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Geschichtsbuch, Bildband und Nachschlagewerk zugleich: Hermann Glaser präsentiert ein halbes Jahrhundert deutscher Kulturgeschichte vom Ende des Nationalsozialismus bis in unsere Gegenwart. Dabei bedeutet Kulturgeschichte hier nicht allein die Geschichte von Literatur und Philosophie, von Malerei und Musik, sondern auch die Geschichte unseres Alltags, der Medien, der Mode und des Designs.

Produktbeschreibung
Geschichtsbuch, Bildband und Nachschlagewerk zugleich: Hermann Glaser präsentiert ein halbes Jahrhundert deutscher Kulturgeschichte vom Ende des Nationalsozialismus bis in unsere Gegenwart. Dabei bedeutet Kulturgeschichte hier nicht allein die Geschichte von Literatur und Philosophie, von Malerei und Musik, sondern auch die Geschichte unseres Alltags, der Medien, der Mode und des Designs.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Der Kongreß tanzte
Hermann Glasers letzter Walzer / Von Gerhard Henschel

Wer sich für die internationalen Wirtschaftsdaten vom Oktober 1996 interessiert, wird im "Fischer Weltalmanach '96" nichts darüber finden; der Redaktionsschluß lag bereits im September 1995. Auskunft wird frühestens der "Fischer Weltalmanach '98" gewähren. Noch etwas kühner ist der Etikettenschwindel, den Hermann Glaser betreibt: "Deutsche Kultur 1945- 2000" heißt sein Werk, das erstaunlicherweise schon im September 1997 ausgeliefert worden ist. Er scheint nicht anzunehmen, daß vor der Jahrtausendwende noch Entscheidendes geschehen werde, und ihn schreckt auch das Beispiel jener Publizisten nicht ab, deren im Herbst 1989 voreilig unters Volk gebrachte Jahresrückblick-Bildbände schon kurz nach der Auslieferung Makulatur waren.

Als Blickfang auf dem Schutzumschlag ist ein schwarzrotgoldenes Kissen mit Kniff zu sehen, ein Produkt aus dem Studio des Grafikers Klaus Staeck. Die Botschaft des Kissens ist deutlich: Für den deutschen Spießer, der sich in der Bundesrepublik behaglich eingerichtet hat, ist auch nach dem Zweiten Weltkrieg Ordnung das halbe Leben geblieben. Das ist sicherlich wahr, aber die dick aufgetragene Kritik an der falschen Idylle ist ihrerseits von kitschiger Feierlichkeit. Wie der Stammtisch, die Fernsehpantoffeln, die Kapitalistenzigarre und das Eisbein mit Sauerkraut gehört das Kissen mit Kniff, unabhängig von seiner wirklichen Verbreitung, seit langem zum ironischen Repertoire der "kritischen Folklore" (Michael Rutschky).

Dennoch hat der Gestalter des Schutzumschlags eine gute Wahl getroffen, denn auch Hermann Glaser gibt seinem Hang zur kritischen Folklore immer wieder nach, wenn er die Geschichte der deutschen Kultur referiert, von der Stunde Null bis zur Postmoderne, von Günter Eichs "Inventur" bis zum "Anschwellenden Bocksgesang" des Botho Strauß. Es sei wichtig, sich "einfühlend und kritisch um den Wurzelgrund deutschen Daseins und Soseins" zu bemühen, schreibt Glaser, doch darüber dürfe man die Lebensfreude nicht vergessen: "Die Dominanz eines (häufig larmoyanten) unglücklichen Bewußtseins vergällt wiederum die Freude am Dasein, das immer auch ein Da-sein für den anderen, mit Freude am anderen, bedeuten müßte."

Glaser spricht als Prediger, Abiturredner, Kulturfunktionär, Hochschuldozent und Nachrichtenverleser in einem. Er beschwört "die Maienzeit des Aufbruchs und Aufbaus" nach dem Zweiten Weltkrieg, geht auf "Abrieb- und Zerreibungsprozesse" im politischen Geschäft ein, schwingt sich zu den höchsten Tönen auf ("Per aspera ad astra: Rauh werden die Pfade sein, die zu den Sternen führen") und verfällt an anderer Stelle wieder in die Sprache eines uninspirierten Festredners, der seine Floskeln aus einem Ratgeberhandbuch beziehen muß. Die Ferienkurse für Neue Musik im Jagdschloß Kranichstein bei Darmstadt, heißt es dann, "entwickelten sich zu einem internationalen Forum der Moderne, von dem wesentliche Impulse ausgingen". Welcher Art jene Impulse waren und was ihre Wesentlichkeit ausmachte, steht dahin. Wir merken uns, daß vom Jagdschloß Kranichstein Impulse ausgingen, und zwar wesentliche.

Bisweilen liest sich Glasers Kulturgeschichte wie eine Kongreßresolution ("In West wie Ost fühlten sich die Schriftsteller und Dichter einig im Kampf gegen Militarismus und Faschismus"), manchmal wie eine dröge Broschüre der Bundeszentrale für politische Bildung ("Gesellschaftspolitisch ging es der Frau um die Gleichberechtigung am Arbeitsplatz, in der Politik und in der Familie") und allzuoft wie der Rechenschaftsbericht eines umtriebigen Kulturdezernenten, der alle seine Initiativen gezählt hat, daß ihm auch nicht eine fehle an der ganzen großen Zahl: "1974 entstand bei einer Klausurtagung in einem Forsthaus bei Frankfurt am Main, zu der auf Initiative von Olav Schwencke, Hilmar Hoffmann, Robert Jungk, Peter Palitzsch, Lothar Romain, Dieter Sauberzweig, Alfons Spielhoff und Hermann Glaser zusammengekommen waren, das Konzept einer Kulturpolitischen Gesellschaft, die im Juni 1976 im Rathaus von Hamburg-Altona gegründet wurde und seitdem als Koordinierungsgremium, Informationsstätte und Diskussionsforum für Kulturpolitik dient."

Den Weg seines verblichenen Gremiumskonzepts vom Forsthaus ins Rathaus zeichnet Glaser penibel nach. Wer auch immer in Nachkriegsdeutschland Gruppen gebildet, Parteien gegründet, Initiativen ins Leben gerufen, Bewegungen angeführt, Bündnisse geschlossen, Klausurtagungen abgehalten und Pressekonferenzen gegeben hat, findet in Glaser einen gründlichen und aufmerksamen Chronisten, dem kein Koordinierungsgremium und keine Diskussionsstätte zu gering ist und der bereitwillig die Gefahr auf sich nimmt, mit seiner Akribie gepflegte Langeweile zu verbreiten: "Beim 9. Kongreß der 1928 gegründeten CIAM (Congrès International d'Architecture Moderne) 1954 in Aix-en-Provence wurde von Siegfried Giedion Schönheit als ,Rhythmus' gedeutet."

Wer jedoch Kongresse, Gremien und Podien zeitlebens gemieden hat, fällt durch den Rost: Arno Schmidt, beispielsweise. Vielleicht liegt es daran, daß von Schmidt nach Glasers Ansicht keine wesentlichen Impulse ausgegangen sind. Anders sieht es mit zahlreichen Ikonen der Trivialkultur aus, von denen Glaser keine Notiz nimmt: Vom Einfluß des Auflagenmillionärs Heinz G. Konsalik und Deutschlands beliebtester Lyrikerin, Kristiane Allert-Wybranietz, auf den Wurzelgrund deutschen Daseins und Soseins ist hier ebensowenig zu erfahren wie über die Mainzelmännchen, obwohl deren phänomenale Karriere kulturgeschichtlich mindestens so interessant ist wie die Tatsache, daß Siegfried Giedion 1954 Schönheit als Rhythmus gedeutet hat.

In sein sozialliberales Pantheon hat Glaser Hans Werner Henze selbstverständlich aufgenommen, Heino aber wurde von der Schwelle gewiesen; unregistriert, ungeprüft, nicht existent. "Die erste vollständige Kulturgeschichte der Bundesrepublik" (Verlagswerbung) findet weitgehend ohne Analyse oder auch nur Erwähnung ihrer populärsten Idole statt. Horst Tappert bleibt außen vor, im Gegensatz zu Bruno Ganz (der es auch nur knapp geschafft hat). Gerd Gaiser ist dabei; Wim Thoelke nicht. Auch Franz Beckenbauer und Boris Becker mußten leider draußen bleiben. Andere werden nur kurz aufgerufen, wie der Quotengott a. D. Erik Ode, dessen Rolle als Melancholiker der Kriminalistik denkbar knapp unter dem Stichwort "Gewalt im Fernsehen" abgehandelt wird.

Auf das Fernsehen ist Hermann Glaser ohnehin nicht gut zu sprechen. Mit dem Frivolen und Leichten tut er sich schwer; schwerer noch mit dem Komischen und Ironischen - der überwältigende Erfolg von Publikumslieblingen wie Loriot und Otto Waalkes wird von Glaser nicht erklärt, nicht einmal verzeichnet. Seiner Vorliebe fürs Repräsentative, Ernste, Gravitätische, tagespolitisch Wichtige und Offiziöse kommen Gestalten wie Richard von Weizsäcker, Günter Grass und Christa Wolf eher entgegen, deren Wirken er ausführlich rühmt und würdigt. Auch Theodor Heuss, teilt Glaser mit, sei "ein geistreicher Homme de lettres, ein Mann republikanischer Bonhomie" gewesen.

Aber die Maienzeit des Aufbruchs und Aufbaus, in der sich das Publikum mit solchen bildungsbürgerlichen Pathosformeln noch einschüchtern ließ, ist vorbei. "Die Erforschung der Nachkriegskultur sollte in Erwartung des einundzwanzigsten Jahrhunderts aktuelle Antworten auf alte Sinnfragen finden helfen: Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?" So fragt Glaser allen Ernstes, ohne zu ahnen, daß der von ihm ignorierte Komiker Helge Schneider solche unbeantwortbaren, allein die Nachdenklichkeit des Fragestellers adelnden Fragen schon vor Jahren gültig parodiert hat: "Menschen, Leben, Existenz, was ist das? Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wer seid das ihr? Wo gehen wir hin? Ist unser Leben nicht eine aneinandergereihte Reihe von Ereignissen?" Seinen "Philosophie" betitelten Bühnenmonolog schloß Helge Schneider mit den herausgebellten Fragen ab: "Was sind wir denn? Ist der Mensch mehr wert wie der Wurm? Wie die Amöbe? Das Geschnetz? Die Suppe?"

Hermann Glaser, Jahrgang 1928, hat den Silberzungen, Unterschriftstellern, Verbandsfunktionären und Wahlkampfrednern seiner Generation mit diesem Buch ein Denkmal errichtet. Daran wäre nichts auszusetzen, wenn Titel, Werbung und Vorwort nicht etwas ganz anderes suggerierten. Was soll man von einer deutschen Kulturgeschichte halten, die nur eine Kultur der Mittellage kennt, aber nichts von Karl Valentin, nichts von Leo Kirch, nichts von Heinz Rühmann, nichts von Eduard Zimmermann, nichts von Roberto Blanco und vom gremienresistenten Horst Janssen nur dies weiß, daß er "zerrissene Gesichts- und Körperformen" gezeichnet habe?

Mit einem dröhnenden Schillerzitat schließt Glaser sein Opus ab. Damit hat das Kissen seinen Kniff.

Hermann Glaser: "Deutsche Kultur 1945- 2000". Carl Hanser Verlag, München 1997. 576 S., Abb., geb., 49,80 DM.

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