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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2002

Jeder für sich und Gott gegen alle
Die Geburt der Geschichte aus dem Geist des Zeitungsromans: Vor zweihundert Jahren wurde Alexandre Dumas geboren / Von Tilman Spreckelsen

Seine letzte Reise hat er noch vor sich. Sie beginnt in wenigen Wochen, am 2. Oktober in der Kleinstadt Villers-Cotterêts, nordöstlich von Paris gelegen, wo Alexandre Dumas geboren wurde. Am Abend wird er im Schloß Monte-Cristo eintreffen, das er einst errichten ließ - ein dreistöckiger, 1847 eingeweihter neoklassizistischer Prunkbau mit Ziertürmchen und stuckverzierter Fassade, der seit einigen Jahren restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich ist. Ein rauschendes Fest mit zahlreichen illustren Gästen soll ihm dort ausgerichtet werden, bis er am Morgen des 3. Oktober weiter nach Paris zieht. Eine große Parade wird ihn auf dem Boulevard Saint-Michel begleiten, Figuren aus seinen Werken - von den drei Musketieren und ihrem Kameraden d'Artagnan bis zu Edmont Dantès, dem Grafen von Monte Christo - werden ihm unter den wachsamen Augen zahlreicher Journalisten voraneilen, bis er schließlich endlich, knapp hundertzweiunddreißig Jahre nach seinem Tod, sein großes Ziel erreicht: ein Ehrengrab im Pantheon von Paris.

So jedenfalls hat es die französische Regierung pünktlich zum zweihundertsten Geburtstag von Alexandre Dumas beschlossen. Doch der Überführung seiner sterblichen Überreste in die nobelste Grablege, die Frankreich zu bieten hat, stellt sich bislang noch die Kommune von Villers-Cotterêts entgegen, die den großen Sohn nicht an die Hauptstadt abtreten möchte. Ob man nicht, fragte der Bürgermeister kürzlich vorsichtig an, einen Kompromiß eingehen könne, indem wenigstens ein Stückchen der Dichterleiche in seiner Heimatgemeinde verbleiben könne?

Die Diskussion um die Überführung des Sarkophags ist mehr als eine marginale Posse in einem Jahr, das ungewöhnlich reich an Dichterjubiläen ist und Frankreich als bisherigen Höhepunkt die Feiern zum zweihundertsten Geburtstag von Victor Hugo, Dumas' altem Weggefährten, beschert hat. Der Streit berührt noch einmal eine ganze Reihe von Aspekten, die mit dem Leben und dem Werk Dumas' eng verbunden sind: die Rolle des Dichters in seinem Staat zunächst, eines Dichters, der kommerzielle Erfolge feierte wie kein zweiter französischer Autor seiner Zeit, der aber genau deswegen immer als etwas anrüchig galt und zudem wegen der besonderen Umstände, unter denen seine Werke entstanden, vielen als literarisch nicht satisfaktionsfähig galt. Die verspätete Ehrung - Hugo etwa wurde kurz nach seinem Tod in das Pantheon überführt - wird zudem von manchen als ein Akt der Integration eines Erbes verstanden, das Dumas oft betont und literarisch verarbeitet hat, das aber nicht selten Ursache übler, persönlich verletzender Anfeindungen seiner Zeitgenossen gewesen ist: Dumas' Großmutter väterlicherseits war eine farbige Sklavin aus Haiti.

Ein weiterer Aspekt ist mit dem geschichtsträchtigen Bau verbunden, in dem Dumas seine Ruhestätte finden soll. Der Autor hatte sich obsessiv der französischen Historie zugewandt und auch die Einrichtung der Ruhmeshalle in einem Roman beschrieben, der freilich nur ein Glied ist in einer ganzen Kette. Auf seine Weise versuchte Dumas, die französische Geschichte zu bewahren und anschaulich zu halten, und sein Werk, die zahllosen starkleibigen Romane, die insbesondere die Zeit zwischen der Renaissance und der Gegenwart des Autors schildern, geben ein eigenes - und kein schlechtes - Pantheon Frankreichs ab.

Doch der Streit um seine Überreste, der Plan der Exhumierung (die bereits zum wiederholten Mal stattfinden wird: 1872 war der zwei Jahre zuvor mitten im deutsch-französischen Krieg im Exil gestorbene Dumas in seine Heimatgemeinde überführt worden) berührt einen weiteren, zentralen Punkt im Werk des Autors. Es ist das Motiv der Wiederkehr der Toten, des Grenzgängertums zwischen Leben und Tod, das sich durch überraschend viele seiner Texte zieht (gerade sind in Frankreich zwei Sammlungen mit kürzeren Erzählungen des Autors zu diesem Thema erschienen). Es begegnet dem Leser beispielsweise metaphorisch, wenn einzelne Figuren sich als Gestorbene bezeichnen, die nunmehr als Wiedergeborene ein ganz neues Leben wollen; es begegnet ganz handfest im Cagliostro-Roman "Joseph Balsamo" (aus dem Zyklus "Die Memoiren eines Arztes"), wenn ein Magier vor den Augen des erstaunten Balsamo einen gerade getöteten Hund wiederbelebt: "Und wenn ich den Tod auch noch nicht völlig besiegt habe, so habe ich ihm doch zumindest einen Schlag versetzt, von dem er sich nicht so leicht erholen wird."

Wesentlich subtiler wird das Thema in "Der Graf von Monte Christo" durchgeführt. In der berühmten Fluchtszene schlüpft Edmond Dantès, der als anonymer Gefangener für seine bisherige Umgebung wie tot ist, in die Rolle des gestorbenen Abbé Faria, um dann in einem Leichensack ins Meer geworfen zu werden. Dort leitet er seine Wiedergeburt ein, indem er unter Wasser aus der Hülle schlüpft und sich anschließend mit einer neuen Biographie ausstattet: Er ist von nun an der Graf von Monte Christo. Allerdings kann er von seiner abgestreiften Identität nicht lassen und fällt wie ein Racheengel über diejenigen her, die damals Edmont Dantès verschwinden ließen.

Am intensivsten aber gibt sich Dumas dem Thema in dem sehr merkwürdigen Buch "Tausendundein Phantom" hin, das, von einem Rahmen nur notdürftig zusammengehalten, in einer Reihe von Erzählungen die Begegnung Lebender mit Toten beschreibt, mit Wesen zumeist, die in den unterschiedlichsten Formen zurück in die Welt drängen, die sie verlassen mußten. Da finden sich holzschnittartige Gespenstergeschichten ebenso wie ausgeklügelte psychologische Studien; ihre Wirkung aufs Gemüt des Lesers aber verfehlt keine von ihnen. Einige von ihnen sind überwiegend stoffgeschichtlich interessant - wie jene Geschichte, die den jungen E. T. A. Hoffmann als Revolutionstouristen entwirft, der mit einer Dame zu Abend ißt (und später auch mit ihr schläft), die zuvor unter der Guillotine zu Tode kam und deren Kopf nur noch mit einem Stoffband am Rumpf gehalten wird.

Eine andere mit dem Titel "Die Katze, der Gerichtsdiener und das Skelett" kommt dagegen völlig ohne derlei grelle Effekte aus und entfaltet ihre Wirkung als meisterliches Kammerspiel, das längst zum Kanon der klassischen Gespenstergeschichten der Weltliteratur gehört. Weil er zum Tod verurteilt wird, rächt sich der Räuber an seinem Richter mit einem einzigen, seinem letzten Satz: Er werde sich bei ihm melden, läßt er dem Juristen bestellen, als er schon zum Galgen geführt wird. Am Tag nach der Hinrichtung schleicht sich um Punkt sechs Uhr abends eine große Katze ins Arbeitszimmer des Richters. Das Tier verhält sich friedlich und ist bald wieder verschwunden, kehrt aber am nächsten Abend und an den folgenden jeweils zur gleichen Uhrzeit wieder. Einen Monat später tritt an ihre Stelle ein stummer und aufmerksamer Diener, der den Richter überallhin begleitet. Im nächsten Monat erhält der Richter täglichen Besuch von einem Skelett, das ihn unablässig anstarrt. Vier Wochen später ist er tot.

Die lakonische Geschichte dieser Ängstigung bis zum Tode läßt bis zum Ende offen, ob es sich wirklich um den Besuch eines Gespenstes oder um eine - durch den Gruß des Verurteilten hervorgerufene - Wahnvorstellung handelt. Die Perspektive ist zweifach gebrochen: Der Erzähler referiert den Bericht eines Arztes, der von dem Richter um Hilfe gebeten wurde. Außer dem Heimgesuchten nämlich kann niemand die drei Boten sehen, und die Szenen, in denen der verzweifelte Richter mit dieser Tatsache unmittelbar konfrontiert wird, sind die eindrucksvollsten des Textes.

Gerade weil sich Dumas hier als glänzender Stilist beweist und die Geschichte so kalkuliert zurückhaltend komponiert ist, sticht sie aus dem umfangreichen Gesamtwerk des Autors heraus. Dumas, der aus der Provinz nach Paris ging und mit Anfang Dreißig zum gefeierten Theaterautor avancierte, verlegte sich auf die Produktion von Romanen, wobei er eine derartige Ausdauer bewies, daß Friedrich Sieburg ihn "das größte Phänomen an Fruchtbarkeit, Arbeitskraft und Phantasie" nannte. Er schrieb regelmäßig bis zu fünfzehn Stunden täglich und publizierte oft mehrere vielbändige Romane gleichzeitig. Diese Arbeitsweise kann nur vor dem Hintergrund einer doppelten Umwälzung verstanden werden: Dumas profitierte von der technischen Revolution der Druckmaschinen ebenso wie von der europäischen "Leserevolution" der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts: Der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung stieg gleichzeitig mit der Produktivität der Druckereien. Das Ergebnis war eine enorme Ausweitung des Buch- und vor allem des Zeitungsmarktes, und als einer der ersten - neben Eugène Sue und seinen "Geheimnissen von Paris" - verstand es Dumas, das junge Genre des massenhaft verbreiteten Fortsetzungsromans zu einer äußerst lukrativen Erwerbsquelle zu machen.

Dabei entstanden jene Werke, die Dumas' Ruhm bis heute bewahrt haben, in einer befremdend kurzen Periode: Von März bis Juli 1844 erscheinen "Die drei Musketiere" in 82 Folgen in der Zeitschrift "Le Siècle", die Fortsetzung "Zwanzig Jahre später" im selben Blatt ein halbes Jahr später. Zwischen August 1844 und Januar 1846 erscheint "Der Graf von Monte Christo" bei der Konkurrenz vom "Journal des Débats", parallel dazu, zwischen Ende 1844 und Herbst 1847, werden die drei umfangreichen Romane des "Valois-Zyklus" in den Blättern "La Presse" und "Le Constitutionnel" publiziert. Daß Dumas gleichzeitig seine Roman-Tetralogie "Erinnerungen eines Arztes" beginnt, fällt dabei kaum noch ins Gewicht.

Die Frage, wie ein einzelner, und sei er noch so fleißig und einfallsreich, dieses gigantische Pensum bewältigen könne, bewegte schon die Zeitgenossen, und Dumas machte später kein Hehl daraus, daß vieles von dem, was unter seinem Namen erschien, nicht - oder nicht vollständig - von ihm stamme. Einige seiner Mitarbeiter sind namentlich bekannt; wie viele es über die Jahre gewesen sind, wußte wohl nicht einmal Dumas. Er jedenfalls wurde schnell märchenhaft reich, gab das Geld mit vollen Händen aus, ließ sich die Villa "Monte Cristo" bauen und mußte sie wieder verkaufen. Er gründete Zeitschriften und erlitt mit ihnen Schiffbruch, reiste viel und schrieb immer noch rastlos, bis er schließlich sogar zeitweilig aus der Mode kam. Am Ende flüchtete er zu seinem Sohn Alexandre nach Puy (bei Dieppe), saß stundenlang in einem Liegestuhl am Strand und starrte in die Nordsee oder las seine eigenen Bücher (für deren Lektüre er, wie er oft bekundete, vor lauter Schreiben nie Zeit hatte), immer drängender mit der Sorge um seinen Nachruhm beschäftigt.

Diese Sorge hängt ursächlich mit dem Fluch wie auch mit dem Segen des von Dumas genutzten und weiterentwickelten Genres zusammen: Der Zeitungsroman verlangt, wenn er nicht bloßer Vorabdruck ist, von seinem Autor eine Arbeit von Tag zu Tag - auch dies wurde übrigens bald ein beliebtes literarisches Sujet: Ein Zeitgenosse von Dumas, der deutsche Erfolgsschriftsteller Carl Spindler, beschreibt in seiner "Novelle von Tag zu Tag", wie die Liebesaffäre eines Feuilletonisten dessen gerade entstehenden Fortsetzungsroman einfärbt, indem der Autor seine Heldin als Abbild der realen Geliebten entwirft und sie nach jedem Liebeszerwürfnis stellvertretend furchtbaren Qualen unterwirft - am Ende landet sie als Hexe im Folterkeller der Inquisition. Durch diese Entstehungsgeschichte tragen die Werke das Stigma der Gebrauchsliteratur, das nur wenig vereinbar ist mit dem tradierten Ideal des Dichters, der an seinem Werk sitzt und feilt, so lange, bis es eben fertig ist, während der Zeitungsroman des neunzehnten Jahrhunderts in der zeitgenössischen Kritik gerne als genuin unfertig angesehen wurde. Andererseits fordert diese Produktionsweise dem Autor auch einiges ab: Er muß den Leser so in seinen Bann ziehen, daß aus dem Gelegenheitskonsumenten ein regelmäßiger Käufer der Zeitung, am besten ein Abonnent wird; er muß also neuen Lesern den Einstieg in den laufenden Roman ermöglichen, ohne die bisherigen durch Redundanzen und langatmige Erklärungen des bisherigen Geschehens zu verprellen. Zudem muß der Autor jeden Abschnitt als eigenen, in sich abgeschlossenen Text inszenieren, mit einem eigenen Spannungsbogen, der gleichzeitig die Neugier auf die nächste Folge entfacht. In seinen besten Texten, vor allem in "Der Graf von Monte Christo", meistert Dumas diese komplizierte Aufgabe mit Leichtigkeit, ohne den Stoff an die Kolportage zu verraten. Daß seine Romane noch heute so lesbar geblieben sind, hängt wesentlich mit ihrer erzählerischen Virtuosität zusammen.

Es ist nicht zuletzt die Bereitschaft, Lesererwartungen gezielt zu enttäuschen, die Dumas' Erzählen so nachdrücklich vom Treiben der zeitgenössischen Trivialautoren unterscheidet. So dekonstruiert er den eigenen Mythos der "Vier Musketiere", nachdem er ihn noch in der ersten Fortsetzung ("Zwanzig Jahre später") bedient und an den ersten Teil angeknüpft hatte, in "Der Vicomte de Bragelonne". Die Musketiere sind alt geworden, und der Kampfruf "Einer für alle, alle für einen" ist im "Vicomte" längst einem "Jeder für sich" gewichen. Die einst so unzertrennlichen Vier verfolgen hartnäckig ihre eigenen Interessen, und was im ersten Teil des Zyklus noch liebevolle Eigenheiten der einzelnen waren, erweist sich nun, im fortgerückten Alter, als Sprengsatz, so daß sich die Freunde als Gegner wiederfinden.

In einem großartigen Essay über das Werk Alexandre Dumas' deutet der französische Schriftsteller Dominique Fernandez dieses Erkalten als Reaktion des Autors auf den gesellschaftlichen Wandel seiner Zeit, von dem Dumas allerdings nicht wenig profitierte: "Mitten im Jahrhundert des Materialismus und des Gewinnstrebens unternahm er es, die ritterlichen Ideale der Zeit vor Colbert wiederzubeleben." Die Romanfolge beschreibt detailliert den Epochenwandel, der in die Moderne des neunzehnten Jahrhunderts mündete: "vom anarchischen Individualismus der Musketiere zum etatistischen Absolutismus unter Ludwig XIV., vom unverschämten Kult des Ruhms zum fügsamen Respekt vor den Gesetzen, vom libertinären und verschwenderischen Frankreich zum zentralisierten, geordneten, sparsamen Frankreich. Kurzum: den Übergang vom barocken zum klassischen Frankreich".

Für einen Platz im Pantheon sollte das reichen.

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