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Der zweite Band von Heinrich August Winklers deutscher Geschichte behandelt die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur, die über vier Jahrzehnte, in denen Deutschland in zwei Staaten geteilt war, und schließlich die Wiedervereinigung. Es ist eine Geschichte von Zusammenbrüchen und Neuanfängen, von Diktatur und Demokratie und auch des Nachdenkens über Deutschland - eine dramatische Geschichte, anschaulich und spannend dargestellt von einem Historiker und Publizisten, der auch in seinem neuesten Buch dem Motto folgt: Erzählen heißt erklären, warum es so gekommen ist. Der zweite Band…mehr

Produktbeschreibung
Der zweite Band von Heinrich August Winklers deutscher Geschichte behandelt die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur, die über vier Jahrzehnte, in denen Deutschland in zwei Staaten geteilt war, und schließlich die Wiedervereinigung. Es ist eine Geschichte von Zusammenbrüchen und Neuanfängen, von Diktatur und Demokratie und auch des Nachdenkens über Deutschland - eine dramatische Geschichte, anschaulich und spannend dargestellt von einem Historiker und Publizisten, der auch in seinem neuesten Buch dem Motto folgt: Erzählen heißt erklären, warum es so gekommen ist.
Der zweite Band von Heinrich August Winklers deutscher Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts beginnt mit der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur im Jahre 1933. Als Hitlers Herrschaft zwölf Jahre später zusammenbrach, ging auch das von Bismarck gegründete Reich unter und mit ihm der noch viel ältere Reichsmythos. Welche Schlüsse zogen die beiden Nachfolgestaaten des Reiches, die Bundesrepublik und die DDR, aus der "deutschen Katastrophe"? Was trennte, was verband die West- und die Ostdeutschen in den vier Jahrzehnten staatlicher Trennung? Ging die wechselseitige Entfremdung so tief, daß man heute, zehn Jahre nach der Wiedervereinigung, von einer Neubildung der deutschen Nation sprechen muß?
Heinrich August Winkler versteht es, seine Leser von der ersten bis zur letzten Seite in Spannung zu halten. Er läßt sie teilhaben an den Entscheidungen, die die weitere Entwicklung prägten. Er zitiert aus den Quellen und verleiht damit seiner Darstellung Farbe und Anschaulichkeit. Er erzählt, um zu erklären, warum es eigentlich so gekommen ist.
Dieses Buch handelt von dem schrecklichsten Kapitel der deutschen Geschichte und seinen Folgen. Eine dieser Folgen war die Teilung des Landes, die ihrerseits bis in die Gegenwart nachwirkt: Das wiedervereinigte Deutschland ist ein Land mit einer gespaltenen politischen Kultur und einer gespaltenen Erinnerung. Winklers deutsche Geschichte zeichnet nach, wie Deutschland wurde, was es heute ist. Der zweite Band enthält auch eine Antwort auf die Frage, von der der erste Band ausgeht: Gab es ihn oder gab es ihn nicht, den umstrittenen "deutschen Sonderweg"?

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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Die Gipfelstürmer vom Piz Perdü
Heinrich August Winkler auf ideengeschichtlicher Bergwanderung / Von Klaus Hildebrand

Heinrich August Winkler verfasst derzeit eine zweibändige Darstellung der deutschen Geschichte im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Erschienen ist jetzt der erste Band, der sich vom Ende des Alten Reiches im Jahre 1806 bis zum Ende der Weimarer Republik im Jahre 1933 erstreckt; im Herbst wird der zweite Teil folgen, der die Entwicklung des "Dritten Reiches" und der geteilten Nation bis zu ihrer Wiedervereinigung im Jahre 1990 zum Gegenstand haben wird.

"Der lange Weg nach Westen" beschreibt den windungsreichen Gang der Deutschen durch die europäische Geschichte vor dem Hintergrund jener drei Grundtatsachen, die die deutsche Geschichte über viele Jahrhunderte bestimmt haben: das mittelalterliche Reich, die Glaubensspaltung im sechzehnten und der Gegensatz zwischen Österreich und Preußen im achtzehnten Jahrhundert. Existenz und Folgen dieser Phänomene bewirkten, dass Deutschland nicht einen mit Frankreich, England oder Spanien vergleichbaren Weg zum modernen Nationalstaat einschlug.

Das Reich zeigte sich durch jene geschichtsmächtigen Eigenheiten charakterisiert, die seine vielumrätselte Zwitterexistenz ausmachten - zwischen Nation und Staat, zwischen Wittenberg und Rom, zwischen Ost und West, zwischen Geist und Macht, zwischen Innerlichkeit und Staatsräson. Trennendes überlagerte seit dem Ausgang des Mittelalters den allmählichen Prozess deutscher Nationsbildung, den Winkler zwischen 1000 und 1500 im Hinblick auf ein durch die Sprache definiertes Gemeinsamkeitsgefühl nachvollzieht. Zwar wurde der Gegensatz der Konfessionen im Augsburger Religionsfrieden von 1555 gemildert, doch ging mit der religiösen Toleranz die politische Spaltung einher. Die stärkste überterritoriale Gemeinsamkeit verband von nun an die Deutschen gleichen Glaubens, aber unterschiedlicher Herrschaft.

Im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, nach dem Ende der preußisch-österreichischen Kriege und vor dem Hintergrund der gemeineuropäischen Entwicklung zum Nationalstaat, setzte eine neue Debatte über Sinn und Notwendigkeit eines deutschen Nationalstaates ein, vorläufig noch auf literarischer und philosophischer Ebene. Sie geriet jedoch, durch das Epochenjahr 1789 in Frankreich und seine bis zum Wiener Kongress währenden Folgen befördert, sehr bald in die Antinomie von Freiheit und Einheit, von Revolution und Tradition, die das gesamte neunzehnte Jahrhundert durchziehen sollte.

Aufs Neue machte sich - im Vergleich mit der englischen Revolution des Siebzehnten und der amerikanischen sowie der französischen Revolution des achtzehnten Jahrhunderts - ein deutsches Spezifikum bemerkbar; seine janusgesichtige Entwicklung hat die Geschichte der Deutschen bis tief in unser Saeculum hinein begleitet: "Der Fortschritt als Fessel", so umschreibt Winkler diesen paradoxen Sachverhalt, den Rudolf Stadelmann einmal so resümiert hat: "Nicht die deutsche Reaktion, sondern der deutsche Fortschritt hat Deutschland gegenüber dem Westen zurückgeworfen." In der Tat: Die Vorbildlichkeit der allgemeinen Verhältnisse in nicht wenigen der deutschen Territorien, die im europäischen Vergleich gar nicht zu verkennen ist, machte die Revolution überflüssig und stabilisierte zugleich so manche Erbschaft, die sich mit voranschreitender Zeit zur Belastung auswuchs.

Das ist die Problemlage zwischen 1830 und 1850, als sich der deutsche Liberalismus, so Winkler, selbst "überforderte" mit seinen ehrgeizigen, ja hypertrophen Zielen, 1848 alles auf einmal zu erreichen: Einheit und Freiheit, Verfassung und Imperium. Danach allerdings, nach den Zäsuren der Revolution von 1848 und dem Ende des Krimkriegs von 1856, brach sich die realistische Einsicht Bahn, dass nur eines nach dem anderen zu haben sei und daher die Einheit der Freiheit wohl vorangehen müsse. Europa sah sich, Gott sei Dank, vor dem tollkühnen Mut derjenigen Liberalen und Demokraten bewahrt, die, auf der äußersten Linken am entschiedensten, nach Krieg und Revolution verlangten, um ihren Geschichtsplan zu verwirklichen: "Der linke Ruf nach dem ganz Europa erfassenden Befreiungskrieg der Völker", beschließt Winkler dieses Kapitel seiner Darstellung, "war ein Ausdruck deutschen intellektuellen Wunschdenkens, bar jeder Rücksicht auf die tatsächlichen Kräfteverhältnisse in den einzelnen Gesellschaften wie zwischen den Staaten und folglich blind für die menschlichen Kosten der eigenen Desperadopolitik."

Bismarck zog aus der historischen Tatsache, dass dem Idealismus des Vormärz der Realismus der zweiten Jahrhunderthälfte folgte, seine Konsequenz: Preußen, wirtschaftlich mit seiner freihändlerischen Orientierung zum Westen gehörig, konstitutionell mit seiner militärischen Verfasstheit nach Osten ausgerichtet, versprach absehbare Aussicht auf jene Einheit der Deutschen, die nicht wenigen Liberalen nach 1848 wie "ein Vorgriff auf die Freiheit ganz Deutschlands" vorkam. Gewiss, nach wie vor gab es auch die anderen im liberalen Lager: Unbeirrt hielten sie am Vorrang der Freiheit fest, verurteilten die Tatsache, dass in Preußen offensichtlich nur die Könige Revolutionen zu machen im Stande schienen, und lehnten die Bewunderung für Bismarck als einen "Götzendienst des Erfolgs" leidenschaftlich ab. Doch für die Mehrheit der deutschen Liberalen war es eben nicht nur eine rhetorische Frage, die einer ihrer führenden Repräsentanten, Ludwig Bamberger, am Ende des Epochenjahres 1866 stellte: "Ist denn die Einheit nicht selbst ein Stück Freiheit?"

Als Bismarck schließlich, nicht zuletzt im Zusammenwirken mit den bürgerlichen Kräften, das Deutsche Reich begründet hatte und tatkräftig zu entwickeln versuchte, als vor allem der Nationalismus zwischen 1870 und 1890 sich von einer linken in eine rechte Sache verwandelte, da war ungeachtet aller Mitwirkung der Liberalen am Bau des modernen Deutschland doch klar, was Winkler bündig feststellt: "Eine Chance zur Parlamentarisierung Deutschlands hat unter Bismarck nie bestanden." Der deutsche Konstitutionalismus, das zeitgenössisch plausible Ergebnis einer langen Entwicklung, blieb aus westlichen und östlichen Verfassungselementen zusammengesetzt, deren problematische Mischung bis in die Existenz der Parteien hinein unübersehbare Wirkungsmacht entfaltete: "So wie Bernstein die Entwicklung der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung mit den Augen englischer Reformer sah, so Rosa Luxemburg mit den Augen einer Revolutionärin, die von den Erfahrungen des Zarenreiches geprägt war."

Auch im wilhelminischen Deutschland, dessen Parlamentarisierungschancen und -tendenzen Winkler nicht unterschätzt, fehlte selbst nach der die innenpolitische Szene erschütternden "Daily Telegraph-Affäre" des Jahres 1908 für eine Parlamentarisierung "eine wesentliche Voraussetzung: eine Reichstagsmehrheit, die ein solches System anstrebte und zu tragen bereit war". Das dauerte im Grunde an, bis sich in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs ein schleichender Verfassungswandel immer stärker bemerkbar machte und das Reich schließlich am 28. Oktober 1918 parlamentarisiert wurde - ungeachtet jener mächtigen Kräfte der Beharrung, die mit allen Mitteln dagegen Front machten: Als Zeugen für diese à la longue verhängnisvolle Tendenz der deutschen Geschichte benennt der Autor Thomas Mann. "Die deutsche Kultur, die er der westlichen Zivilisation entgegenstellte, bedurfte des vom Westen gescholtenen Obrigkeitsstaates, weil dieser sie von der Politik abschirmte."

Dass es trotz der deutschen Oktoberreformen im November des Jahres 1918 zur Revolution kam, hatte mit dem hinhaltenden, ja sich aktivierenden Widerstand jener auf das Hergebrachte orientierten, rückwärts gewandten Kräfte zu tun: "Die Revolution von unten brach aus", diagnostiziert Winkler, "weil die Revolution von oben, in Gestalt des Regimewandels vom Oktober, gescheitert war - gescheitert an militärischer Obstruktion. Die Obstruktion des Militärs und hier in erster Linie der Seekriegsleitung, machte es unmöglich, die Institution der Monarchie aufrechtzuerhalten."

Damit hat die Darstellung die Weimarer Republik erreicht, deren Geschichte der Berliner Historiker so gut kennt wie kaum ein anderer. Dass die deutsche Revolution am Ende des Ersten Weltkriegs nicht das Ausmaß und den Schrecken der französischen oder der russischen annahm, erklärt Winkler in Anlehnung an Eduard Bernstein damit, dass Deutschland, wie schon zuvor in vergleichbaren Entscheidungslagen, einfach zu entwickelt, zu fortschrittlich und zu modern, "bereits zu industrialisiert und zu demokratisch" war, "um eine radikale Umwälzung zu ertragen". Die proletarische Revolution hätte zur Diktatur und nicht zur Demokratie geführt, hätte geradezu abgeschnitten, was dem deutschen Parlamentarismus an evolutionärem Potenzial innewohnte. Daher verhinderte die SPD, dass es zu einer Diktatur des Proletariats kam, die binnen kurzem zu einer Diktatur über das Proletariat geworden wäre. Denn der Gewinn an politischer Freiheit, den die Weimarer Reichsverfassung den Deutschen gab, war ohne Zweifel beträchtlich. Doch die Bewahrung dieser Freiheit in schwierigen Zeiten "war durch die Verfassung nicht gesichert. Die ,demokratischste Demokratie der Welt' war nicht nur durch die Kräfte bedroht, die sie ablehnten und bekämpften. Sie war viel mehr so verfasst, dass sie sich selbst aufheben konnte."

Eben diese Schwäche machten sich die Feinde von links und rechts zu Nutze und bekämpften die "vorbelastete Republik" ohne Erbarmen, bis sie zu existieren aufhörte: "Der 30. Januar 1933", beurteilt Winkler den Untergang der Weimarer Demokratie, "war weder ein zwangsläufiges Ergebnis der vorangegangenen politischen Entwicklung noch ein Zufall . . . Wenn es eine Ursache ,letzter Instanz' für den Zusammenbruch der ersten deutschen Demokratie gibt, liegt sie in der historischen Verschleppung der Freiheitsfrage im 19. Jahrhundert - oder anders gewendet, in der Ungleichzeitigkeit der politischen Modernisierung Deutschlands: der frühen Demokratisierung des Wahlrechts und der verspäteten Demokratisierung des Regierungssystems. Hitler wurde nach 1930 zum Hauptnutznießer dieses Widerspruchs und legte damit das Fundament seines Erfolges."

Heinrich August Winkler hat mit diesem Buch ein Stück großer Geschichtsschreibung vorgelegt, das Deutschlands Eigenweg durch die Jahrhunderte souverän und deutungsmächtig verfolgt: In den ersten Kapiteln ein Zeugnis brillanter Geistesgeschichte, eine ideenhistorische Gipfelwanderung, verbreitert sich die Darstellung vom neunzehnten Jahrhundert an zu einer ebenso systematischen wie detaillierten Geschichte der deutschen Innenpolitik, die ihresgleichen sucht. Sie wird den Ansprüchen des Spezialisten ebenso gerecht, wie sie für ein hoffentlich großes Publikum eine außerordentlich niveauvolle und gut lesbare Synthese bietet. Gewiss, die außenpolitischen Probleme des Landes in der Mitte zwischen den Weltanschauungen und Mächten der Zeit kommen insgesamt zu kurz, hätten, angemessener berücksichtigt, die innenpolitischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge und Verwerfungen Deutschlands noch intensiver erklären können, hätten die deutsche Gemengelage zwischen West und Ost hier und da womöglich anschaulicher illustriert, hätten zudem die spezifische Ideenarmut der durch "Nichts-als-Staatlichkeit" ausgezeichneten und durch den antiquierten Reichsmythos beschwerten Nation zu Tage treten lassen. Doch vielleicht kommen diese Gegenstände im zweiten Band des "Langen Weges nach Westen" stärker zur Sprache. Nach diesem Opus magnum darf man gespannt darauf sein.

Heinrich August Winkler: "Der lange Weg nach Westen". Erster Band: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. Verlag C. H. Beck, München 2000. 652 S., geb., 78,-, bei Bezug beider Bände je Band 68,- DM.

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.09.2000

Am Ende aller Sonderwege
Der Historiker Heinrich August Winkler legt den zweiten Band seiner umfassenden und lebendig erzählten Deutschen Geschichte vor
HEINRICH AUGUST WINKLER: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich” bis zur Wiedervereinigung, Verlag C.H. Beck, München 2000. 660 Seiten, 78 Mark.
Wer Geschichte schreibt, blickt immer vom Jetzt ins Damals. Das gilt im besonderen für jene großen Werke, welche die neuere deutsche Geschichte in den Blick nehmen, also für eine Zeitspanne, die von der französischen Revolution bis heute reicht. Sie umfasst damit eine mehr als zweihundertjährige und in sich höchst widersprüchliche Ereignisfolge. Das mag erklären, dass noch vor zwanzig Jahren ein solches Unterfangen undenkbar war und die Historiografie allenfalls eine Epoche dieser neueren deutschen Geschichte, vorzugsweise die des Dritten Reichs, im Zusammenhang darstellte. Das hat sich seither sehr geändert. Heute liegt eine stattliche Anzahl von großen Schilderungen vor, von denen einige sogar noch über die Epochenscheide der französischen Revolution zurückgehen.
Diese Feststellung soll keineswegs das Verdienst relativieren, das sich der Berliner Historiker Heinrich August Winkler mit seiner zweibändigen Darstellung der deutschen Geschichte, die vom Ende des Alten Reichs bis zur Wiedervereinigung von 1990 reicht, erworben hat. Sie trägt mit Der lange Weg nach Westen einen geradezu thesenartigen Titel – dies wäre früher verpönt gewesen.
Im Unterschied zu jenen anderen, die das „lange” 19. und das „kurze” 20.  Jahrhundert der deutschen Gesichte beschrieben, kann Winkler gewissermaßen von einem Archimedischen Punkt aus urteilen: von der gelungenen deutschen Vereinigung 1990. Das war für ihn ein enormer Vorteil. Denn diese Einheit war immer eine offene Frage gewesen – selbst zu Zeiten des Bismarckreichs von 1871, als ein den Deutschen seit spätestens 1806 anhängiges Problem endlich gelöst zu sein schien.
Verweigerung der Freiheit
Bismarck schuf diese Einheit um den Preis, dass er seiner Schöpfung wider den Geist der Zeit und wider alle politische Vernunft das notwendige Pendant der Freiheit verweigerte. Dieser „Geburtsfehler” trug dann ursächlich zu dem Fluch bei, unter dem die weitere deutsche Geschichte zu leiden hatte – mit der bekannten Folge, dass es um diese Einheit schon 74 Jahre später, nach zwei verheerenden Weltkriegen und dem Jahrhundertverbrechen des Judenmords, für lange Zeit geschehen war.
Dieser Fluch ist nun insofern gebannt, als die „offene” deutsche Frage, in deren Mittelpunkt immer die nationalstaatliche Einheit in Freiheit stand, inzwischen eine Antwort gefunden hat. Die seit zweihundert Jahren anhaltenden querelles allemands gehören damit endgültig der Vergangenheit an, und die Deutschen sind am Ziel ihres langen Wegs nach Westen angelangt. Vom diesem sicheren Standpunkt aus kann Winkler die deutschen Irrungen und Wirrungen mit großer Ruhe und sicherem Urteil betrachten. Das Ergebnis besticht vor allem durch Objektivität. Seinem Werk dürfte der Rang, die Darstellung der neueren deutschen Geschichte zu sein, lange nicht streitig gemacht werden.
Der jetzt vorliegende zweite Band, der die Zeitspanne vom „Dritten Reich” bis zur Wiedervereinigung abhandelt, stellte an den „Erzähler” Winkler ganz besondere Ansprüche. Zum einen erfordert die angemessene, aber nicht jede Proportion sprengende Schilderung der Nazi-Diktatur und ihrer Verbrechen eine Umsicht, die eine alles andere als leicht zu bewältigende Herausforderung ist. Zum anderen gilt es, jene Klippe zu umschiffen, die immer dann droht, wenn sich die Geschichtserzählung Ereignissen nähert, die den Zeitgenossen noch in sehr frischer Erinnerung sind. Meist handelt es sich dabei um Prozesse, die bis in die unmittelbare Gegenwart hinein noch im Fluss sind.
Beide Schwierigkeiten, dies sei hier schon verraten, hat Winkler vorzüglich gemeistert. Vor allem bei seiner nur 115 Seiten umfassenden Schilderung der Nazi-Zeit vermeidet Winkler die Versuchung, seinen Ausführungen den Charakter eines historischen Handbuches zu geben. Ganz im Gegenteil: Er äußert sich sehr pointiert, wofür ihm sein Leser nur dankbar sein kann.
Zwei Beispiele: „Der Nationalsozialismus war radikal antiemanzipatorisch”, schreibt Winkler, „ein Befund, der sich ganz und gar nicht mit der These mancher Historiker und Soziologen verträgt, das ,Dritte Reich‘ habe, gleichviel ob gewollt oder ungewollt, zu einer umfassenden Modernisierung der deutschen Gesellschaft beigetragen. ” Mit derart entschiedenen Urteilen, die eine klare Orientierung verschaffen, geizt Winkler nicht, obwohl er damit gewiss manche Angriffsfläche bieten wird.
Als zweites Beispiel für Winklers Mut zu entschiedenen Aussagen sei vor dem Hintergrund der nach wie vor anhaltenden Kontroverse um die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht” auf seine Beurteilung der Wehrmacht aufmerksam gemacht: „Ein klarer Trennungsstrich zwischen ,sauberer‘ Wehrmacht und ,verbrecherischer‘ SS ließ sich aber schon im September 1939 nicht mehr ziehen: Einzelne Truppenverbände begingen Verbrechen an der Zivilbevölkerung; die Arbeitsteilung zwischen Militär und Politik im Krieg lag in der Logik der Komplizenrolle, die die Wehrmacht bei der Niederschlagung des ,Röhm-Putsches‘ im Sommer 1934 übernommen hatte. Der Krieg gegen Polen war kein europäischer ,Normalkrieg‘ mehr, sondern der erste völkische Krieg in Europa. Er war damit, wie die anschließende Besatzungsherrschaft, ein Vorgriff auf das, was dem slawischen Osten noch bevorstand. ”
Wirre Gemengelage
Hervorzuheben ist aber auch Winklers wohltuend differenzierende Schilderung der Widerstandsbewegung gegen Hitler. Sie schiebt einige seit langem gebräuchliche Verklärungen und Mythen beiseite und öffnet damit den Blick auf eine teilweise sehr wirre Gemengelage von Motiven bei den Hauptprotagonisten. Auch dies wird Heinrich August Winkler nicht nur Zuspruch eintragen. Aber gleichzeitig darf er sich gewiss sein, dass jede Kritik wiederum den Anspruch seiner Darstellung nur noch deutlicher herausstellen wird.
Für den, der die deutsche Geschichte nach 1945 erzählt, stellt sich ein besonderes Problem: Die Dramatik von Kriegsjahren und unmittelbarer Nachkriegszeit lässt rasch nach. Diese Dramatik aber erleichtert das Handwerk des Historiografen enorm. Winkler hat diese Entwicklung in die treffende Feststellung gekleidet: „Die ,Zusammenbruchsgesellschaft‘ war eine Gesellschaft im Ausnahmezustand. Sie brachte keine neue Ordnung hervor, sondern die tiefe Sehnsucht, so rasch wie möglich zu irgendeiner Art von ,Normalität‘ zurückzukehren”. Und es ist eben diese „tiefe Sehnsucht nach Normalität”, die über Jahrzehnte das weitere Geschehen in Deutschland prägte.
Auch wenn der Erzähler daraus keine dramaturgischen Funken entfachen kann, so gelingt es Winkler dennoch sehr plastisch, die politischen und weltanschaulichen Gegensätze herauszuarbeiten und durch geschickte Zitatenauswahl zu illustrieren. Es sind die Gegensätze, die hinter dieser Sehnsucht standen und die vor allem von Konrad Adenauer und Kurt Schumacher repräsentiert wurden.
En passant erfährt man dabei Einzelheiten, die einem längst nicht mehr so bewusst waren. Beispielsweise, dass besonders Frankreich mit aller Entschiedenheit auf einem föderalistischen Staatsaufbau Deutschlands bestand, wodurch man in Paris eine neuerliche Machtzusammenballung östlich des Rheins wirksam zu vereiteln suchte.
Der inneren Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR schenkt Winkler viel Raum und Aufmerksamkeit. Er tut dies, indem er seine Erzählung jeweils parallel führt. So reduziert er die Gefahr, seinen in westdeutschen Verhältnissen aufgewachsenen Leser zu ermüden, auf ein Minimum. Winkler schildert anschaulich den langwierigen Prozess der deutsch-deutschen Abstoßung, den dann eine höchst widersprüchliche beiderseitige Annäherung ablöste. Diesen ordnet er in den weltgeschichtlichen Kontext ein, der von der Ost-West-Konfrontation des Kalten Kriegs geprägt war.
Dieses Verfahren hält Winkler bis zum Ende durch. Dadurch gerät jedoch die Schilderung jener Phase, die unmittelbar in die deutsche Vereinigung einmündete, zu einer bloß chronikalen Darstellung der komplexen Abläufe. Kaum zu sagen, wie sich dies hätte vermeiden lassen, ohne einen Bruch im ruhigen Fluss der Schilderung zu riskieren. Andererseits dokumentiert Winkler diese Phase, wie sie wirklich gewesen ist. Dadurch widerlegt er nachdrücklich den Mythos, dass die zweite deutsche Einheit vor allem das Werk eines Mannes gewesen sei, der von seinen Anhängern gern als der „Kanzler der Einheit” apostrophiert wird. Auch in dieser Hinsicht setzt Heinrich August Winklers Deutsche Geschichte einen Maßstab, der noch für eine lange Zeit gelten dürfte.
JOHANNES WILLMS
Fast rührend wirkt der Anfang: Arbeiter schlagen im Harz bei Braunlage die ersten Pfähle ein für das, was einmal eine der traurigsten und schrecklichsten Grenzen der Welt werden soll.
Foto: SZ-Archiv
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Johannes Willms widmet sich dem zweiten Band der Deutschen Geschichte in seiner Besprechung sehr eingehend und lässt keinen Zweifel an seiner Begeisterung. Das Buch überzeugt durch seine "Objektivität", und meistert die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens hervorragend, urteilt der Rezensent. Besonders angetan ist er von der Schilderung des "Dritten Reiches", die durch sehr pointierte Positionen sicherlich "manchen Angriffsfläche" biete. Gleichermaßen begeistert ist der Rezensent vom "Mut zu entschiedenen Aussagen" des Autors, wo es um die Verbrechen der Wehrmacht geht. Doch auch die Darstellung der Widerstandsbewegung gegen Hitler findet er "wohltuend differenziert", weil sie mit gebräuchlichen Legenden aufräume. Wenn die Schilderung der Entwicklung, die zur Wiedervereinigung geführt hat auch mitunter die Gefahr der "bloß chronikalen Darstellung" berge, so nimmt der Rezensent hier den Autor in Schutz und sieht diesen Mangel in dessen Ansinnen begründet, die Ereignisse in ihrer ganzen Komplexität zu beschreiben. Alles in allem aber ist sich Willms sicher, dass das Buch als "die Darstellung der deutschen Geschichte" gelten und Maßstäbe für zukünftige Darstellungen setzen wird.

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