Produktdetails
- Studien zum Deutschtum im Osten H.27
- Verlag: Böhlau
- 1996.
- Seitenzahl: 208
- Deutsch
- Abmessung: 13mm x 150mm x 230mm
- Gewicht: 319g
- ISBN-13: 9783412169954
- ISBN-10: 3412169951
- Artikelnr.: 06694681
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Es gab mehr Deutsche in Rußland, als man denkt
Spätestens seit Peter der Große das Tor zum Westen weit aufgestoßen hatte, spielten Deutsche in der russischen Geschichte eine bedeutende Rolle. Sie dienten den Zaren als Berater und Generäle, als Beamte und Lehrer, Kaufleute und Ärzte. Doch erst als Katharina II. 1762 begann, deutsche Siedler anzuwerben, kamen Deutsche in großer Zahl nach Rußland. Die deutschstämmige Kaiserin versprach ihnen dafür Land, Selbstverwaltung, Religionsfreiheit und die Befreiung vom Militärdienst.
Die Agenten der russischen Regierung, die sich um Migrationswillige bemühten, konkurrierten mit englischen, französischen, holländischen und österreichischen Werbern. In Preußen und Österreich, Sachsen und Bayern war das Werben untersagt. Wie Dittmar Dahlmann in seiner Einführung in den Sammelband über "Deutsche in Rußland" darlegt, stammten die etwa 30000 Deutschen, die sich am Unterlauf der Wolga ansiedelten, vor allem aus den deutschen Klein- und Kleinststaaten.
Langsam erarbeiteten sich die deutschen Kolonisten einen bescheidenen Wohlstand; besonders die Siedlungen bestimmter Religionsgemeinschaften wie der Herrnhuter und der Mennoniten zeichneten sich durch den Fleiß ihrer Bewohner und einen relativen Reichtum aus. Als Alexander I. um die Jahrhundertwende abermals zur Einwanderung aufrief, wurde von den Deutschen, die sich am Schwarzen Meer niederließen, schon verlangt, daß sie einen Beruf erlernt hatten und über ein gewisses Vermögen verfügten.
Da die Siedlungsgebiete der Rußlanddeutschen nicht zusammenhingen, da selbst die einzelnen deutschen Dörfer sich im Hinblick auf die Herkunft ihrer Bewohner, ihre Mundart, Volkskultur und Konfession voneinander unterschieden, kam es bis zum Ersten Weltkrieg weder zu einem Volksgruppenbewußtsein noch zu einer nationalen Bewegung der Deutschen. Der Assimilierungsdruck war niedrig, weil die Menschen in geschlossenen Siedlungen lebten.
Eine Umwelt, die als der eigenen Herkunft überlegen wahrgenommen wird, und eine Gesellschaftsstruktur, in der die oberen Klassen unvollständig ausgebildet sind, fördern die Assimilierung. Beides fanden die Deutschen nur in den wenigen Städten vor, wo sich einige deutsche Kaufleute in der russischen Geschäftswelt etablierten. Wie der Osteuropahistoriker Dietmar Neutatz schließt, assimilierten die Deutschen sich kaum, obwohl ein nationales Bewußtsein sich noch gar nicht gebildet hatte.
Auch der äußere Druck zur Anpassung, die Russifizierungsbemühungen des Staates, hielt sich lange in Grenzen. 1874 wurde allerdings die Befreiung der Rußlanddeutschen von der Wehrpflicht aufgehoben. Hunderttausende deutscher Kolonisten verließen in den folgenden Jahrzehnten das Land, sie gingen nach Kanada, Lateinamerika und vor allem in die Vereinigten Staaten. Ihrer kompakten Siedlungsstruktur beraubt, paßten sie sich schon in der zweiten Generation nach der Übersiedlung an die amerikanische Lebensweise an, wie Susanne Janssen am Beispiel rußlanddeutscher Immigranten in North Dakota und Nebraska zeigt. Die antideutsche Politik während des Ersten Weltkriegs beschleunigte ihre Amerikanisierung. Im Russischen Reich wurden die Rußlanddeutschen 1914 zum ersten Mal zu Sündenböcken erklärt. Es gab jedoch keine rußlanddeutsche politische Führungsschicht, die sich gegen die staatliche Diskriminierung hätte wehren können.
Einige Beiträge des Sammelbandes fassen den Forschungsstand der frühen neunziger Jahre kompetent zusammen. Das Schicksal der Rußlanddeutschen unter Stalin, die Deportationen und die Gefangenschaft in der dem GULag unterstellten Arbeitsarmee bleiben allerdings unberücksichtigt. Das liegt unter anderem daran, daß die Auswertung der Quellen in den Archiven in Moskau und Petersburg, in den Städten an der Wolga, im Ural und in Sibirien erst seit wenigen Jahren möglich ist. So wird auch das Schicksal der Deutschen in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution nur oberflächlich behandelt. Der Führer dieser Revolution, Lenin, konnte, so der Düsseldorfer Historiker Hans Hecker, "soviel deutsche Abstammung nachweisen, daß er nach heutigen Maßstäben bei einer Übersiedlung nach Deutschland wohl ohne große Schwierigkeiten die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen hätte". MARKUS WEHNER
Hans Rothe (Hrsg.): "Deutsche in Rußland". Studium zum Deutschtum im Osten, Band 27. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 1996. 208 S., br., 48,- DM.
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