Mit der systematischen Auswertung bislang wenig beachteter Quellen zu süddeutschen Freikorps liefert der Autor erstmals ein profundes und detailliertes Sozialprofil dieser Einheiten, die so entscheidend die Gewalt des Nachkrieges und damit die Geschichte der Weimarer Republik geprägt haben. Die umfangreichen sozialhistorischen Daten ermöglichen eine Überprüfung gängiger und lange Zeit tradierter Forschungsthesen zu Herkunft, Motivation und Radikalisierung der Paramilitärs sowie eine Analyse personeller Kontinuitäten hin zu NSDAP, SA und SS und damit einen Blick auf die Bedeutung der Freikorps für die Genese der maßgeblichen NS-Herrschaftsorganisationen. Dieser Beitrag zur Frühgeschichte der Weimarer Republik wie auch zur Geschichte des Nationalsozialismus zeigt, dass alte Gewissheiten, die nicht selten einer ideologischen Geschichtsschreibung oder der Selbsthistorisierung ehemaliger Freikorpskämpfer entstammen, deutlicher Korrekturen bedürfen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wolfgang Krischke lobt den Erkenntnisgewinn von Jan-Philipp Pompluns Studie zur Geschichte der Freikorps. Obgleich sich der Autor "nur" auf die Mitgliederverzeichnisse von elf Freikorps aus Bayern, Baden und Württemberg stützt, erscheint Krischke die Arbeit repräsentativ genug, um Schlüsse zu ziehen, etwa über das soziale Profil der Freikorps, ihre Frontbeteiligung und ihre Rolle im Nationalsozialismus. Die Ausführungen dazu im Band findet der Rezensent erhellend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.01.2023Ziemlich
normale Männer
Freikorps führten zu Beginn der Weimarer Republik
einen Vernichtungsfeldzug gegen radikale Linke.
Jan-Philipp Pomplun hat erforscht, warum sie zum
Gewaltexzess neigten – mit überraschenden Befunden
VON DANIEL SIEMENS
Zu den berüchtigtsten Akteuren der Revolutionsjahre 1918-1919 gehörten die paramilitärischen Freikorps. Diese mobilen Freiwilligeneinheiten mit einer Gesamtstärke von 200 000 bis 250 000 Mann, die mancherorts bis 1923 aktiv blieben, waren nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam organisiert und wurden von erfahrenen Militärführern befehligt. Obwohl ihre politische Zuverlässigkeit zweifelhaft war, bedienten sich die neuen Machthaber wiederholt dieser Kampfverbände, um kommunistische Aufstände im Inneren der jungen Republik niederzuschlagen oder Gebietsansprüche an den Ostgrenzen des Reiches durchzusetzen.
Spätestens seit Erscheinen von Klaus Theweleits zweibändiger Pionierstudie „Männerphantasien“ Ende der 1970er Jahre haftet den Freikorps ein überaus schlechter Ruf an, doch liegen überraschend wenige gesicherte historische Informationen über diese Einheiten vor, was sich unter anderem mit der schwierigen Quellenlage erklärt. Vor diesem Hintergrund leistet Jan-Philipp Pompluns Buch, das auf seiner Berliner Dissertationsschrift beruht, sozialgeschichtliche Grundlagenarbeit. Sie hilft, gängige Hypothesen über die „Brutalisierung“ der Freiwilligenverbände aufgrund der vorangegangenen Fronterfahrung ihrer Mitglieder sowie oftmals angenommene, aber wenig belegte Kontinuitäten zwischen antirevolutionärer Bürgerkriegsgewalt und dem Aufstieg und Herrschaft der Nationalsozialisten zu hinterfragen.
Pomplun beginnt seine Untersuchung mit einer kurze Ereignisgeschichte der Freikorps und ihrer Einsätze, ehe er in einem zweiten Kapitel die soziale Zusammensetzung dieser Einheiten im Detail untersucht. Die von den Freikorps ausgeübte Gewalt steht im Zentrum des dritten Kapitels. Der Autor betont, dass sie keinesfalls vorschnell mit einer Brutalisierung der Soldaten während des Ersten Weltkriegs erklärt werden kann, zumal viele Freikorpskämpfer gar keine Fronterfahrung hatten. Vielmehr sei der „Schießerlass“ des ersten Reichswehrministers Gustav Noske (SPD) vom 9. März 1919 die „Initialzündung für die massenhafte Gewalt der Regierungstruppen und damit auch der Freikorps“ gewesen. Auch wenn der Befehl bereits eine Woche später aufgehoben wurde, begingen die Freikorps auch in den folgenden Monaten zahlreiche Massaker an Zivilisten. Jeder, der mit einer Waffe in der Hand angetroffen wurde oder nur im Ruf stand, ein Sympathisant der Kommunisten zu sein, musste um sein Leben fürchten.
Ein Kommandant des Freikorps Lützow brachte das Vorgehen so auf den Punkt: „Lieber ein paar Unschuldige mehr an die Wand, als nur einen einzigen Schuldigen gehen zu lassen.“ Auch Regierungsstellen billigten, dass die Truppen auf Warn- und Schreckschüsse verzichteten und ohne Vorwarnung auf Demonstranten und Zivilisten schossen.
Allein bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik Anfang Mai 1919 wurden Hunderte Zivilisten getötet. Ähnlich viele Opfer waren zuvor in Berlin und im Jahr darauf beim Kampf gegen die „Rote Ruhrarmee“ zu beklagen; de facto führten die Einheiten einen Vernichtungsfeldzug gegen die radikale politische Linke und ihre mutmaßlichen Unterstützer. Auch im Baltikum und in dem zwischen Polen und dem Deutschen Reich umstrittenen Oberschlesien plünderten, brandschatzten und mordeten die Freikorps, zumal sie hier noch weniger als im Reich eine Strafverfolgung zu befürchten hatten. Angesichts dieser mitunter „entgrenzten“ Gewalt fragt der Autor im abschließenden vierten Kapitel nach möglichen Kontinuitäten zum Nationalsozialismus.
Pompluns Analyse liegt die systematische, quantitative Auswertung der Stammrollen von elf Freikorps aus dem süddeutschen Raum zu Grunde, die für knapp 20 000 Mann repräsentativ ist. Obwohl die Gesamtzahl der Freikorpskämpfer zehnmal größer war, sollen die Ergebnisse auch Anhaltspunkte für die Zusammensetzung jener norddeutschen Einheiten geben, deren Unterlagen beim Brand des Heeresarchivs in Potsdam im April 1945 weitgehend vernichtet wurden. Zum untersuchten Sample gehören bekannte Namen wie das „Freikorps Oberland“, aber auch weitgehend vergessene Einheiten wie die in Franken aufgestellte „Eiserne Schar Berthold“ oder die aus Baden stammende „Bauabteilung Mauritius“. Ihre Mitgliederlisten wurden beständig aktualisiert; sie enthalten Einträge zu Familienstand, Eltern, Dienstgrad, Beförderungen, Zivilberuf und Konfessionszugehörigkeit. Diese Datenfülle ermöglicht es Pomplun, die schichtenmäßige und generationelle Zusammensetzung der von ihm ausgewählten Freikorps erstmals genau zu bestimmen.
Während die Auswertung die meisten Annahmen der bisherigen Forschung im Kern bestätigt und partiell weiter ausdifferenziert, präsentiert Pomplun auch einige unerwartete Ergebnisse. Am meisten überrascht, dass sich die Freikorps zum „größten Teil“ und bei manchen Einheiten gar bis zu drei Vierteln aus der Arbeiterschaft rekrutierten, während Weltkriegsoffiziere und Studenten geringer vertreten waren als es die bisherige Literatur suggeriert. Die Freikorps waren kein Sammelbecken ehemaliger kriegserfahrener Offiziere, auch wenn diese naturgemäß vielfach das Kommando führten. Soziale Abstiegsängste ließen sich ebenfalls nicht als ausschlaggebendes Motiv für den Eintritt in ein Freikorps ausmachen. In konfessioneller Hinsicht bemerkenswert ist, dass auch Juden den Freikorps in etwa dem Umfang beitraten, wie es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprach, was Pomplun für Oberschlesien unter anderem mit ihrer Angst vor einem eventuellen Statusverlust in den polnisch-deutschen Abstimmungsgebieten erklärt. Statistisch signifikante personale Kontinuitäten zwischen Freikorps und Nationalsozialisten gab es vor allem bei einer kleinen Gruppe von Führungspersonen, nicht jedoch bei den Mannschaftsgraden.
Es fällt allerdings auf, dass die umfassende sozialhistorische Analyse der Freikorps zur wichtigsten Frage ihrer Geschichte nur wenig beiträgt: plausible Erklärungen für deren vielerorts brutales und auch nach Maßgabe der Zeitgenossen extremes Gewalthandeln zu liefern. Christopher Brownings wegweisende Studie zum Reserve-Polizeibataillon 101 aus den frühen 1990er Jahren und die jüngere Gewaltsoziologie Randall Collins‘ legen nahe, weniger die soziale Verortung der Täter als die Dynamik ihrer Interaktion sowie die Kameradschaftserwartungen in einem als feindlich erfahrenen Umgebung als entscheidende Triebfedern für deren Gewalt in den Mittelpunkt zu rücken.
Wie Brownings Holocausttäter, so ließen sich auch die meisten Freikorpsangehörigen bei Pomplun als „ganz normale Männer“ charakterisieren. Kaum überraschend waren sie jünger als der Durchschnitt der Bevölkerung, in anderer Hinsicht aber ein recht repräsentativer Querschnitt durch die damalige männliche Gesellschaft. Ohne Zweifel gab es unter den Freikorpskämpfern verrohte Sadisten, chauvinistische Ultranationalisten und brutalisierte „Frontschweine“, die mit dem Zivilleben nichts mehr anfangen konnten. Statistisch gesehen bildeten sie aber eine Minderheit. Als die Tendenzliteratur der 1920er und 1930er Jahre die „Landsknechte“ der Freikorps als moderne Desperados inszenierte, ging die Mehrheit ihrer ehemaligen Mitglieder längst wieder zivilen Berufen nach und strömte auch keinesfalls überdurchschnittlich in die NSDAP und ihre Gruppierungen.
Die brutale Freikorpsgewalt wurde durch das Fehlen einer glaubwürdigen Strafandrohung maßgeblich gefördert. Während national gesinnte Zeitgenossen die Kämpfe im Baltikum oder in Oberschlesien noch als Heldentaten zur Verteidigung des „deutschen Ostens“ überhöhen konnten, waren die vielfach willkürlichen Verhaftungen, Misshandlungen und standrechtlichen Erschießungen von Zivilisten in Berlin, München und anderen Großstädten nicht zu rechtfertigende Gewaltexzesse. Dass führende Sozialdemokraten wie Friedrich Ebert und Noske im Bündnis mit dem Ersten Generalquartiermeister Wilhelm Groener auch in Kenntnis der zahlreich getöteten Zivilisten wenig unternahmen, solche Verbrechen einzudämmen und stattdessen die Selbstermächtigung der Freikorps und ihr „Durchgreifen“ gegen die kommunistische Gefahr „ohne Pardon“ unterstützten, war ein Geburtsmakel der Weimarer Republik, den sie nie wieder loswurde.
Wenn es in den folgenden Jahren vereinzelt zu Gerichtsprozessen gegen Freikorpsführer kam, so konnten sich die Angeklagten erfolgreich auf einen vermeintlichen Befehlsnotstand berufen. Die gescheiterte juristische Aufarbeitung der Freikorpsgewalt, die vor allem der Heidelberger Privatdozent und Pazifist Emil Julius Gumbel bereits in den 1920er Jahren öffentlich angeprangert hatte, streift das Buch allerdings nur am Rande.
Pompluns überzeugendes Plädoyer für eine sozialhistorische Analyse der Freikorps stellt manche empirisch mitunter problematische Annahme der bisherigen Forschung in Frage, ohne den bisherigen Interpretationsrahmen grundlegend herauszufordern. Über die Geschichte der Freikorps wie der transnationalen paramilitärischen Gewalt im Europa nach dem Ersten Weltkrieg muss weiter geforscht und gestritten werden. Dass es sich lohnt, zeigt dieses Buch.
Daniel Siemens ist Professor für europäische Geschichte an der Newcastle University in Großbritannien. Im Jahr 2022 erschien von ihm das Buch „Hinter der Weltbühne. Hermann Budzislawski und das 20. Jahrhundert“ (Aufbau-Verlag).
Gustav Noskes „Schießerlass“
wertet der Autor als
Initialzündung
Dass die Sozialdemokraten
die Gewalt duldeten, gehört
zum Geburtsmakel der Republik
Jan-Philipp Pomplun:
Deutsche Freikorps.
Sozialgeschichte und
Kontinuitäten (para)militärischer Gewalt zwischen Weltkrieg, Revolution und Nationalsozialismus.
Vandenhoeck&Ruprecht Verlage, Göttingen 2022. 354 Seiten, 65 Euro.
Vor allem Arbeiter, viele ohne Fronterfahrung: In einer Rekrutierungsstelle des Freikorps „Hülsen“ nehmen Freikorps-Soldaten die Meldungen zum Dienst entgegen.
Foto: Scherl/SZ Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
normale Männer
Freikorps führten zu Beginn der Weimarer Republik
einen Vernichtungsfeldzug gegen radikale Linke.
Jan-Philipp Pomplun hat erforscht, warum sie zum
Gewaltexzess neigten – mit überraschenden Befunden
VON DANIEL SIEMENS
Zu den berüchtigtsten Akteuren der Revolutionsjahre 1918-1919 gehörten die paramilitärischen Freikorps. Diese mobilen Freiwilligeneinheiten mit einer Gesamtstärke von 200 000 bis 250 000 Mann, die mancherorts bis 1923 aktiv blieben, waren nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam organisiert und wurden von erfahrenen Militärführern befehligt. Obwohl ihre politische Zuverlässigkeit zweifelhaft war, bedienten sich die neuen Machthaber wiederholt dieser Kampfverbände, um kommunistische Aufstände im Inneren der jungen Republik niederzuschlagen oder Gebietsansprüche an den Ostgrenzen des Reiches durchzusetzen.
Spätestens seit Erscheinen von Klaus Theweleits zweibändiger Pionierstudie „Männerphantasien“ Ende der 1970er Jahre haftet den Freikorps ein überaus schlechter Ruf an, doch liegen überraschend wenige gesicherte historische Informationen über diese Einheiten vor, was sich unter anderem mit der schwierigen Quellenlage erklärt. Vor diesem Hintergrund leistet Jan-Philipp Pompluns Buch, das auf seiner Berliner Dissertationsschrift beruht, sozialgeschichtliche Grundlagenarbeit. Sie hilft, gängige Hypothesen über die „Brutalisierung“ der Freiwilligenverbände aufgrund der vorangegangenen Fronterfahrung ihrer Mitglieder sowie oftmals angenommene, aber wenig belegte Kontinuitäten zwischen antirevolutionärer Bürgerkriegsgewalt und dem Aufstieg und Herrschaft der Nationalsozialisten zu hinterfragen.
Pomplun beginnt seine Untersuchung mit einer kurze Ereignisgeschichte der Freikorps und ihrer Einsätze, ehe er in einem zweiten Kapitel die soziale Zusammensetzung dieser Einheiten im Detail untersucht. Die von den Freikorps ausgeübte Gewalt steht im Zentrum des dritten Kapitels. Der Autor betont, dass sie keinesfalls vorschnell mit einer Brutalisierung der Soldaten während des Ersten Weltkriegs erklärt werden kann, zumal viele Freikorpskämpfer gar keine Fronterfahrung hatten. Vielmehr sei der „Schießerlass“ des ersten Reichswehrministers Gustav Noske (SPD) vom 9. März 1919 die „Initialzündung für die massenhafte Gewalt der Regierungstruppen und damit auch der Freikorps“ gewesen. Auch wenn der Befehl bereits eine Woche später aufgehoben wurde, begingen die Freikorps auch in den folgenden Monaten zahlreiche Massaker an Zivilisten. Jeder, der mit einer Waffe in der Hand angetroffen wurde oder nur im Ruf stand, ein Sympathisant der Kommunisten zu sein, musste um sein Leben fürchten.
Ein Kommandant des Freikorps Lützow brachte das Vorgehen so auf den Punkt: „Lieber ein paar Unschuldige mehr an die Wand, als nur einen einzigen Schuldigen gehen zu lassen.“ Auch Regierungsstellen billigten, dass die Truppen auf Warn- und Schreckschüsse verzichteten und ohne Vorwarnung auf Demonstranten und Zivilisten schossen.
Allein bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik Anfang Mai 1919 wurden Hunderte Zivilisten getötet. Ähnlich viele Opfer waren zuvor in Berlin und im Jahr darauf beim Kampf gegen die „Rote Ruhrarmee“ zu beklagen; de facto führten die Einheiten einen Vernichtungsfeldzug gegen die radikale politische Linke und ihre mutmaßlichen Unterstützer. Auch im Baltikum und in dem zwischen Polen und dem Deutschen Reich umstrittenen Oberschlesien plünderten, brandschatzten und mordeten die Freikorps, zumal sie hier noch weniger als im Reich eine Strafverfolgung zu befürchten hatten. Angesichts dieser mitunter „entgrenzten“ Gewalt fragt der Autor im abschließenden vierten Kapitel nach möglichen Kontinuitäten zum Nationalsozialismus.
Pompluns Analyse liegt die systematische, quantitative Auswertung der Stammrollen von elf Freikorps aus dem süddeutschen Raum zu Grunde, die für knapp 20 000 Mann repräsentativ ist. Obwohl die Gesamtzahl der Freikorpskämpfer zehnmal größer war, sollen die Ergebnisse auch Anhaltspunkte für die Zusammensetzung jener norddeutschen Einheiten geben, deren Unterlagen beim Brand des Heeresarchivs in Potsdam im April 1945 weitgehend vernichtet wurden. Zum untersuchten Sample gehören bekannte Namen wie das „Freikorps Oberland“, aber auch weitgehend vergessene Einheiten wie die in Franken aufgestellte „Eiserne Schar Berthold“ oder die aus Baden stammende „Bauabteilung Mauritius“. Ihre Mitgliederlisten wurden beständig aktualisiert; sie enthalten Einträge zu Familienstand, Eltern, Dienstgrad, Beförderungen, Zivilberuf und Konfessionszugehörigkeit. Diese Datenfülle ermöglicht es Pomplun, die schichtenmäßige und generationelle Zusammensetzung der von ihm ausgewählten Freikorps erstmals genau zu bestimmen.
Während die Auswertung die meisten Annahmen der bisherigen Forschung im Kern bestätigt und partiell weiter ausdifferenziert, präsentiert Pomplun auch einige unerwartete Ergebnisse. Am meisten überrascht, dass sich die Freikorps zum „größten Teil“ und bei manchen Einheiten gar bis zu drei Vierteln aus der Arbeiterschaft rekrutierten, während Weltkriegsoffiziere und Studenten geringer vertreten waren als es die bisherige Literatur suggeriert. Die Freikorps waren kein Sammelbecken ehemaliger kriegserfahrener Offiziere, auch wenn diese naturgemäß vielfach das Kommando führten. Soziale Abstiegsängste ließen sich ebenfalls nicht als ausschlaggebendes Motiv für den Eintritt in ein Freikorps ausmachen. In konfessioneller Hinsicht bemerkenswert ist, dass auch Juden den Freikorps in etwa dem Umfang beitraten, wie es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprach, was Pomplun für Oberschlesien unter anderem mit ihrer Angst vor einem eventuellen Statusverlust in den polnisch-deutschen Abstimmungsgebieten erklärt. Statistisch signifikante personale Kontinuitäten zwischen Freikorps und Nationalsozialisten gab es vor allem bei einer kleinen Gruppe von Führungspersonen, nicht jedoch bei den Mannschaftsgraden.
Es fällt allerdings auf, dass die umfassende sozialhistorische Analyse der Freikorps zur wichtigsten Frage ihrer Geschichte nur wenig beiträgt: plausible Erklärungen für deren vielerorts brutales und auch nach Maßgabe der Zeitgenossen extremes Gewalthandeln zu liefern. Christopher Brownings wegweisende Studie zum Reserve-Polizeibataillon 101 aus den frühen 1990er Jahren und die jüngere Gewaltsoziologie Randall Collins‘ legen nahe, weniger die soziale Verortung der Täter als die Dynamik ihrer Interaktion sowie die Kameradschaftserwartungen in einem als feindlich erfahrenen Umgebung als entscheidende Triebfedern für deren Gewalt in den Mittelpunkt zu rücken.
Wie Brownings Holocausttäter, so ließen sich auch die meisten Freikorpsangehörigen bei Pomplun als „ganz normale Männer“ charakterisieren. Kaum überraschend waren sie jünger als der Durchschnitt der Bevölkerung, in anderer Hinsicht aber ein recht repräsentativer Querschnitt durch die damalige männliche Gesellschaft. Ohne Zweifel gab es unter den Freikorpskämpfern verrohte Sadisten, chauvinistische Ultranationalisten und brutalisierte „Frontschweine“, die mit dem Zivilleben nichts mehr anfangen konnten. Statistisch gesehen bildeten sie aber eine Minderheit. Als die Tendenzliteratur der 1920er und 1930er Jahre die „Landsknechte“ der Freikorps als moderne Desperados inszenierte, ging die Mehrheit ihrer ehemaligen Mitglieder längst wieder zivilen Berufen nach und strömte auch keinesfalls überdurchschnittlich in die NSDAP und ihre Gruppierungen.
Die brutale Freikorpsgewalt wurde durch das Fehlen einer glaubwürdigen Strafandrohung maßgeblich gefördert. Während national gesinnte Zeitgenossen die Kämpfe im Baltikum oder in Oberschlesien noch als Heldentaten zur Verteidigung des „deutschen Ostens“ überhöhen konnten, waren die vielfach willkürlichen Verhaftungen, Misshandlungen und standrechtlichen Erschießungen von Zivilisten in Berlin, München und anderen Großstädten nicht zu rechtfertigende Gewaltexzesse. Dass führende Sozialdemokraten wie Friedrich Ebert und Noske im Bündnis mit dem Ersten Generalquartiermeister Wilhelm Groener auch in Kenntnis der zahlreich getöteten Zivilisten wenig unternahmen, solche Verbrechen einzudämmen und stattdessen die Selbstermächtigung der Freikorps und ihr „Durchgreifen“ gegen die kommunistische Gefahr „ohne Pardon“ unterstützten, war ein Geburtsmakel der Weimarer Republik, den sie nie wieder loswurde.
Wenn es in den folgenden Jahren vereinzelt zu Gerichtsprozessen gegen Freikorpsführer kam, so konnten sich die Angeklagten erfolgreich auf einen vermeintlichen Befehlsnotstand berufen. Die gescheiterte juristische Aufarbeitung der Freikorpsgewalt, die vor allem der Heidelberger Privatdozent und Pazifist Emil Julius Gumbel bereits in den 1920er Jahren öffentlich angeprangert hatte, streift das Buch allerdings nur am Rande.
Pompluns überzeugendes Plädoyer für eine sozialhistorische Analyse der Freikorps stellt manche empirisch mitunter problematische Annahme der bisherigen Forschung in Frage, ohne den bisherigen Interpretationsrahmen grundlegend herauszufordern. Über die Geschichte der Freikorps wie der transnationalen paramilitärischen Gewalt im Europa nach dem Ersten Weltkrieg muss weiter geforscht und gestritten werden. Dass es sich lohnt, zeigt dieses Buch.
Daniel Siemens ist Professor für europäische Geschichte an der Newcastle University in Großbritannien. Im Jahr 2022 erschien von ihm das Buch „Hinter der Weltbühne. Hermann Budzislawski und das 20. Jahrhundert“ (Aufbau-Verlag).
Gustav Noskes „Schießerlass“
wertet der Autor als
Initialzündung
Dass die Sozialdemokraten
die Gewalt duldeten, gehört
zum Geburtsmakel der Republik
Jan-Philipp Pomplun:
Deutsche Freikorps.
Sozialgeschichte und
Kontinuitäten (para)militärischer Gewalt zwischen Weltkrieg, Revolution und Nationalsozialismus.
Vandenhoeck&Ruprecht Verlage, Göttingen 2022. 354 Seiten, 65 Euro.
Vor allem Arbeiter, viele ohne Fronterfahrung: In einer Rekrutierungsstelle des Freikorps „Hülsen“ nehmen Freikorps-Soldaten die Meldungen zum Dienst entgegen.
Foto: Scherl/SZ Photo
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2023Viele Rekruten stammten aus der Arbeiterschaft
Jan-Philipp Pomplun zeichnet ein neues Sozialprofil deutscher Freikorps nach dem Ersten Weltkrieg
Für den "neuen Typus Freikorpskämpfer ist es vollkommen belanglos, aus welchem gesellschaftlichen Lager er stammte", schrieb Ernst von Salomon 1936. Damals waren die paramilitärischen Verbände, deren gewaltsame Interventionen die frühen Jahre der Weimarer Republik geprägt hatten, gerade erst Geschichte geworden. Salomon verarbeitete seine Erfahrungen als Freikorpskämpfer in Deutschland, im Baltikum, in Oberschlesien und als Helfer bei der Ermordung Walther Rathenaus in mehreren Büchern - am erfolgreichsten in seinem autobiographischen Bestseller-Roman "Der Fragebogen" von 1951.
Sein Desinteresse an einem genaueren sozialhistorischen Blick auf das Personal der Kampfverbände hat die Geschichtswissenschaft lange geteilt. Wenn die soziale Zusammensetzung der paramilitärischen Einheiten überhaupt zur Sprache kommt, dominieren pauschale Aussagen, die weniger auf datengestützten Untersuchungen als auf vorgefassten Meinungen beruhen. Danach erscheinen die Freikorps vor allem als Sammelbecken ausgemusterter Weltkriegsoffiziere, vom sozialen Abstieg bedrohter Mittelständler und militaristischer Studenten, die die wegen ihrer Jugend verpasste Fronterfahrung kompensieren wollten.
Die Arbeiterschaft hingegen gilt als selbstverständliche Antagonistin der Freikorps. Das ist auf den ersten Blick plausibel: Innerhalb der Reichsgrenzen wurden die Freikorps von der sozialdemokratischen Regierung vor allem eingesetzt, um aufständische Arbeiter - meistens aus dem linksradikalen Spektrum - zu bekämpfen. Davon ausgehend setzen viele Historiker voraus, dass auch die große Mehrheit der Arbeiter, die weder Kommunisten noch in solche Auseinandersetzungen involviert waren, die Freikorps ablehnte.
Jan-Philipp Pomplun nimmt in seinem Buch eine längst überfällige Überprüfung dieser Einschätzungen vor und beschreitet dafür neue Wege: Als Quellen dienen ihm die Stammrollen - Mitgliederverzeichnisse mit Angaben zu Alter, Ausbildung, Beruf und anderen Merkmalen - von elf Freikorps aus Bayern, Baden und Württemberg, die an allen wichtigen Schauplätzen zum Einsatz kamen. Organisiert waren hier fast 20.000 Männer, was geschätzt einem knappen Zehntel aller Freikorpsmitglieder entspricht. Pompluns unmittelbare Datenbasis bildet eine diesem Material entnommene repräsentative Stichprobe mit den Angaben zu fast 3200 Kämpfern. Nord- und mitteldeutsche Freikorps mussten außen vor bleiben, weil zu ihnen keine quantitativ vergleichbaren Informationen vorliegen.
Den möglichen Einwand, dass mit der geographischen auch eine soziologische Schlagseite einhergehen könnte, weist der Autor mit guten Gründen zurück: Dadurch dass die berücksichtigten Gebiete sehr verschiedenartige, sowohl landwirtschaftlich als auch industriell geprägte Regionen umfassen, sind sie in sozialer und ökonomischer Hinsicht hinreichend repräsentativ für das gesamte Reich.
Pompluns Ergebnisse zeichnen ein neues Bild vom sozialen Profil der Freikorps: In ihnen spielten weder Offiziere noch Kadetten oder deklassierte Mittelschichtangehörige eine zahlenmäßig hervorstechende Rolle. Dasselbe gilt für die Studenten. Diejenigen, die sich paramilitärisch betätigen wollten, taten das vor allem als Zeitfreiwillige unter dem Kommando lokaler Reichswehrstellen. Dort konnten sie - anders als in den Freikorps - ihre Anführer wählen und zudem weiterhin studieren, weil sie nur periodisch Dienst leisteten.
Stattdessen rekrutierten sich die Freikorps in erster Linie aus der Arbeiterschaft, die mit 62 Prozent den weitaus größten Anteil bildete und gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil sogar überrepräsentiert war. Ob wirtschaftliche Not den Hauptantrieb bildete, lässt sich nicht pauschal sagen, da die Lage der Arbeiter bei Kriegsende je nach Branche sehr unterschiedlich war. Diejenigen, die den Freikorps beitraten, stellten sich damit jedenfalls nicht außerhalb ihres sozialmoralischen Milieus. Vielmehr folgten sie der SPD-Regierung, die sie genau dazu aufrief und dabei von den Gewerkschaften und teilweise auch von Arbeiter- und Soldatenräten und der USPD, der Linksabspaltung der SPD, unterstützt wurde.
Die vermeintlich arbeiterfeindlichen Freikorps gelten in Teilen der Forschung zugleich als Vorfeldorganisationen des Nationalsozialismus. Tatsächlich spielten etliche Freikorpsmänner Schlüsselrollen bei der Herausbildung der NS-Organisationen. Doch für die Masse der Mitglieder gab es keine solche Kontinuität: Nur etwa ein Viertel von ihnen hatte später das Parteibuch der NSDAP. Das entspricht dem Anteil der Parteigenossen in der damaligen männlichen Bevölkerung. In noch geringerem Maß traten Freikorpsmitglieder der SA und der SS bei. Hier liegen die Werte bei zwei und einem Prozent. Viele Freikorpseinsätze waren durch eine beträchtliche Brutalität bestimmt, die keinen Unterschied zwischen Kombattanten und Zivilisten machte. In der Forschung wird die These vertreten, dass die vorausgegangenen Fronterfahrungen im Stellungskrieg eine Wurzel dieser Entgrenzung der Gewalt bilden. Pomplun kann nachweisen, dass vierzig Prozent der Freikorpsmitglieder an der Front gewesen waren; weitere dreißig Prozent hatten keine Fronterfahrung und für den großen Rest liegen keine Angaben vor. Aus diesen Zahlen folgt allerdings nicht viel, weil sie nichts über konkrete Gewalterlebnisse und deren mentale Folgen aussagen. Der Autor verweist überdies darauf, dass die Mehrzahl der Veteranen sich friedlich, teilweise auch friedensbewegt, wieder in die Zivilgesellschaft eingliederte.
Eine Hauptursache für Massenerschießungen und andere Greueltaten sieht Pomplun neben der Agitation in der weitgehenden Abwesenheit staatlich-rechtlicher Kontrolle und der daraus folgenden Straflosigkeit der Übergriffe. Das wird den Abläufen in Deutschland, wo der "weiße Terror" der Freikorps den von ihnen bekämpften "roten Terror" deutlich überstieg, gerecht. Für die Einsätze in Oberschlesien und im Baltikum hingegen ist zusätzlich in Rechnung zu stellen, dass die Freikorps hier gegen Feinde - polnische Nationalisten und bolschewistische Einheiten - kämpften, die ihnen an Brutalität nicht nachstanden.
Pomplun lässt das zwar nicht unerwähnt, aber welche Rolle die Dynamik von Gewalt und Gegengewalt hier spielte, wird nicht recht deutlich. Die dafür nötigen Fallstudien hätten den sozialgeschichtlichen Rahmen des Buches wohl auch gesprengt. Dem Erkenntnisgewinn, den diese erhellende Arbeit liefert, tut das keinen Abbruch. WOLFGANG KRISCHKE
Jan-Philipp Pomplun: "Deutsche Freikorps". Sozialgeschichte und Kontinuitäten (para)militärischer Gewalt zwischen Weltkrieg, Revolution und Nationalsozialismus.
Vandenhoek & Ruprecht Verlag, Göttingen 2023. 354 S., Abb., geb., 65,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jan-Philipp Pomplun zeichnet ein neues Sozialprofil deutscher Freikorps nach dem Ersten Weltkrieg
Für den "neuen Typus Freikorpskämpfer ist es vollkommen belanglos, aus welchem gesellschaftlichen Lager er stammte", schrieb Ernst von Salomon 1936. Damals waren die paramilitärischen Verbände, deren gewaltsame Interventionen die frühen Jahre der Weimarer Republik geprägt hatten, gerade erst Geschichte geworden. Salomon verarbeitete seine Erfahrungen als Freikorpskämpfer in Deutschland, im Baltikum, in Oberschlesien und als Helfer bei der Ermordung Walther Rathenaus in mehreren Büchern - am erfolgreichsten in seinem autobiographischen Bestseller-Roman "Der Fragebogen" von 1951.
Sein Desinteresse an einem genaueren sozialhistorischen Blick auf das Personal der Kampfverbände hat die Geschichtswissenschaft lange geteilt. Wenn die soziale Zusammensetzung der paramilitärischen Einheiten überhaupt zur Sprache kommt, dominieren pauschale Aussagen, die weniger auf datengestützten Untersuchungen als auf vorgefassten Meinungen beruhen. Danach erscheinen die Freikorps vor allem als Sammelbecken ausgemusterter Weltkriegsoffiziere, vom sozialen Abstieg bedrohter Mittelständler und militaristischer Studenten, die die wegen ihrer Jugend verpasste Fronterfahrung kompensieren wollten.
Die Arbeiterschaft hingegen gilt als selbstverständliche Antagonistin der Freikorps. Das ist auf den ersten Blick plausibel: Innerhalb der Reichsgrenzen wurden die Freikorps von der sozialdemokratischen Regierung vor allem eingesetzt, um aufständische Arbeiter - meistens aus dem linksradikalen Spektrum - zu bekämpfen. Davon ausgehend setzen viele Historiker voraus, dass auch die große Mehrheit der Arbeiter, die weder Kommunisten noch in solche Auseinandersetzungen involviert waren, die Freikorps ablehnte.
Jan-Philipp Pomplun nimmt in seinem Buch eine längst überfällige Überprüfung dieser Einschätzungen vor und beschreitet dafür neue Wege: Als Quellen dienen ihm die Stammrollen - Mitgliederverzeichnisse mit Angaben zu Alter, Ausbildung, Beruf und anderen Merkmalen - von elf Freikorps aus Bayern, Baden und Württemberg, die an allen wichtigen Schauplätzen zum Einsatz kamen. Organisiert waren hier fast 20.000 Männer, was geschätzt einem knappen Zehntel aller Freikorpsmitglieder entspricht. Pompluns unmittelbare Datenbasis bildet eine diesem Material entnommene repräsentative Stichprobe mit den Angaben zu fast 3200 Kämpfern. Nord- und mitteldeutsche Freikorps mussten außen vor bleiben, weil zu ihnen keine quantitativ vergleichbaren Informationen vorliegen.
Den möglichen Einwand, dass mit der geographischen auch eine soziologische Schlagseite einhergehen könnte, weist der Autor mit guten Gründen zurück: Dadurch dass die berücksichtigten Gebiete sehr verschiedenartige, sowohl landwirtschaftlich als auch industriell geprägte Regionen umfassen, sind sie in sozialer und ökonomischer Hinsicht hinreichend repräsentativ für das gesamte Reich.
Pompluns Ergebnisse zeichnen ein neues Bild vom sozialen Profil der Freikorps: In ihnen spielten weder Offiziere noch Kadetten oder deklassierte Mittelschichtangehörige eine zahlenmäßig hervorstechende Rolle. Dasselbe gilt für die Studenten. Diejenigen, die sich paramilitärisch betätigen wollten, taten das vor allem als Zeitfreiwillige unter dem Kommando lokaler Reichswehrstellen. Dort konnten sie - anders als in den Freikorps - ihre Anführer wählen und zudem weiterhin studieren, weil sie nur periodisch Dienst leisteten.
Stattdessen rekrutierten sich die Freikorps in erster Linie aus der Arbeiterschaft, die mit 62 Prozent den weitaus größten Anteil bildete und gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil sogar überrepräsentiert war. Ob wirtschaftliche Not den Hauptantrieb bildete, lässt sich nicht pauschal sagen, da die Lage der Arbeiter bei Kriegsende je nach Branche sehr unterschiedlich war. Diejenigen, die den Freikorps beitraten, stellten sich damit jedenfalls nicht außerhalb ihres sozialmoralischen Milieus. Vielmehr folgten sie der SPD-Regierung, die sie genau dazu aufrief und dabei von den Gewerkschaften und teilweise auch von Arbeiter- und Soldatenräten und der USPD, der Linksabspaltung der SPD, unterstützt wurde.
Die vermeintlich arbeiterfeindlichen Freikorps gelten in Teilen der Forschung zugleich als Vorfeldorganisationen des Nationalsozialismus. Tatsächlich spielten etliche Freikorpsmänner Schlüsselrollen bei der Herausbildung der NS-Organisationen. Doch für die Masse der Mitglieder gab es keine solche Kontinuität: Nur etwa ein Viertel von ihnen hatte später das Parteibuch der NSDAP. Das entspricht dem Anteil der Parteigenossen in der damaligen männlichen Bevölkerung. In noch geringerem Maß traten Freikorpsmitglieder der SA und der SS bei. Hier liegen die Werte bei zwei und einem Prozent. Viele Freikorpseinsätze waren durch eine beträchtliche Brutalität bestimmt, die keinen Unterschied zwischen Kombattanten und Zivilisten machte. In der Forschung wird die These vertreten, dass die vorausgegangenen Fronterfahrungen im Stellungskrieg eine Wurzel dieser Entgrenzung der Gewalt bilden. Pomplun kann nachweisen, dass vierzig Prozent der Freikorpsmitglieder an der Front gewesen waren; weitere dreißig Prozent hatten keine Fronterfahrung und für den großen Rest liegen keine Angaben vor. Aus diesen Zahlen folgt allerdings nicht viel, weil sie nichts über konkrete Gewalterlebnisse und deren mentale Folgen aussagen. Der Autor verweist überdies darauf, dass die Mehrzahl der Veteranen sich friedlich, teilweise auch friedensbewegt, wieder in die Zivilgesellschaft eingliederte.
Eine Hauptursache für Massenerschießungen und andere Greueltaten sieht Pomplun neben der Agitation in der weitgehenden Abwesenheit staatlich-rechtlicher Kontrolle und der daraus folgenden Straflosigkeit der Übergriffe. Das wird den Abläufen in Deutschland, wo der "weiße Terror" der Freikorps den von ihnen bekämpften "roten Terror" deutlich überstieg, gerecht. Für die Einsätze in Oberschlesien und im Baltikum hingegen ist zusätzlich in Rechnung zu stellen, dass die Freikorps hier gegen Feinde - polnische Nationalisten und bolschewistische Einheiten - kämpften, die ihnen an Brutalität nicht nachstanden.
Pomplun lässt das zwar nicht unerwähnt, aber welche Rolle die Dynamik von Gewalt und Gegengewalt hier spielte, wird nicht recht deutlich. Die dafür nötigen Fallstudien hätten den sozialgeschichtlichen Rahmen des Buches wohl auch gesprengt. Dem Erkenntnisgewinn, den diese erhellende Arbeit liefert, tut das keinen Abbruch. WOLFGANG KRISCHKE
Jan-Philipp Pomplun: "Deutsche Freikorps". Sozialgeschichte und Kontinuitäten (para)militärischer Gewalt zwischen Weltkrieg, Revolution und Nationalsozialismus.
Vandenhoek & Ruprecht Verlag, Göttingen 2023. 354 S., Abb., geb., 65,- Euro.
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»Pompluns überzeugendes Plädoyer für eine sozialhistorische Analyse der Freikorps stellt manche empirisch mitunter problematische Annahme der bisherigen Forschung in Frage, ohne den bisherigen Interpretationsrahmen grundlegend herauszufordern. Über die Geschichte der Freikorps wie der transnationalen paramilitärischen Gewalt im Europa nach dem Ersten Weltkrieg muss weiter geforscht und gestritten werden. Dass es sich lohnt, zeigt dieses Buch.«
Prof. Dr. Daniel Siemens, Süddeutsche Zeitung , 09.01.2023
»Pompluns Studie ist somit erstens ein wichtiges Korrektiv zu einigen lange dominanten Narrativen, insbesondere hinsichtlich der Annahme, in den Freikorps hätten Weltkriegsoffiziere und Studenten dominiert. Zweitens erlaubt seine Analyse personeller Kontinuitäten hin zu NSDAP, SA und SS eine klarere Aussage zu den Grenzen eines Ansatzes, der die Freikorps in erster Linie als Personalreservoir des späteren Nationalsozialismus deutete. Pompluns Buch ist somit ein wichtiger Beitrag zur Gewaltgeschichte der Weimarer Republik und zur Vorgeschichte der nationalsozialistischen Diktatur.«
Robert Gerwarth, Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 2023
»Pomplun ist es gelungen, mit der empirischen Aufarbeitung der sozialen Zusammensetzung der Freikorps einen Beitrag in der Freikorpsforschung zu leisten.«
Alexander Schwarz, H-Soz-Kult, 05.12.2023
»[...] aber fest steht, dass Pompluns Arbeit ein neues Grundlagenwerk zur Geschichte der Freikorps darstellt, welches sicherlich einen Ausgangspunkt weiterer Forschungen bilden wird.«
Sebastian Elsbach, Neue Politische Literatur 01/2024
»Mit seiner lesenswerten Studie leistet Jan-Philipp Pomplun einen wichtigen Beitrag zu einer differenzierten Bewertung der deutschen Paramilitärs. Sie zeigt neue Perspektiven auf und bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für künftige Forschungen.«
Daniel Schmidt, Historische Zeitschrift, Band 319/2024
Prof. Dr. Daniel Siemens, Süddeutsche Zeitung , 09.01.2023
»Pompluns Studie ist somit erstens ein wichtiges Korrektiv zu einigen lange dominanten Narrativen, insbesondere hinsichtlich der Annahme, in den Freikorps hätten Weltkriegsoffiziere und Studenten dominiert. Zweitens erlaubt seine Analyse personeller Kontinuitäten hin zu NSDAP, SA und SS eine klarere Aussage zu den Grenzen eines Ansatzes, der die Freikorps in erster Linie als Personalreservoir des späteren Nationalsozialismus deutete. Pompluns Buch ist somit ein wichtiger Beitrag zur Gewaltgeschichte der Weimarer Republik und zur Vorgeschichte der nationalsozialistischen Diktatur.«
Robert Gerwarth, Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 2023
»Pomplun ist es gelungen, mit der empirischen Aufarbeitung der sozialen Zusammensetzung der Freikorps einen Beitrag in der Freikorpsforschung zu leisten.«
Alexander Schwarz, H-Soz-Kult, 05.12.2023
»[...] aber fest steht, dass Pompluns Arbeit ein neues Grundlagenwerk zur Geschichte der Freikorps darstellt, welches sicherlich einen Ausgangspunkt weiterer Forschungen bilden wird.«
Sebastian Elsbach, Neue Politische Literatur 01/2024
»Mit seiner lesenswerten Studie leistet Jan-Philipp Pomplun einen wichtigen Beitrag zu einer differenzierten Bewertung der deutschen Paramilitärs. Sie zeigt neue Perspektiven auf und bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für künftige Forschungen.«
Daniel Schmidt, Historische Zeitschrift, Band 319/2024