In seinem neuen Buch beschreibt Ernst Klee unbekannte Medizin-Verbrechen in der NS-Zeit, wie sie zustandekamen und nach 1945 vertuscht wurden. Im Zentrum stehen Mediziner, die zum größten Teil nach 1945 ihre Karrieren unbehindert hatten fortsetzen können. Klees neue Quellenfunde werden heftige Diskussionen auslösen. In seinem medizinhistorischen Enthüllungsbuch schreibt er gegen ein Netz von Vertuschungen an und nennt ca. 750 Personen aus dem Täter-Milieu im weiteren Sinne. Es geht um die Geschichte der Rassenhygiene bis hin zu ihren letzten praktischen Konsequenzen in den Mordanstalten Hadamar, Auschwitz, Treblinka etc. In diesem "Lehrbuch" der NS-Vernichtungsmedizin mit Kapiteln über Psychiatrie, Hirnforschung, Röntgenverfolgung, Blutgruppenforschung usw. berichtet Ernst Klee von bisher unbekannten Medizinverbrechen und -verbrechern, einschließlich deren Nachkriegskarrieren. Er dokumentiert den Stand der genetischen Forschung im NS-Staat bis zu Mengeles Experimenten in Auschwitz. Nach 1945 ging die Geschichte weiter. Die einstigen Protagonisten sahen sich nun missbraucht, geradezu als Opfer des Nationalsozialismus. Einstige Förderer der Vernichtungsmedizin wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) verharmlosten Ihre Beteiligung ebenso wie die einstigen Vordenker und Nutznießer der Naziverbrechen in der Max-Planck-Gesellschaft. Die Täter von gestern wurden nach 1945 hofiert, die Opfer noch einmal verhöhnt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2002Der Preis der Forschungsfreiheit, die sie meinten
Taten deutscher Wissenschaftler innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft während des Dritten Reiches und danach: Ein Forschungsbericht / Von Frank Ebbinghaus
Das Gebot historischer Aufklärung steht bei seinen Adressaten im Ruch einer gefährlichen Krankheit. Je unheilvoller die Diagnose, desto heftiger der Widerstand. Der Patient windet sich auf seinem Lager, streitet unter allerlei Verwünschungen die medizinischen Befunde ab - um schließlich die Vergeblichkeit allen Leugnens am eigenen Leib erfahren zu müssen. In diesem Moment größter Ohnmacht verliert die Aussicht auf eine Roßkur ihren Schrecken. Die herbeigerufenen Ärzte können gar nicht prominent genug, ihre Ratschlüsse an Deutlichkeit kaum zu übertreffen sein: Der Kranke wird nicht müde, ihre Kunst zu rühmen, die er zuvor noch nach Leibeskräften bestritten hat. Dies ist die Stunde der unabhängigen Historikerkommissionen.
Wie hat sich die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) nicht gewunden, hat geleugnet und gedroht, als es um die historische Aufarbeitung ihrer Vorgängerinstitution, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), im Dritten Reich ging. Götz Aly mußte sich 1984 der Unterstützung des hessischen Datenschutzbeauftragten versichern, um die Akten des Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) für Hirnforschung aus der Zeit des Nationalsozialismus zu sichten, die seit 1956 im Frankfurter Edinger-Institut untergebracht waren. Eine Sekretärin drückte dem verdutzten Historiker einen Kreuzschraubenzieher in die Hand und empfahl ihm, die Holzpaneele des Institutsflurs zu entfernen. Dahinter befanden sich zahlreiche Sektionsberichte, die Licht in die Verbindung des KWI zur Euthanasieaktion T 4 brachten. Als der Kölner Genetiker Benno Müller-Hill Anfang der achtziger Jahre an seinem Buch "Tödliche Wissenschaft" schrieb, drohten ihm Mitglieder der Gesellschaft, darunter der Nobelpreisträger und MPG-Ehrenpräsident Adolf Butenandt, mit Klagen, falls das Werk erscheine. Sie wußten, warum. "Wenn ich heute an die Wirkungsgeschichte der Genetik in Anthropologie und Psychiatrie denke", schreibt Müller-Hill, "dann sehe ich Wüsten der Zerstörung. Das millionenhaft vergossene Blut der anderen ist mit größter Intensität vergessen worden. Die jüngste Wirkungsgeschichte dieser genetisch denkenden Humanwissenschaften ist wirr und voller Verbrechen wie nur ein böser Traum. Aus diesem Traum sind viele Genetiker, Anthropologen und Psychiater in den tiefen Schlaf der Erinnerungslosigkeit geglitten."
Entsetzen zumal bei jüngeren Forschern rief der Umstand hervor, daß Ikonen der deutschen Biowissenschaften, die auch nach 1945 in hohem Ansehen standen, während des Nationalsozialismus euphorisch den Boden für die Aussonderung und Vernichtung von Juden, Geisteskranken und Zigeunern bereiteten, um sich dann für Versuchszwecke hemmungslos der Organe von Mordopfern zu bedienen. Zum aufklärerischen Ton, den Forscher wie Benno Müller-Hill, Götz Aly und Ernst Klee anstimmen, gehört das Memento einer ebenso unheilvollen wie ungebrochenen Kontinuität biowissenschaftlicher Forschung. In der Tat bedeutete das Kriegsende auch für die deutschen Naturwissenschaften keine Stunde Null. Deren Führungskräfte bildeten effiziente Seilschaften, die kompromittierten Forschern zum neuen Lehrstuhl im Nachkriegsdeutschland verhalfen.
Ausgesperrt blieb dagegen, wer im Nationalsozialismus aus rassischen oder politischen Gründen seine Stelle verlor. Lediglich zwei von zweiundachtzig emigrierten Forschern erhielten nach dem Krieg eine Anstellung in der MPG. Max Ufer, der im Oktober 1933 das KWI für Züchtungsforschung verlassen mußte, weil er die Scheidung von seiner jüdischen Ehefrau verweigerte, wurde 1952 nach einem entwürdigenden Geschacher um die Finanzierung seiner Wiedereinstellung gewarnt: Er möge doch bitte davon absehen, auf dem Institutsgelände zu wohnen, da hier seine Ehefrau vor antisemitischen Diffamierungen nicht sicher sei. Fluchtartig verließ Ufer nach dem Einstellungsgespräch Deutschland. Vier Jahre später stellte er erneut einen Antrag auf Wiedergutmachung. Eine Evaluierung seiner wissenschaftlichen Leistungen kam jedoch zu einem negativen Befund. Ufers Arbeiten, so der Botaniker Hans Stubbe, der nach 1945 in der DDR Karriere machte, "überragen keinesfalls den Durchschnitt". Mit diesem Argument, resümiert Ernst Klee sarkastisch, "hätte er auch einem nach Auschwitz Deportierten vorwerfen können, er habe nicht genug publiziert".
Kein Wunder, daß Emigranten angewidert Abstand wahrten. So klagte der von den Nazis vertriebene Nobelpreisträger Otto Meyerhof 1948 gegenüber Otto Hahn, dem ersten MPG-Nachkriegspräsidenten, über Ernst Telschow, den seit 1937 amtierenden Chef der Generalverwaltung von KWG und MPG: "Ich habe ihn als einen sehr lausigen Intriganten kennengelernt, dessen Doppelzüngigkeit der Verlust meines Besitzes und meiner Bibliothek zu verdanken ist und der mich um ein Haar um meinen Reisepaß gebracht hätte, mit allen Konsequenzen, die das im Jahr 1938 bedeutet hat." Telschow amtierte bis 1960.
Je mehr sich die MPG einschlägigen Anwürfen ausgesetzt sah, desto tiefer verschanzte sie sich in ihrer Wagenburg. Klagen über das "Sammelbecken ehemaliger Nationalsozialisten" (Max Ufer) suchte man durch eine aseptische Selbstbetrachtung zu neutralisieren. Nachdrücklich beharrten die Verantwortlichen darauf, in schweren Zeiten am "Prinzip der Distanz zum Staat" (Butenandt) festgehalten zu haben und nicht dem "Führer", sondern dem "reinen Erkenntnistrieb" gefolgt zu sein. Pflichtschuldig beklagte man die "unwiederbringlichen Verluste" an hochqualifizierten Wissenschaftlern, unterschlug jedoch geflissentlich den eigenen Beitrag zur Vertreibung jüdischer Forscher.
Es bedurfte lediglich einiger Retuschen, damit die braunen Flecken vom strahlendweißen Forscherkittel verschwanden. Umstandslos wurden Opfer, die erst für medizinische Experimente mißbraucht, dann ermordet wurden und schließlich der Wissenschaft als Organbank zu dienen hatten, in Patienten umgewidmet. Der Molekularbiologe Jens Reich erinnert sich, wie er während seines Anatomiestudiums an der Berliner Charité "die eindrucksvollen mikroskopischen Abbildungen und Beschreibungen der Hirnbahnen" von Julius Hallervorden und Hugo Spatz, dem Direktor des KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch, bewunderte. Studenten wurde mitgeteilt, hier hätten sich Menschen freiwillig in den Dienst der Wissenschaft gestellt. In Wahrheit handelte es sich um Gehirne von Kindern aus der Psychiatrischen Landesanstalt Brandenburg Görden, die während der Euthanasie-Aktion T 4 ermordet worden waren.
Wesentlich unbefangener äußerte sich Hallervorden im Juni 1945 gegenüber dem amerikanischen Offizier und Neuroanatomen Leo Alexander: "Ich habe so was gehört, daß das" - die Euthanasie - "gemacht werden soll, und dann bin ich zu denen hingegangen und habe gesagt: ,Na, Menschenskinder, wenn ihr nun die alle umbringt, dann nehmt doch wenigstens mal die Gehirne heraus, so daß das Material verwertet wird.' Sie fragten dann: ,Wie viele können Sie untersuchen?' Da sagte ich ihnen: ,Eine unbegrenzte Menge, je mehr, desto lieber.'" Allerdings hielt es Hallervorden für opportun, dem Kollegen Alexander zu verschweigen, daß er selbst die Prosektur von Görden als Außenstelle des KWI für Hirnforschung leitete.
Als das Max-Delbrück-Zentrum in Berlin-Buch Götz Aly 1994 zu einem Vortrag einlud, beschwor dieser einen Eklat herauf. Aly ließ es sich nicht nehmen, am früheren Standort des KWI für Hirnforschung auf die Kontinuität klinischer und experimenteller Kooperation in Buch hinzuweisen: "Nach einiger Unruhe gegen Ende der Rede kam es während der Diskussion fast zu Tätlichkeiten, anschließend schied man grußlos", schreibt Aly. "Voller Empörung", heißt es in der Hauszeitschrift "MDC-Report", "wiesen einige Wissenschaftler die Schlußfolgerung Alys zurück, daß, indem das MDC sich auf die ,Tradition Buchs' beruft, eine Linie zu den Nationalsozialisten gezogen werden könne." Aly hatte trotz allzu grober Gleichsetzung von nationalsozialistischer mit bundesdeutscher Forschungsorganisation einen Nerv getroffen. Die von KWI und MPG betriebene Grundlagenforschung gehorcht nämlich keineswegs nur dem "reinen Erkenntnistrieb".
Der Erste Weltkrieg kreierte einen neuen Forschertyp, der sich zum Wohl des Vaterlandes ebenso selbstlos wie total mobilisierte. Prototypisch verkörpert wird er ausgerechnet von Fritz Haber, der sich wegen seiner jüdischen Herkunft bereits 1933 zum Rücktritt von seinem Posten als Direktor des KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie genötigt sah. Habers zentrales Anliegen sei es gewesen, so seine Biographin Margit Szöllösi-Janze, einen "inneren Zusammenhang" zwischen Militär, Industrie und Forschung zu stiften und zu institutionalisieren. Hinter der anrüchigen Zuschreibung als "Vater des Giftgaskrieges" verbirgt sich der moderne Typ des Forschungsmanagers, der sich und sein Fachgebiet zur Lösung wissenschaftsfremder Probleme empfielt. Dank Habers überragender Fähigkeiten als Mediator, Organisator und Innovator rückte die KWG, so Szöllösi-Janze, "näher an den nationalen Staat und vor allem näher an das Militär heran, was den Spielraum und die Verhaltensweise der Gesellschaft in der Zeit des ,Dritten Reichs' mitbestimmen sollte". Von der Kooperation zur Kollaboration war es fortan nur noch ein kleiner Schritt.
Andere KWI-Direktoren taten es Haber nach, allen voran Adolf Butenandt. Bei ihm weiß man nicht, was mehr zu bewundern ist: seine bahnbrechende Arbeit auf dem Gebiet der Hormonforschung, die ihm 1939 den Nobelpreis eintrug, oder seine überragenden Fähigkeiten als wissenschaftspolitischer Organisator. Er kooperierte mit der Luftwaffenforschungsstelle in Rechlin, wobei bis heute nicht geklärt werden konnte, ob seine Aktivitäten der Schädlingsbekämpfung oder der biologischen Kriegsführung galten. Ferner eiste er bei der Luftwaffe Fördermittel für das sogenannte Hämopoetinprojekt los, bei dem die Sauerstoffversorgung durch Vermehrung der roten Blutkörperchen verbessert werden sollte. Das klingt harmlos. Aber in einem ähnlichen Projekt hat Butenandts Mitarbeiter Gerhard Ruhenstroth-Bauer zusammen mit dem KWI-Humangenetiker Hans Nachtsheim sechs epileptische Kinder aus der Anstalt Brandenburg Görden in eine Unterdruckkammer gesetzt, um herauszufinden, ob eine erbliche Belastung bei Sauerstoffmangel schneller Krampfanfälle auslöse. Nach dem Krieg hat Ruhenstroth-Bauer, dem 1962 die Leitung des MPI für Biochemie übertragen wurde, auf den therapeutischen Zweck der Versuche verwiesen. Ernst Klee äußert den Verdacht, die Kinder seien später ermordet worden.
Unklar ist auch, so der amerikanische Wissenschaftshistoriker Robert N. Procter, in welcher Beziehung diese Versuche zu den ungleich grausameren Druckkammer-Experimenten in den Konzentrationslagern standen. Bei den von Butenandt eingefädelten Hämopoetin-Forschungen bleibt offen, ob menschliche Organe Verwendung fanden. Procter weist darauf hin, daß zu dieser Zeit "Menschenmaterial" oft in größeren Mengen als tierisches vorhanden war. Aus Butenandts nachgelassener Korrespondenz, die Procter einsehen durfte, gehe hervor, daß der Schritt "zum Menschenexperiment mit großer Ungeduld erwartet wurde".
Heikler noch und undurchsichtiger sind Butenandts mögliche Verbindungen zu Auschwitz. Er selbst erklärte, erst nach dem Krieg von den Vernichtungslagern gehört zu haben. Das klingt inzwischen wenig glaubwürdig, hatte doch sein Assistent und Vertrauter, der Serologe Günther Hillmann, am benachbarten Dahlemer KWI für Anthropologie an menschlicher Erblehre und Eugenik mit Gewebeproben gearbeitet, die aus Auschwitz stammten. Den guten Draht in das Vernichtungslager pflegte Karl Otmar Freiherr von Verschuer, zweiter Direktor am KWI für Anthropologie und sozusagen von Berufs wegen ein begeisterter Anhänger der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Sein ehemaliger Assistent Josef Mengele, der Lagerarzt von Auschwitz, lieferte frisch präparierte menschliche Organe in den beschaulichen Villenvorort: Augen ermordeter Zigeunerkinder für die Zwillingsforscherin Karin Magnussen, menschliche Blutproben für Verschuers und Hillmanns Eiweißforschungen. Nach dem Krieg war es Butenandts unermüdlichem Einsatz zu verdanken, daß Verschuer 1951 einen Lehrstuhl für Humangenetik in Münster erhielt. Dabei schreckte der Nobelpreisträger nicht davor zurück, auch Mengele zu attestieren, "über die Greuel und Morde in Auschwitz" nicht informiert gewesen zu sein. Inwieweit er selbst darüber im Bilde war, läßt sich nicht eindeutig nachweisen. Butenandt ließ seinen achtzig Regalmeter umfassenden Nachlaß im Archiv der MPG säubern.
Der Ruf nach historischen Aufarbeitung schwoll an, als Anfang der neunziger Jahre einige apologetische Darstellungen zur Geschichte der KWG erschienen waren. So die hagiographische Butenandt-Biographie seines Schülers Peter Karlson, welche die NSDAP-Mitgliedschaft ihres Gegenstandes ebenso leugnet wie Butenandts Verbindung zu Verschuer. Allzu beschönigend wurde die Zeit des Nationalsozialismus auch in der von Rudolf Vierhaus und Bernhard vom Brocke herausgegebenen Selbstdarstellung zur Geschichte von KWG und MPG behandelt. Unterdessen hatten sich auch im Umfeld der MPG kritische Stimmen erhoben. So veröffentlichte der emeritierte Neuropathologe und ehemalige MPG-Senator Jürgen Peiffer eine Reihe von medizingeschichtlichen Arbeiten, die 1997 in einer vielgelobten Studie über die Hirnforschung im Nationalsozialismus gipfelten. Ein übriges tat der Generationswechsel innerhalb der Forschungsgesellschaft. In der Not griff MPG-Präsident Hubert Markl zu einer bewährten Strategie, bei der auch bedrängte Vorstände historisch einschlägig belasteter Unternehmen Zuflucht suchten: Er berief eine unabhängige Historikerkommission zur "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" unter Vorsitz von Reinhard Rürup (Berlin) und Wolfgang Schieder (Köln).
Unter der Leitung von Carola Sachse sollen sich die sechs Mitarbeiter des zunächst bis 2003 befristeten Projekts neben den Biowissenschaften mit Ost- und "Lebensraumforschung", Rüstungsforschung, der Politik der Generalverwaltung sowie den Fragen von Remigration und Wiedergutmachung beschäftigen. Reinhard Rürup hätte gerne noch das eine oder andere KWI untersuchen lassen, bei dem kein einschlägiger Anfangsverdacht besteht. Aber in Anbetracht der Fülle möglicher Forschungsgebiete erschien eine Beschränkung der Kommissionsarbeit geboten.
Offenbar wollte man den aufgeheizten Disput in das kühle ruhige Fahrwasser des akademischen Betriebs überführen. Die Öffentlichkeit habe ein Recht auf Aufklärung, lautete vor zwei Jahren die Devise von MPG-Präsident Hubert Markl, "aber ihrem Wunsch nach Sofortaktionen muß man widerstehen". Damit sollten die alten Kritiker in ihre Schranken gewiesen werden. Was sich beinahe gerächt hätte. Benno Müller-Hill hatte im September 1999 vergeblich eine Geste der Entschuldigung gegenüber den Opfern angemahnt. Daraufhin ritt Ernst Klee in der "Zeit" eine scharfe Attacke gegen die MPG. Markls kühle Antwort: "Wohlfeiles Bedauern und leicht hervorzurufender Ausdruck der Scham blieben gefühlsbetonte, wenn auch öffentlichkeitswirksame Äußerungen, wenn nicht etwas Wichtigeres hinzukäme: rückhaltlose Aufklärung und Offenlegung der Wahrheit." Selbst eine "ehrlich gemeinte Demonstration der Abscheu vor den Vergehen anderer", so Markl, "könnte dadurch allzu leicht wie eine Inszenierung von Scham für politisch korrekte Zwecke erscheinen".
Wegen der hochfahrenden Diskreditierung des Forschungsstandes müssen den Kommissionshistorikern die Haare zu Berge gestanden haben. Eine Präsidentenbelehrung erfolgte prompt. In einem Vorabdruck über "den gegenwärtigen Wissensstand" biowissenschaftlicher Forschung der KWG kommen Carola Sachse und Benoît Massin zu dem Ergebnis: Die "Beteiligungen von Kaiser-Wilhelm-Instituten im Bereich der Biowissenschaften und einer nicht geringen Zahl namentlich bekannter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an der nationalsozialistischen Rasse- und Vernichtungspolitik" seien "hinreichend belegt". Der MPG-Präsident reagierte umgehend. Anläßlich einer Konferenz im Juni 2001 sprach er die lange erwartete Entschuldigung aus (F.A.Z. vom 18. Juni 2001) - obwohl die "Präsidentenkommission" bis dahin kaum neue Ergebnisse vorweisen konnte. Der etwas unfreiwillige Kurswechsel kam Markl durchaus zupaß. Durch das klare Bekenntnis zur Schuld deutscher Biowissenschaftler im Dritten Reich distanzierte sich die MPG deutlich von derartigen Machenschaften und stellte sich selbst einen moralischen Freifahrtschein in der aktuellen biopolitischen Debatte aus.
Markls öffentliche Geste könnte aber auch Druck von der Forschungskommission genommen haben. "Wir standen ständig in der Kritik, Weißwäsche zu betreiben", seufzt Projektleiterin Carola Sachse. Als Doris Kaufmann das Programm entwickelt hatte, sei Butenandt noch kein Thema gewesen. Aber nach Klees und Müller-Hills Angriffen war er eins. Auch intern, so Reinhard Rürup, "rumort es bei Butenandt am meisten". Eine hochkarätige Arbeitsgruppe unter der Leitung von Wolfgang Schieder, Paul Weindling (Oxford) und Hans-Jörg Rheinberger (MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin) soll das "Netzwerk Butenandt" untersuchen. Das klingt nach einer Operation am offenen Herzen.
Zumindest vorerst drohen keine weiteren Komplikationen. Die jüngsten Verlautbarungen der alten Kritiker lassen die gefürchtete Wucht vermissen. Benno Müller-Hill konnte als Gastforscher der Präsidentenkommission ebensowenig mit neuen Ergebnissen aufwarten wie Ernst Klee in seinem jüngsten Buch. Auch bei den Reizthemen Euthanasie und Hirnforschung ist Beruhigung eingetreten: "Das müssen wir nicht mehr vorrangig bearbeiten", erklärt Carola Sachse mit Blick auf den Forschungsstand. Der Zustand des Patienten scheint sich zu stabilisieren.
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Taten deutscher Wissenschaftler innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft während des Dritten Reiches und danach: Ein Forschungsbericht / Von Frank Ebbinghaus
Das Gebot historischer Aufklärung steht bei seinen Adressaten im Ruch einer gefährlichen Krankheit. Je unheilvoller die Diagnose, desto heftiger der Widerstand. Der Patient windet sich auf seinem Lager, streitet unter allerlei Verwünschungen die medizinischen Befunde ab - um schließlich die Vergeblichkeit allen Leugnens am eigenen Leib erfahren zu müssen. In diesem Moment größter Ohnmacht verliert die Aussicht auf eine Roßkur ihren Schrecken. Die herbeigerufenen Ärzte können gar nicht prominent genug, ihre Ratschlüsse an Deutlichkeit kaum zu übertreffen sein: Der Kranke wird nicht müde, ihre Kunst zu rühmen, die er zuvor noch nach Leibeskräften bestritten hat. Dies ist die Stunde der unabhängigen Historikerkommissionen.
Wie hat sich die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) nicht gewunden, hat geleugnet und gedroht, als es um die historische Aufarbeitung ihrer Vorgängerinstitution, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), im Dritten Reich ging. Götz Aly mußte sich 1984 der Unterstützung des hessischen Datenschutzbeauftragten versichern, um die Akten des Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) für Hirnforschung aus der Zeit des Nationalsozialismus zu sichten, die seit 1956 im Frankfurter Edinger-Institut untergebracht waren. Eine Sekretärin drückte dem verdutzten Historiker einen Kreuzschraubenzieher in die Hand und empfahl ihm, die Holzpaneele des Institutsflurs zu entfernen. Dahinter befanden sich zahlreiche Sektionsberichte, die Licht in die Verbindung des KWI zur Euthanasieaktion T 4 brachten. Als der Kölner Genetiker Benno Müller-Hill Anfang der achtziger Jahre an seinem Buch "Tödliche Wissenschaft" schrieb, drohten ihm Mitglieder der Gesellschaft, darunter der Nobelpreisträger und MPG-Ehrenpräsident Adolf Butenandt, mit Klagen, falls das Werk erscheine. Sie wußten, warum. "Wenn ich heute an die Wirkungsgeschichte der Genetik in Anthropologie und Psychiatrie denke", schreibt Müller-Hill, "dann sehe ich Wüsten der Zerstörung. Das millionenhaft vergossene Blut der anderen ist mit größter Intensität vergessen worden. Die jüngste Wirkungsgeschichte dieser genetisch denkenden Humanwissenschaften ist wirr und voller Verbrechen wie nur ein böser Traum. Aus diesem Traum sind viele Genetiker, Anthropologen und Psychiater in den tiefen Schlaf der Erinnerungslosigkeit geglitten."
Entsetzen zumal bei jüngeren Forschern rief der Umstand hervor, daß Ikonen der deutschen Biowissenschaften, die auch nach 1945 in hohem Ansehen standen, während des Nationalsozialismus euphorisch den Boden für die Aussonderung und Vernichtung von Juden, Geisteskranken und Zigeunern bereiteten, um sich dann für Versuchszwecke hemmungslos der Organe von Mordopfern zu bedienen. Zum aufklärerischen Ton, den Forscher wie Benno Müller-Hill, Götz Aly und Ernst Klee anstimmen, gehört das Memento einer ebenso unheilvollen wie ungebrochenen Kontinuität biowissenschaftlicher Forschung. In der Tat bedeutete das Kriegsende auch für die deutschen Naturwissenschaften keine Stunde Null. Deren Führungskräfte bildeten effiziente Seilschaften, die kompromittierten Forschern zum neuen Lehrstuhl im Nachkriegsdeutschland verhalfen.
Ausgesperrt blieb dagegen, wer im Nationalsozialismus aus rassischen oder politischen Gründen seine Stelle verlor. Lediglich zwei von zweiundachtzig emigrierten Forschern erhielten nach dem Krieg eine Anstellung in der MPG. Max Ufer, der im Oktober 1933 das KWI für Züchtungsforschung verlassen mußte, weil er die Scheidung von seiner jüdischen Ehefrau verweigerte, wurde 1952 nach einem entwürdigenden Geschacher um die Finanzierung seiner Wiedereinstellung gewarnt: Er möge doch bitte davon absehen, auf dem Institutsgelände zu wohnen, da hier seine Ehefrau vor antisemitischen Diffamierungen nicht sicher sei. Fluchtartig verließ Ufer nach dem Einstellungsgespräch Deutschland. Vier Jahre später stellte er erneut einen Antrag auf Wiedergutmachung. Eine Evaluierung seiner wissenschaftlichen Leistungen kam jedoch zu einem negativen Befund. Ufers Arbeiten, so der Botaniker Hans Stubbe, der nach 1945 in der DDR Karriere machte, "überragen keinesfalls den Durchschnitt". Mit diesem Argument, resümiert Ernst Klee sarkastisch, "hätte er auch einem nach Auschwitz Deportierten vorwerfen können, er habe nicht genug publiziert".
Kein Wunder, daß Emigranten angewidert Abstand wahrten. So klagte der von den Nazis vertriebene Nobelpreisträger Otto Meyerhof 1948 gegenüber Otto Hahn, dem ersten MPG-Nachkriegspräsidenten, über Ernst Telschow, den seit 1937 amtierenden Chef der Generalverwaltung von KWG und MPG: "Ich habe ihn als einen sehr lausigen Intriganten kennengelernt, dessen Doppelzüngigkeit der Verlust meines Besitzes und meiner Bibliothek zu verdanken ist und der mich um ein Haar um meinen Reisepaß gebracht hätte, mit allen Konsequenzen, die das im Jahr 1938 bedeutet hat." Telschow amtierte bis 1960.
Je mehr sich die MPG einschlägigen Anwürfen ausgesetzt sah, desto tiefer verschanzte sie sich in ihrer Wagenburg. Klagen über das "Sammelbecken ehemaliger Nationalsozialisten" (Max Ufer) suchte man durch eine aseptische Selbstbetrachtung zu neutralisieren. Nachdrücklich beharrten die Verantwortlichen darauf, in schweren Zeiten am "Prinzip der Distanz zum Staat" (Butenandt) festgehalten zu haben und nicht dem "Führer", sondern dem "reinen Erkenntnistrieb" gefolgt zu sein. Pflichtschuldig beklagte man die "unwiederbringlichen Verluste" an hochqualifizierten Wissenschaftlern, unterschlug jedoch geflissentlich den eigenen Beitrag zur Vertreibung jüdischer Forscher.
Es bedurfte lediglich einiger Retuschen, damit die braunen Flecken vom strahlendweißen Forscherkittel verschwanden. Umstandslos wurden Opfer, die erst für medizinische Experimente mißbraucht, dann ermordet wurden und schließlich der Wissenschaft als Organbank zu dienen hatten, in Patienten umgewidmet. Der Molekularbiologe Jens Reich erinnert sich, wie er während seines Anatomiestudiums an der Berliner Charité "die eindrucksvollen mikroskopischen Abbildungen und Beschreibungen der Hirnbahnen" von Julius Hallervorden und Hugo Spatz, dem Direktor des KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch, bewunderte. Studenten wurde mitgeteilt, hier hätten sich Menschen freiwillig in den Dienst der Wissenschaft gestellt. In Wahrheit handelte es sich um Gehirne von Kindern aus der Psychiatrischen Landesanstalt Brandenburg Görden, die während der Euthanasie-Aktion T 4 ermordet worden waren.
Wesentlich unbefangener äußerte sich Hallervorden im Juni 1945 gegenüber dem amerikanischen Offizier und Neuroanatomen Leo Alexander: "Ich habe so was gehört, daß das" - die Euthanasie - "gemacht werden soll, und dann bin ich zu denen hingegangen und habe gesagt: ,Na, Menschenskinder, wenn ihr nun die alle umbringt, dann nehmt doch wenigstens mal die Gehirne heraus, so daß das Material verwertet wird.' Sie fragten dann: ,Wie viele können Sie untersuchen?' Da sagte ich ihnen: ,Eine unbegrenzte Menge, je mehr, desto lieber.'" Allerdings hielt es Hallervorden für opportun, dem Kollegen Alexander zu verschweigen, daß er selbst die Prosektur von Görden als Außenstelle des KWI für Hirnforschung leitete.
Als das Max-Delbrück-Zentrum in Berlin-Buch Götz Aly 1994 zu einem Vortrag einlud, beschwor dieser einen Eklat herauf. Aly ließ es sich nicht nehmen, am früheren Standort des KWI für Hirnforschung auf die Kontinuität klinischer und experimenteller Kooperation in Buch hinzuweisen: "Nach einiger Unruhe gegen Ende der Rede kam es während der Diskussion fast zu Tätlichkeiten, anschließend schied man grußlos", schreibt Aly. "Voller Empörung", heißt es in der Hauszeitschrift "MDC-Report", "wiesen einige Wissenschaftler die Schlußfolgerung Alys zurück, daß, indem das MDC sich auf die ,Tradition Buchs' beruft, eine Linie zu den Nationalsozialisten gezogen werden könne." Aly hatte trotz allzu grober Gleichsetzung von nationalsozialistischer mit bundesdeutscher Forschungsorganisation einen Nerv getroffen. Die von KWI und MPG betriebene Grundlagenforschung gehorcht nämlich keineswegs nur dem "reinen Erkenntnistrieb".
Der Erste Weltkrieg kreierte einen neuen Forschertyp, der sich zum Wohl des Vaterlandes ebenso selbstlos wie total mobilisierte. Prototypisch verkörpert wird er ausgerechnet von Fritz Haber, der sich wegen seiner jüdischen Herkunft bereits 1933 zum Rücktritt von seinem Posten als Direktor des KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie genötigt sah. Habers zentrales Anliegen sei es gewesen, so seine Biographin Margit Szöllösi-Janze, einen "inneren Zusammenhang" zwischen Militär, Industrie und Forschung zu stiften und zu institutionalisieren. Hinter der anrüchigen Zuschreibung als "Vater des Giftgaskrieges" verbirgt sich der moderne Typ des Forschungsmanagers, der sich und sein Fachgebiet zur Lösung wissenschaftsfremder Probleme empfielt. Dank Habers überragender Fähigkeiten als Mediator, Organisator und Innovator rückte die KWG, so Szöllösi-Janze, "näher an den nationalen Staat und vor allem näher an das Militär heran, was den Spielraum und die Verhaltensweise der Gesellschaft in der Zeit des ,Dritten Reichs' mitbestimmen sollte". Von der Kooperation zur Kollaboration war es fortan nur noch ein kleiner Schritt.
Andere KWI-Direktoren taten es Haber nach, allen voran Adolf Butenandt. Bei ihm weiß man nicht, was mehr zu bewundern ist: seine bahnbrechende Arbeit auf dem Gebiet der Hormonforschung, die ihm 1939 den Nobelpreis eintrug, oder seine überragenden Fähigkeiten als wissenschaftspolitischer Organisator. Er kooperierte mit der Luftwaffenforschungsstelle in Rechlin, wobei bis heute nicht geklärt werden konnte, ob seine Aktivitäten der Schädlingsbekämpfung oder der biologischen Kriegsführung galten. Ferner eiste er bei der Luftwaffe Fördermittel für das sogenannte Hämopoetinprojekt los, bei dem die Sauerstoffversorgung durch Vermehrung der roten Blutkörperchen verbessert werden sollte. Das klingt harmlos. Aber in einem ähnlichen Projekt hat Butenandts Mitarbeiter Gerhard Ruhenstroth-Bauer zusammen mit dem KWI-Humangenetiker Hans Nachtsheim sechs epileptische Kinder aus der Anstalt Brandenburg Görden in eine Unterdruckkammer gesetzt, um herauszufinden, ob eine erbliche Belastung bei Sauerstoffmangel schneller Krampfanfälle auslöse. Nach dem Krieg hat Ruhenstroth-Bauer, dem 1962 die Leitung des MPI für Biochemie übertragen wurde, auf den therapeutischen Zweck der Versuche verwiesen. Ernst Klee äußert den Verdacht, die Kinder seien später ermordet worden.
Unklar ist auch, so der amerikanische Wissenschaftshistoriker Robert N. Procter, in welcher Beziehung diese Versuche zu den ungleich grausameren Druckkammer-Experimenten in den Konzentrationslagern standen. Bei den von Butenandt eingefädelten Hämopoetin-Forschungen bleibt offen, ob menschliche Organe Verwendung fanden. Procter weist darauf hin, daß zu dieser Zeit "Menschenmaterial" oft in größeren Mengen als tierisches vorhanden war. Aus Butenandts nachgelassener Korrespondenz, die Procter einsehen durfte, gehe hervor, daß der Schritt "zum Menschenexperiment mit großer Ungeduld erwartet wurde".
Heikler noch und undurchsichtiger sind Butenandts mögliche Verbindungen zu Auschwitz. Er selbst erklärte, erst nach dem Krieg von den Vernichtungslagern gehört zu haben. Das klingt inzwischen wenig glaubwürdig, hatte doch sein Assistent und Vertrauter, der Serologe Günther Hillmann, am benachbarten Dahlemer KWI für Anthropologie an menschlicher Erblehre und Eugenik mit Gewebeproben gearbeitet, die aus Auschwitz stammten. Den guten Draht in das Vernichtungslager pflegte Karl Otmar Freiherr von Verschuer, zweiter Direktor am KWI für Anthropologie und sozusagen von Berufs wegen ein begeisterter Anhänger der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Sein ehemaliger Assistent Josef Mengele, der Lagerarzt von Auschwitz, lieferte frisch präparierte menschliche Organe in den beschaulichen Villenvorort: Augen ermordeter Zigeunerkinder für die Zwillingsforscherin Karin Magnussen, menschliche Blutproben für Verschuers und Hillmanns Eiweißforschungen. Nach dem Krieg war es Butenandts unermüdlichem Einsatz zu verdanken, daß Verschuer 1951 einen Lehrstuhl für Humangenetik in Münster erhielt. Dabei schreckte der Nobelpreisträger nicht davor zurück, auch Mengele zu attestieren, "über die Greuel und Morde in Auschwitz" nicht informiert gewesen zu sein. Inwieweit er selbst darüber im Bilde war, läßt sich nicht eindeutig nachweisen. Butenandt ließ seinen achtzig Regalmeter umfassenden Nachlaß im Archiv der MPG säubern.
Der Ruf nach historischen Aufarbeitung schwoll an, als Anfang der neunziger Jahre einige apologetische Darstellungen zur Geschichte der KWG erschienen waren. So die hagiographische Butenandt-Biographie seines Schülers Peter Karlson, welche die NSDAP-Mitgliedschaft ihres Gegenstandes ebenso leugnet wie Butenandts Verbindung zu Verschuer. Allzu beschönigend wurde die Zeit des Nationalsozialismus auch in der von Rudolf Vierhaus und Bernhard vom Brocke herausgegebenen Selbstdarstellung zur Geschichte von KWG und MPG behandelt. Unterdessen hatten sich auch im Umfeld der MPG kritische Stimmen erhoben. So veröffentlichte der emeritierte Neuropathologe und ehemalige MPG-Senator Jürgen Peiffer eine Reihe von medizingeschichtlichen Arbeiten, die 1997 in einer vielgelobten Studie über die Hirnforschung im Nationalsozialismus gipfelten. Ein übriges tat der Generationswechsel innerhalb der Forschungsgesellschaft. In der Not griff MPG-Präsident Hubert Markl zu einer bewährten Strategie, bei der auch bedrängte Vorstände historisch einschlägig belasteter Unternehmen Zuflucht suchten: Er berief eine unabhängige Historikerkommission zur "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" unter Vorsitz von Reinhard Rürup (Berlin) und Wolfgang Schieder (Köln).
Unter der Leitung von Carola Sachse sollen sich die sechs Mitarbeiter des zunächst bis 2003 befristeten Projekts neben den Biowissenschaften mit Ost- und "Lebensraumforschung", Rüstungsforschung, der Politik der Generalverwaltung sowie den Fragen von Remigration und Wiedergutmachung beschäftigen. Reinhard Rürup hätte gerne noch das eine oder andere KWI untersuchen lassen, bei dem kein einschlägiger Anfangsverdacht besteht. Aber in Anbetracht der Fülle möglicher Forschungsgebiete erschien eine Beschränkung der Kommissionsarbeit geboten.
Offenbar wollte man den aufgeheizten Disput in das kühle ruhige Fahrwasser des akademischen Betriebs überführen. Die Öffentlichkeit habe ein Recht auf Aufklärung, lautete vor zwei Jahren die Devise von MPG-Präsident Hubert Markl, "aber ihrem Wunsch nach Sofortaktionen muß man widerstehen". Damit sollten die alten Kritiker in ihre Schranken gewiesen werden. Was sich beinahe gerächt hätte. Benno Müller-Hill hatte im September 1999 vergeblich eine Geste der Entschuldigung gegenüber den Opfern angemahnt. Daraufhin ritt Ernst Klee in der "Zeit" eine scharfe Attacke gegen die MPG. Markls kühle Antwort: "Wohlfeiles Bedauern und leicht hervorzurufender Ausdruck der Scham blieben gefühlsbetonte, wenn auch öffentlichkeitswirksame Äußerungen, wenn nicht etwas Wichtigeres hinzukäme: rückhaltlose Aufklärung und Offenlegung der Wahrheit." Selbst eine "ehrlich gemeinte Demonstration der Abscheu vor den Vergehen anderer", so Markl, "könnte dadurch allzu leicht wie eine Inszenierung von Scham für politisch korrekte Zwecke erscheinen".
Wegen der hochfahrenden Diskreditierung des Forschungsstandes müssen den Kommissionshistorikern die Haare zu Berge gestanden haben. Eine Präsidentenbelehrung erfolgte prompt. In einem Vorabdruck über "den gegenwärtigen Wissensstand" biowissenschaftlicher Forschung der KWG kommen Carola Sachse und Benoît Massin zu dem Ergebnis: Die "Beteiligungen von Kaiser-Wilhelm-Instituten im Bereich der Biowissenschaften und einer nicht geringen Zahl namentlich bekannter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an der nationalsozialistischen Rasse- und Vernichtungspolitik" seien "hinreichend belegt". Der MPG-Präsident reagierte umgehend. Anläßlich einer Konferenz im Juni 2001 sprach er die lange erwartete Entschuldigung aus (F.A.Z. vom 18. Juni 2001) - obwohl die "Präsidentenkommission" bis dahin kaum neue Ergebnisse vorweisen konnte. Der etwas unfreiwillige Kurswechsel kam Markl durchaus zupaß. Durch das klare Bekenntnis zur Schuld deutscher Biowissenschaftler im Dritten Reich distanzierte sich die MPG deutlich von derartigen Machenschaften und stellte sich selbst einen moralischen Freifahrtschein in der aktuellen biopolitischen Debatte aus.
Markls öffentliche Geste könnte aber auch Druck von der Forschungskommission genommen haben. "Wir standen ständig in der Kritik, Weißwäsche zu betreiben", seufzt Projektleiterin Carola Sachse. Als Doris Kaufmann das Programm entwickelt hatte, sei Butenandt noch kein Thema gewesen. Aber nach Klees und Müller-Hills Angriffen war er eins. Auch intern, so Reinhard Rürup, "rumort es bei Butenandt am meisten". Eine hochkarätige Arbeitsgruppe unter der Leitung von Wolfgang Schieder, Paul Weindling (Oxford) und Hans-Jörg Rheinberger (MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin) soll das "Netzwerk Butenandt" untersuchen. Das klingt nach einer Operation am offenen Herzen.
Zumindest vorerst drohen keine weiteren Komplikationen. Die jüngsten Verlautbarungen der alten Kritiker lassen die gefürchtete Wucht vermissen. Benno Müller-Hill konnte als Gastforscher der Präsidentenkommission ebensowenig mit neuen Ergebnissen aufwarten wie Ernst Klee in seinem jüngsten Buch. Auch bei den Reizthemen Euthanasie und Hirnforschung ist Beruhigung eingetreten: "Das müssen wir nicht mehr vorrangig bearbeiten", erklärt Carola Sachse mit Blick auf den Forschungsstand. Der Zustand des Patienten scheint sich zu stabilisieren.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Udo Benzenhöfer tut es nicht gerne, aber er sieht sich genötigt, dieses "unzweifelhaft lobenswerte" Buch über die Verbrechen der deutschen Medizin im Dritten Reich und deren Vertuschung nach dem Krieg zu kritisieren. Zunächst stört ihn, dass der Studie ein "systematischer Aufbau" fehlt und so heterogene Themen wie "Rassenhygiene", "NS-Medizin" und der Werdegang von Ärzten nach dem Krieg einfach nebeneinander gestellt werden. Zudem werde trotz "zahlreicher neuer Detailinformationen", die der Rezensent durchaus würdigt, zu viel lediglich "angedeutet", moniert Benzenhöfer. Dass dann auch noch "Ungenauigkeiten und Fehler" zu finden sind, bedauert der Rezensent nachdrücklich, und das um so mehr, als er findet, ein Buch über die Medizin im Dritten Reich gehöre in jede "zeitgeschichtliche Bibliothek".
© Perlentaucher Medien GmbH
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