht wenigen Autoren nach dem Galopp durch die Nachgeschichte ihrer „Orte” bei der Ankunft im Heute die Luft ausgegangen. Ihre Darstellungen erschöpfen sich in historischer Detailzeichnung und Richtigstellung und kulturpolitischer Wertung. Über die Umtriebigkeit ihrer Themen in der Phantombildnerei der Gegenwart erfahren wir nichts. Auf diese Weise wurden die „Orte” Stalingrad, Moloch Großstadt, Versicherung, Richard Wagner, Albert Einstein, Marlene Dietrich und Karneval vergeudet.
Auch werden Kristallisationspunkte deutscher Selbstvergewisserung präsentiert, die nach Auskunft der jeweiligen Bearbeiter ihren Nimbus seit längerem eingebüßt haben, etwa die Devise „Frisch, fromm, fröhlich, frei” des Turnvaters Jahn, die Berliner „Freiheitsglocke”, die documenta I des Jahres 1955, das Straßburger Münster, Arminius, Friedrich Schiller, die „Völkerschlacht” vor Leipzig und die Hausmusik. So ist das Projekt auch zu einer provisorischen Bestandsaufnahme deutscher Erinnerungsverluste und - verlagerungen geraten.
Die Verluste treten in den beiden abschließenden Bänden, die sich den Selbstwertbildern und Institutionen und den Gestaltungen deutscher Innerlichkeit widmen, deutlicher hervor als im ersten Band, der die prominentesten deutschen Leitmotive (unter den Rubriken „Reich”, „Dichter und Denker”, „Volk”, „Erbfeind”, „Zerrissenheit”und „Schuld”) herausstellt. Aber das tut dem Unternehmen keinen Abbruch.
Was nunmehr in unvergleichlicher Fülle vor uns liegt, sind Ergebnisse von Probebohrungen in auratischen Ablagerungen des 19. und 20. Jahrhunderts und vereinzelt in älteren Schichten, teils nach bildungsbürgerlichen Auswahlkriterien, teils mit kalkulierter Willkür angesetzt, so dass sich Erwartbares und Überraschendes assoziierend durchdringen. Eine Enzyklopädie der Erinnerungsorte ist nicht entstanden, konnte nicht entstehen. Vieles musste übergangen werden, und fast alles ist noch im Fluss. Die drei Bände sind Arbeitsbücher, Materialsammlungen für Recherchen nach Unter- und Hintergründen gemeindeutscher Bilderproduktion in einer Zeit, die solche Produktivität für vorgestrig hält und blind dafür ist, dass nahezu alle Stoffe und Figuren des globalisierten Kulturangebots wenigen alteuropäischen Repertoires entstammen.
Was also beschäftigt die deutsche Kollektiverinnerung zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Es arbeitet sich mehr denn je an Nachbildungen von Täter-, Opfer- und Widerstandsrollen in den zwölf Jahren der Herrschaft Adolf Hitlers ab. Horror, Angstlust und Verehrung, die ständigen Warnungen ebenso wie die Koketterien mit dem Verbotenen polieren den Schreckensglanz des Nationalsozialismus auf. Dieser avanciert inmitten des medialen Realitätengewitters zu einer Art Realissimum und wird in (anti)faschistischen Wiederaufführungen leidenschaftlich parodiert. In den „Erinnerungsorten” gliedert er als Zeitenwende die meisten Einzeldarstellungen in Vorher und Nachher. Vermutlich wird unsere Faszination solange anhalten, bis ein anderes Realissimum – der 11. September 2001 und seine Folgen? – das alte ablöst.
Die Anthologie von François und Schulze verrät uns noch mehr über die gegenwärtige deutsche Gedächtniskultur: Viele historische Bezugspunkte sind nicht mehr national, sondern nur noch regional verortet. Andere haben ein ostentativ ostdeutsches oder westdeutsches Gepräge (Rosa Luxemburg vs. Achtundsechzig, „Wir sind das Volk” vs. Sozialstaat). Als richtungweisende Bindekräfte wiederentdeckt werden Disziplin, Leistungswillen, Religion und Natur just dann, wenn sie vollends desavouiert zu sein scheinen. Auf ähnliche Weise laden sich Weihnachten, Karneval und andere entleerte Traditionsfeste durch das Marketing kaufkräftiger Erinnerungen auf. Der deutsche Wald hat Albrecht Lehmann zufolge seine ideologische Bedeutung verloren und seine ästhetische bewahrt. Kurioserweise geht der Prozess der Individualisierung „offenbar mit einer Abwertung des Symbols ‚Wald‘ und einer Aufwertung der Bäume als Einzelwesen einher”. Und die bedrohte Menschenart der Deutschen macht sich Gedanken um die Nachwelt. Sie will ihre Kulturgüter vor der Gleichgültigkeit der Nachkommen schützen und lagert Duplikate in Kulturbunkern ein.
Zweifel nagen an der eigenen Überlieferungsbereitschaft in einem Land, in dem nicht nur der Anteil der Ein-Personen-Haushalte stetig wächst, sondern auch die meisten Kleinfamilien wie Singles nebeneinander her leben. Nur sehr beschränkt lässt sich das Bedürfnis nach kultischer Erinnerung kunsthistorisch, archivarisch, mahnmalerrichtend und pädagogisch beleben. Es folgt seinen eigenen Zyklen. Die Beschwörung „nationaler Identität” jedenfalls gehört zu den Konservierungsbestrebungen. In ihrer Abstraktheit vernebelt und schablonisiert sie die schwankenden Gestalten des Deutschseins – das nie und nimmer mit sich identisch war. Zuwanderer aus der Türkei und anderen Ländern bringen ihre eigenen Erinnerungsorte mit (deren Zukunft in westlicher, postindustrieller Umgebung jedoch unsicher ist). Wer ihnen gegenüber das deutsche Herkommen lebendig halten möchte, tut das am besten dadurch, dass er regelmäßig die überindividuellen Orte seines Herzens aufsucht und von ihnen spricht.
Grundlos ist die Besorgnis, dass sich in der Ära des entgrenzten Datenverkehrs der Genius loci verflüchtigen werde. So wie im Orbit die Erde als unwahrscheinlicher und verletzlicher Hort des Lebens sichtbar wird, schärfen Aufenthalte im virtuellen Einerlei den Sinn für die neue Entrücktheit der irdischen Stätten und die Unersetzlichkeit der eigenen. Ortlosigkeit verlockt die verblichenen Orte zur Wiederkehr. Niemand macht in Atopia Politik und in Telepolis Geschäfte ohne erinnernde Rückbindung an die nichtvirtuellen Plätze. So austauschbar aber die Programme sind, so wenig sind es die Wege der Erinnerung.
Das nun abgeschlossene Sammelwerk der „deutschen Erinnerungsorte” öffnet den Blick auf das Offensichtliche, das die Deutschen, alles Nationalen überdrüssig, auszublenden gewohnt sind. Die Lektüre gibt ihnen die erlösende Chance, konkret zu werden, anstatt anti- und prodeutsche Phrasen zu dreschen.
FRANK BÖCKELMANN
ETIENNE FRANCOIS und HAGEN SCHULZE (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Verlag C.H. Beck, München 2001. Band II, 725 Seiten mit 77 Abbildungen, 68 Mark. Band III, ca. 740 Seiten mit ca. 75 Abbildungen, 68 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Das Vorbild für das gewaltige, mit der Veröffentlichung des zweiten und des dritten Bandes nun abgeschlossenen Unternehmens, liegt auf der Hand: Pierre Noras 1984 erschienene "Lieux de Memoire". Nora verbindet darin das von Halbwachs geborgte Konzept des "kulturellen Gedächtnisses" mit einer, von Friedrich Wilhelm Graf hier "zweifelhaft" genannten, kulturkritischen Perspektive. Das Grundkonzept der deutschen Antwort ist ein anderes. Das hat einerseits mit dem, aus gutem Grund, viel gebrocheneren Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte, damit auch zur ihren Erinnerungsorten, zu tun. Zum anderen aber halten es die Herausgeber, nach Ansicht Grafs jedenfalls, fröhlich mit der Postmoderne. Die Auswahl steht zu ihrer partiellen Willkürlichkeit und der Rezensent stellt dennoch die Fragen, die darob doch ein wenig müßig scheinen: "Warum aber soll man der Bundesliga gedenken, nicht aber der Nationalmannschaft?" Ein gewisses Unwohlsein spricht auch aus seiner Bemerkung, man habe selbst für dieses Werk "Gastarbeiter" (soll heißen: nicht-deutsche Autoren) eingeladen. Der Begriff, den sich die Herausgeber vom "Ort" machen, passt ihm gleichfalls nicht recht ins Konzept: man versteht ihn als "Topos" und somit als unfixiert, mal materiell, dann aber auch nicht. Zum Schluss wird Graf ganz ungeduldig und ungehalten: es wird vom Buch doch tatsächlich kein Sinnzusammenhang hergestellt, keine normative Orientierung geboten. Das, so das Rezensenten-Verdikt, ist "Geschichtsreligion light", da hilft die ganze "faszinierende Materialfülle" nichts.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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