Die traditionelle Militärgeschichtsschreibung war die Geschichte der Strategie, der Schlachten und der Helden, der tragischen wie der strahlenden. Seit einigen Jahren nimmt sie sich aber auch der "Heimatfront", der Bevölkerung im Krieg an.
"Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" ist das konkurrenzlose Standardwerk, das nun in bewährter Weise das Thema "Gesellschaft im Krieg" behandelt. Hier schreiben die führenden Experten für die Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs über alle Aspekte der deutschen Gesellschaft, einschließlich der besetzten Länder, in den Jahren 1939 bis 1945. Thematisiert werden unter anderem die Herrschaft der NSDAP, der Alltag im Bombenkrieg, der militärische Widerstand und die Mobilisierung der Menschen durch die Propaganda.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
"Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" ist das konkurrenzlose Standardwerk, das nun in bewährter Weise das Thema "Gesellschaft im Krieg" behandelt. Hier schreiben die führenden Experten für die Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs über alle Aspekte der deutschen Gesellschaft, einschließlich der besetzten Länder, in den Jahren 1939 bis 1945. Thematisiert werden unter anderem die Herrschaft der NSDAP, der Alltag im Bombenkrieg, der militärische Widerstand und die Mobilisierung der Menschen durch die Propaganda.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Albtraum der Moderne
Das Militärgeschichtliche Forschungsamt wiegt den Landser und wägt die deutsche Gesellschaft im Krieg / Von Michael Salewski
Nur weil er lange schlief, hat man ihn vergessen: den Krieg als natürliche Lebensform. Genauso haben ihn alle begriffen, die vor und im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen sind und nie etwas anderes als Nachkriegs-, Vorkriegs- und Kriegszeiten gekannt haben. Die Variationen des Phänomens Krieg waren für diese Jahrgänge nicht Ausnahme, sondern Normalität. Deswegen ist es fragwürdig, von der "Kriegsgesellschaft" zu sprechen und sie von einer "Friedensgesellschaft" abzugrenzen. Das ist eine Deutung ex posteriori. Der Krieg war Generationen von Deutschen nichts Akzidentielles, sondern Existentielles und in den längsten Perioden der Geschichte immer gewöhnlicher als der Frieden. Deswegen war es logisch, wenn die NS-Propaganda behauptete, mit dem Verlust des Krieges würde die Vernichtung des deutschen Volkes einhergehen, damit Volk und Krieg gleichsetzte. Das Kriegervolk zu erhalten und zum Herrscher der Welt zu machen, bedurfte es eines "Endsieges", dem aber keineswegs das Ende des Krieges folgen mußte: Der Krieg wäre, auf eine andere Ebene gehoben, zu einem ewigen geworden.
Das nationalsozialistische Regime war die nahezu perfekte Inkarnation der durch und durch häßlichen Lebensform Krieg, und zwar seit 1933. Nicht nur Terror, Zwang, Propaganda, sondern gerade die vermeintlich friedlichen und unpolitischen Nischen und Oasen im Gebilde "Drittes Reich" konstruierten es wesentlich mit; ohne diese hätte es sich nicht halten können, sondern wäre binnen kurzem an der lähmenden Angst, die es erzeugte, erstickt - wie die terreur unter Robespierre, dem "Unbestechlichen". Auch Hitler galt im Volk als unbestechlich, zugleich als guter Mensch; das zieht sich wie ein brauner Faden durch die Geschichte der deutschen "Kriegsgesellschaft". Solange er lebte, konnte das Schlimmste gar nicht eintreten. Das glaubten die meisten Menschen noch bis in den April 1945 hinein - als an die Propaganda schon lange niemand mehr glaubte. Den Krieg atmeten die Menschen ein wie die Luft, er gehörte zum Leben, er machte es bewußt, das führte zu einer Realität des totalen Krieges, die mit deren Idee Ludendorffschen Zuschnitts nichts zu tun hatte. In dieser Totalität gab es alles, was das menschliche Leben überhaupt ausmacht: Geburt und Tod, Freude und Leid, Gewinn und Verlust, Haß, Liebe und Sexualität, Stimmungen, Gefühle, Emotionen, Affekte: und dies in der Heimat wie an der Front und in den besetzten Gebieten. Bei den Deutschen wie den elf Millionen "Ausländern", zumeist Zwangsarbeitern, im Reich. Denen ging es leidlich gut, wenn sie der "richtigen Rasse" und Geschichte angehörten, und entsetzlich schlecht, wenn sie durch diese Raster fielen.
Ähnlich heterogen sah es bei den Kriegsgefangenen aus. Die amerikanischen und englischen lebten fast wie auf einer Insel der Seligen im Schutz der Genfer Konventionen; andere, vor allem die russischen und italienischen, in einer Hölle. Ganz eigene Lebensformen, oft skurril und gespenstisch, entwickelten sich in der Zwangsgemeinschaft von Deutschen und Fremden, fern der angeblich allwissenden NSDAP. So ineinander verwoben und deswegen ineffizient waren die metastasengleich sich ausbreitenden bürokratischen Strukturen dieses außer jegliche sittliche Kontrolle geratenen Gemeinwesens, daß kein Staatsapparat, kein Terrorinstrument, schon gar keine Gestapo immer und überall massiv eingreifen konnten; auch die Propaganda, selbst in Form des Films oder der Wochenschau, versagte, was übrigens niemand besser wußte als Propagandaminister Goebbels.
Das "Dritte Reich" war trotz oft gegenteiligen Eindrucks kein Produkt der Moderne, nur dessen Albtraum. Korruption und schamlose Bereicherung waren entgegen allem äußeren Anschein höchst gewöhnlich. Die großen Konzerne, aber auch kleinere Firmen profitierten vom "totalen" Kriegseinsatz und konnten - den Bomben zum Trotz - ungeheuer expandieren, zum Schluß unter die Erde, wo, wie im "Mittelbau Dora" bei Nordhausen, ein entsetzlicher Hades der Morlocken entstand - errichtet von einem Heer von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern, rücksichtslos ausgebeutetem "Untermenschenmaterial". Natürlich gab es Unterschiede. Der eine Ostarbeiter durfte am Tisch eines Bauern mitessen. Der andere wurde von einem anderen straflos erschlagen. Es gab Barmherzigkeit wie Widerstand, aber die "Umgebungsgesellschaft" war von einer unfaßbaren Unbarmherzigkeit, selbst in den siegenden Zeiten des Regimes. Dann wurde es schlimmer: Bomben fallen - aber nur Deutsche und "Arier" dürfen in die Bunker; die Juden, die Zwangsarbeiter, die sie unter Qualen gebaut haben, werden von jenen, die sie befreien wollen, aus der Luft massenhaft getötet. Später sehen die Volksgenossen teilnahmslos zu, wie die Überlebenden die Toten bergen und in schaurigen Autodafés verbrennen müssen.
Die nachgeborenen Historiker plagen sich damit ab, das alles doch noch zu rationalisieren, zu verstehen - wie jetzt auf den vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt vorgelegten zweitausend Seiten. Sie versuchen es makro- und mikrohistorisch, postmodern und statistisch, psychologisierend und vergleichend. Die redlichen Beiträge der dreiundzwanzig Autorinnen und Autoren, wissenschaftlich meist auf dem neuesten Stand, eint aber nur eins: ihre Heterogenität. Ohne es zu wollen und zu reflektieren, bilden sie damit genau das ab, was wir uns unter dem "Dritten Reich" fortan vorstellen sollten - jedenfalls kein in sich geschlossenes, rational agierendes Macht- und Terrorgebilde. Was aber dann? Das Potsdamer "Amt" hat mit diesen voluminösen Bänden eine Antwort versucht: vergeblich. Das ist keineswegs als Vorwurf gemeint, im Gegenteil: Man muß sich mit dem Gedanken anfreunden, daß die Geschichtswissenschaft angesichts der Jahre 1933 bis 1945 an ihre Grenzen gestoßen ist. Entlarvend ist folgendes Forschungsergebnis: Der deutsche Soldat war "durchschnittlich etwa 1,70 m groß und wog 66 kg . . . Etwa 9 Prozent der Soldaten waren untergewichtig, 16,68 übergewichtig, 74,23 Prozent der Soldaten besaßen jedoch ein als normal zu bezeichnendes Gewicht." Wollten wir das nicht schon immer wissen?
Von der Hermetik des Krieges haben bereits die Zeitgenossen etwas geahnt. Schon die englischen und amerikanischen Verhöroffiziere versuchten, die Deutschen zu verstehen, und der Aufstieg der angelsächsischen Soziologie nach 1945 basierte wesentlich auf den Grundlagen, die vor 1945 durch die massenhafte Befragung deutscher Kriegsgefangener gelegt worden sind. Gleichwohl sind die Ergebnisse ernüchternd und laufen nahezu allesamt auf ein Sowohl-Als-auch hinaus: Die deutschen Soldaten waren sowohl politisch indoktriniert als auch dagegen immun; sie kämpften in aussichtsloser Lage für "Volk und Vaterland" und für die eigene Primärgruppe, sie waren für die "Errungenschaften" des Nationalsozialismus empfänglich und kritisierten ihn zugleich. So ergibt sich weder ein eindeutiges, geschweige denn ein geschlossenes Bild. Nur die Person Hitlers scheint weitgehend standardisiert: Der "Führer" war an nichts schuld.
Wer aber dann? Manche Beiträge holen weit aus, weisen auf die Prädispositionen des Ersten Weltkrieges, der Weimarer Republik hin, was nicht neu ist. Natürlich gab es Kontinuitäten zwischen den beiden Weltkriegen, aber die hier vorliegende, ungemein quellen- und faktengesättigte Analyse macht es deutlich: Der Zweite Weltkrieg war keine Fortsetzung des Ersten, nicht die zweite Hälfte eines neuen Dreißigjährigen Krieges, sondern etwas ganz Einzigartiges. Die Kontinuitäten sind nicht so sehr von 1933 nach rückwärts als von 1945 nach vorwärts zu erkennen - ein überraschender und peinlicher Befund von Oliver Rathkolb, der an der These von der Stunde Null wieder einmal zweifeln läßt: Die beiden größten Errungenschaften der frühen Bundesrepublik: die Integration von dreizehn Millionen Flüchtlingen und das Phänomen des sogenannten Wirtschaftswunders gründeten vor 1945 auf der Ausbeutung von elf Millionen Fremd- und Zwangsarbeitern und nach 1945 auf deren verzugsloser Ersetzung durch ein nahezu gleich großes Heer von billigen Ostflüchtlingen.
Die Mittäterschaft "der Wirtschaft" an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird schonungslos aufgezeigt. Die Masse der Manager tat nicht das geringste, um das Leben der für sie Schuftenden vor allem in der Schlußphase des Krieges zu retten. Ausnahmen wie Oskar Schindler und Berthold Beitz zeigen, daß dies durchaus möglich gewesen wäre. Georg Wagner-Kyora kommt in seinem Beitrag zu einem vernichtenden Urteil: "Diese aktive Mithilfe in der letzten Etappe des Holocaust ist als das schwerste Kriegsverbrechen der deutschen Unternehmer und Spitzenmanager einzuschätzen."
Es ist wohltuend, daß sich alle Beiträger des Tu-quoque-Prinzips enthalten, ohne die Kriegsverbrechen der anderen Seite zu beschönigen. Harsch gehen alle Autoren mit jener Institution ins Gericht, die an der Spitze der Pyramide in der "Kriegsgesellschaft" stand: der Wehrmacht. 2,2 Millionen russische Kriegsgefangene, ihrer Obhut anvertraut, kamen durch Hunger, Kälte, Krankheit um. "Dies dürfte eines der größten deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gewesen sein, übertroffen nur noch von dem Mord an den Juden", stellt Rüdiger Overmanns fest.
Eine schlüssige Gesamtbilanz dieser beiden Bände ist nicht möglich. Vielleicht kommt Rafael A. Zagovec ihr am nächsten: "Das Gesamtbild ist das einer kollektiven Verstrickung, die anfangs mit leichter Hand eingegangen worden war, die sich durch vermeintliche Kriegserfolge verfestigte und die dann, als nicht mehr zu übersehen war, daß dieses Regime längst alle ethischen Normen außer Kraft gesetzt hatte, in eine Schuldgemeinschaft überging, in der sich die Furcht vor dem eigenen Terrorapparat und jene vor der Rache der Kriegsgegner zu einer unlösbaren Fessel verband. Bei aller Schuld, die diese Gesellschaft auf sich geladen hatte, liegt darin mehr als nur ein Moment der Tragik."
Jörg Echternkamp (Herausgeber): Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Erster Halbband: Politisierung, Vernichtung, Überleben. Zweiter Halbband: Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung. (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Band 9/1 und Band 9/2.) Deutsche Verlagsanstalt, München 2004 und 2005. 993 S. und 1112 S., je Halbband 49,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Militärgeschichtliche Forschungsamt wiegt den Landser und wägt die deutsche Gesellschaft im Krieg / Von Michael Salewski
Nur weil er lange schlief, hat man ihn vergessen: den Krieg als natürliche Lebensform. Genauso haben ihn alle begriffen, die vor und im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen sind und nie etwas anderes als Nachkriegs-, Vorkriegs- und Kriegszeiten gekannt haben. Die Variationen des Phänomens Krieg waren für diese Jahrgänge nicht Ausnahme, sondern Normalität. Deswegen ist es fragwürdig, von der "Kriegsgesellschaft" zu sprechen und sie von einer "Friedensgesellschaft" abzugrenzen. Das ist eine Deutung ex posteriori. Der Krieg war Generationen von Deutschen nichts Akzidentielles, sondern Existentielles und in den längsten Perioden der Geschichte immer gewöhnlicher als der Frieden. Deswegen war es logisch, wenn die NS-Propaganda behauptete, mit dem Verlust des Krieges würde die Vernichtung des deutschen Volkes einhergehen, damit Volk und Krieg gleichsetzte. Das Kriegervolk zu erhalten und zum Herrscher der Welt zu machen, bedurfte es eines "Endsieges", dem aber keineswegs das Ende des Krieges folgen mußte: Der Krieg wäre, auf eine andere Ebene gehoben, zu einem ewigen geworden.
Das nationalsozialistische Regime war die nahezu perfekte Inkarnation der durch und durch häßlichen Lebensform Krieg, und zwar seit 1933. Nicht nur Terror, Zwang, Propaganda, sondern gerade die vermeintlich friedlichen und unpolitischen Nischen und Oasen im Gebilde "Drittes Reich" konstruierten es wesentlich mit; ohne diese hätte es sich nicht halten können, sondern wäre binnen kurzem an der lähmenden Angst, die es erzeugte, erstickt - wie die terreur unter Robespierre, dem "Unbestechlichen". Auch Hitler galt im Volk als unbestechlich, zugleich als guter Mensch; das zieht sich wie ein brauner Faden durch die Geschichte der deutschen "Kriegsgesellschaft". Solange er lebte, konnte das Schlimmste gar nicht eintreten. Das glaubten die meisten Menschen noch bis in den April 1945 hinein - als an die Propaganda schon lange niemand mehr glaubte. Den Krieg atmeten die Menschen ein wie die Luft, er gehörte zum Leben, er machte es bewußt, das führte zu einer Realität des totalen Krieges, die mit deren Idee Ludendorffschen Zuschnitts nichts zu tun hatte. In dieser Totalität gab es alles, was das menschliche Leben überhaupt ausmacht: Geburt und Tod, Freude und Leid, Gewinn und Verlust, Haß, Liebe und Sexualität, Stimmungen, Gefühle, Emotionen, Affekte: und dies in der Heimat wie an der Front und in den besetzten Gebieten. Bei den Deutschen wie den elf Millionen "Ausländern", zumeist Zwangsarbeitern, im Reich. Denen ging es leidlich gut, wenn sie der "richtigen Rasse" und Geschichte angehörten, und entsetzlich schlecht, wenn sie durch diese Raster fielen.
Ähnlich heterogen sah es bei den Kriegsgefangenen aus. Die amerikanischen und englischen lebten fast wie auf einer Insel der Seligen im Schutz der Genfer Konventionen; andere, vor allem die russischen und italienischen, in einer Hölle. Ganz eigene Lebensformen, oft skurril und gespenstisch, entwickelten sich in der Zwangsgemeinschaft von Deutschen und Fremden, fern der angeblich allwissenden NSDAP. So ineinander verwoben und deswegen ineffizient waren die metastasengleich sich ausbreitenden bürokratischen Strukturen dieses außer jegliche sittliche Kontrolle geratenen Gemeinwesens, daß kein Staatsapparat, kein Terrorinstrument, schon gar keine Gestapo immer und überall massiv eingreifen konnten; auch die Propaganda, selbst in Form des Films oder der Wochenschau, versagte, was übrigens niemand besser wußte als Propagandaminister Goebbels.
Das "Dritte Reich" war trotz oft gegenteiligen Eindrucks kein Produkt der Moderne, nur dessen Albtraum. Korruption und schamlose Bereicherung waren entgegen allem äußeren Anschein höchst gewöhnlich. Die großen Konzerne, aber auch kleinere Firmen profitierten vom "totalen" Kriegseinsatz und konnten - den Bomben zum Trotz - ungeheuer expandieren, zum Schluß unter die Erde, wo, wie im "Mittelbau Dora" bei Nordhausen, ein entsetzlicher Hades der Morlocken entstand - errichtet von einem Heer von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern, rücksichtslos ausgebeutetem "Untermenschenmaterial". Natürlich gab es Unterschiede. Der eine Ostarbeiter durfte am Tisch eines Bauern mitessen. Der andere wurde von einem anderen straflos erschlagen. Es gab Barmherzigkeit wie Widerstand, aber die "Umgebungsgesellschaft" war von einer unfaßbaren Unbarmherzigkeit, selbst in den siegenden Zeiten des Regimes. Dann wurde es schlimmer: Bomben fallen - aber nur Deutsche und "Arier" dürfen in die Bunker; die Juden, die Zwangsarbeiter, die sie unter Qualen gebaut haben, werden von jenen, die sie befreien wollen, aus der Luft massenhaft getötet. Später sehen die Volksgenossen teilnahmslos zu, wie die Überlebenden die Toten bergen und in schaurigen Autodafés verbrennen müssen.
Die nachgeborenen Historiker plagen sich damit ab, das alles doch noch zu rationalisieren, zu verstehen - wie jetzt auf den vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt vorgelegten zweitausend Seiten. Sie versuchen es makro- und mikrohistorisch, postmodern und statistisch, psychologisierend und vergleichend. Die redlichen Beiträge der dreiundzwanzig Autorinnen und Autoren, wissenschaftlich meist auf dem neuesten Stand, eint aber nur eins: ihre Heterogenität. Ohne es zu wollen und zu reflektieren, bilden sie damit genau das ab, was wir uns unter dem "Dritten Reich" fortan vorstellen sollten - jedenfalls kein in sich geschlossenes, rational agierendes Macht- und Terrorgebilde. Was aber dann? Das Potsdamer "Amt" hat mit diesen voluminösen Bänden eine Antwort versucht: vergeblich. Das ist keineswegs als Vorwurf gemeint, im Gegenteil: Man muß sich mit dem Gedanken anfreunden, daß die Geschichtswissenschaft angesichts der Jahre 1933 bis 1945 an ihre Grenzen gestoßen ist. Entlarvend ist folgendes Forschungsergebnis: Der deutsche Soldat war "durchschnittlich etwa 1,70 m groß und wog 66 kg . . . Etwa 9 Prozent der Soldaten waren untergewichtig, 16,68 übergewichtig, 74,23 Prozent der Soldaten besaßen jedoch ein als normal zu bezeichnendes Gewicht." Wollten wir das nicht schon immer wissen?
Von der Hermetik des Krieges haben bereits die Zeitgenossen etwas geahnt. Schon die englischen und amerikanischen Verhöroffiziere versuchten, die Deutschen zu verstehen, und der Aufstieg der angelsächsischen Soziologie nach 1945 basierte wesentlich auf den Grundlagen, die vor 1945 durch die massenhafte Befragung deutscher Kriegsgefangener gelegt worden sind. Gleichwohl sind die Ergebnisse ernüchternd und laufen nahezu allesamt auf ein Sowohl-Als-auch hinaus: Die deutschen Soldaten waren sowohl politisch indoktriniert als auch dagegen immun; sie kämpften in aussichtsloser Lage für "Volk und Vaterland" und für die eigene Primärgruppe, sie waren für die "Errungenschaften" des Nationalsozialismus empfänglich und kritisierten ihn zugleich. So ergibt sich weder ein eindeutiges, geschweige denn ein geschlossenes Bild. Nur die Person Hitlers scheint weitgehend standardisiert: Der "Führer" war an nichts schuld.
Wer aber dann? Manche Beiträge holen weit aus, weisen auf die Prädispositionen des Ersten Weltkrieges, der Weimarer Republik hin, was nicht neu ist. Natürlich gab es Kontinuitäten zwischen den beiden Weltkriegen, aber die hier vorliegende, ungemein quellen- und faktengesättigte Analyse macht es deutlich: Der Zweite Weltkrieg war keine Fortsetzung des Ersten, nicht die zweite Hälfte eines neuen Dreißigjährigen Krieges, sondern etwas ganz Einzigartiges. Die Kontinuitäten sind nicht so sehr von 1933 nach rückwärts als von 1945 nach vorwärts zu erkennen - ein überraschender und peinlicher Befund von Oliver Rathkolb, der an der These von der Stunde Null wieder einmal zweifeln läßt: Die beiden größten Errungenschaften der frühen Bundesrepublik: die Integration von dreizehn Millionen Flüchtlingen und das Phänomen des sogenannten Wirtschaftswunders gründeten vor 1945 auf der Ausbeutung von elf Millionen Fremd- und Zwangsarbeitern und nach 1945 auf deren verzugsloser Ersetzung durch ein nahezu gleich großes Heer von billigen Ostflüchtlingen.
Die Mittäterschaft "der Wirtschaft" an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird schonungslos aufgezeigt. Die Masse der Manager tat nicht das geringste, um das Leben der für sie Schuftenden vor allem in der Schlußphase des Krieges zu retten. Ausnahmen wie Oskar Schindler und Berthold Beitz zeigen, daß dies durchaus möglich gewesen wäre. Georg Wagner-Kyora kommt in seinem Beitrag zu einem vernichtenden Urteil: "Diese aktive Mithilfe in der letzten Etappe des Holocaust ist als das schwerste Kriegsverbrechen der deutschen Unternehmer und Spitzenmanager einzuschätzen."
Es ist wohltuend, daß sich alle Beiträger des Tu-quoque-Prinzips enthalten, ohne die Kriegsverbrechen der anderen Seite zu beschönigen. Harsch gehen alle Autoren mit jener Institution ins Gericht, die an der Spitze der Pyramide in der "Kriegsgesellschaft" stand: der Wehrmacht. 2,2 Millionen russische Kriegsgefangene, ihrer Obhut anvertraut, kamen durch Hunger, Kälte, Krankheit um. "Dies dürfte eines der größten deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gewesen sein, übertroffen nur noch von dem Mord an den Juden", stellt Rüdiger Overmanns fest.
Eine schlüssige Gesamtbilanz dieser beiden Bände ist nicht möglich. Vielleicht kommt Rafael A. Zagovec ihr am nächsten: "Das Gesamtbild ist das einer kollektiven Verstrickung, die anfangs mit leichter Hand eingegangen worden war, die sich durch vermeintliche Kriegserfolge verfestigte und die dann, als nicht mehr zu übersehen war, daß dieses Regime längst alle ethischen Normen außer Kraft gesetzt hatte, in eine Schuldgemeinschaft überging, in der sich die Furcht vor dem eigenen Terrorapparat und jene vor der Rache der Kriegsgegner zu einer unlösbaren Fessel verband. Bei aller Schuld, die diese Gesellschaft auf sich geladen hatte, liegt darin mehr als nur ein Moment der Tragik."
Jörg Echternkamp (Herausgeber): Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Erster Halbband: Politisierung, Vernichtung, Überleben. Zweiter Halbband: Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung. (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Band 9/1 und Band 9/2.) Deutsche Verlagsanstalt, München 2004 und 2005. 993 S. und 1112 S., je Halbband 49,80 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2005Gezeitenwechsel
Die Akzente in der Bewertung des Zweiten Weltkrieges beginnen sich zu verschieben - hin zu einer Konkurrenz der Opfer
Wie wohl Historiker in einigen Jahren den schier endlosen Erinnerungsmarathon zum 60. Jahrestag des Kriegsendes bewerten werden? Die bloße Menge an Dokumentationen, Kinofilmen und Zeitzeugen-Interviews sprengt alle publizistischen Rekorde. Kein Schlussstrich also - und doch beginnen sich die Akzente zu verändern. Nicht, dass vom Nationalsozialismus, seinen Profiteuren, Wegbereitern und „Vollstreckern” nicht mehr die Rede wäre. Doch sind die Stimmen derer lauter geworden, die sich - als Generation der Kriegskinder - selbst als Opfer des Krieges fühlen, Flucht und Vertreibung und die alliierten Bombardierungen brandmarken und nun, in die Jahre gekommen, deutlich nachsichtiger mit der Elterngeneration umgehen.
Vieles spricht dafür, dies als einen erinnerungskulturellen „Gezeitenwechsel” zu deuten, wie es der Jenaer Zeithistoriker Norbert Frei in einer lesenswerten Sammlung von zumeist schon andernorts publizierten Aufsätzen über den Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte im „Bewusstsein der Deutschen” vorschlägt. Dazu zählt auch der „Abschied von der Zeitgenossenschaft” - das langsame Verstummen der Zeitzeugen, von Opfern, Tätern und Mitläufern und die daraus entstehende neue Debatte über den Stellenwert des Nationalsozialismus für die deutsche Geschichte, einem neuen „Zeitalter der Opferkonkurrenz”. Frei richtet seinen Blick auf die Bindekraft des Dritten
Reiches und die vergangenheitspolitischen Schlachten der jungen Bundesrepublik: auf die schwierige juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen und den langen Weg, bis Widerstandskämpfer nicht mehr als „Vaterlandsverräter” denunziert wurden. Seine elegant formulierten Analysen zeigen eindringlich, wie elementar ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstein für den Abbau kollektiver Mythen ist - wozu die langlebige Vorstellung vieler Deutscher gehört, selbst das „erste Opfer” Hitlers gewesen zu sein.
Wie unterschiedlich die Erfahrungen des Krieges jedoch sein können, zeigt der neue Band des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA). Die Zeitgeschichte hat lange gebraucht, das Spannungsverhältnis von „innerer” und „äußerer” Front, von Gesellschaft und Regime im Krieg und die Bedeutung der aggressiven Expansionspolitik für die Funktionsweise des Dritten Reiches zu beleuchten. Insofern leistet der Band Vorbildliches, weil er unterschiedliche Perspektiven miteinander verbindet: die Dynamik und Radikalisierung des Krieges, die Mobilisierung aller Ressourcen; die Kontinuität und Veränderungen der Denk- und Verhaltensmuster seit dem Ersten Weltkrieg und die zunehmende Entgrenzung der Gewalt als wesentliches Element der deutschen Kriegsgesellschaft - ein Aspekt, der bei vielen Bombardierungs-Gedenkfeiern allzu leicht in Vergessenheit gerät. Die „Heimatfront” war nicht so „zivil”, wie sie viele Legenden zeichnen.
Mit zunehmender Kriegsdauer wurde gerade in den vom Luftkrieg massiv betroffenen Städten deutlich, wie eng verflochten nationalsozialistische Fürsorge und Vernichtung waren. Zuerst traf es die Juden, dann kamen Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene hinzu, die unter Einsatz ihres Lebens Trümmer und Bombenblindgänger beseitigen mussten und gezwungen waren, die Rüstungsproduktion am Laufen zu halten. Alte, Kranke und Schwache gerieten in das Räderwerk der Vernichtung. Die Geschichte der deutschen Kriegsgesellschaft war, wie der Band zeigt, eine Geschichte von wachsendem Terror und innerem Vernichtungswillen.
Die NSDAP spielte für die Mobilisierung und lang währende Loyalität der Bevölkerung eine zentrale Rolle, wie der besonders gelungene Beitrag von Armin Nolzen deutlich macht. Kurz vor Kriegsende erreichte die Mitgliederzahl knapp neun Millionen. Das waren keineswegs alles Zwangsmitgliedschaften. Es ging auch um die Chance zum persönlichen Aufstieg, zur Teilhabe an politischer Macht - im kleinen wie großen. Während des Krieges dehnte die Partei ihren Herrschaftsbereich immer weiter aus. Nolzen zeigt diesen Prozess „volksgemeinschaftlicher” Integration, der auf der Basis antijüdischer Ausgrenzung basierte, äußerst anschaulich.
Gerhard Schreiber und Rolf-Dieter Müller, beides ausgewiesene Kenner der deutschen Militärgeschichte, setzten einen anderen Schwerpunkt. Schreibers „Kurze Geschichte des Zweiten Weltkrieges” geht auf ein vor einigen Jahren veröffentlichtes Buch zurück und konzentriert sich ganz auf die militärische Ereignisgeschichte - eine äußerst konventionelle Art der Kriegsgeschichte, zudem sehr spröde geschrieben. In seinen Urteilen ist Schreiber aber erfreulich klar, wenn er etwa über den Vernichtungskrieg feststellt: „Ohne Duldung, auch Gutheißen des Genozids durch die, im weiteren Sinn des Worts verstanden, Wehrmachtsführung wäre der Völkermord nicht möglich gewesen.”
Von anderem Gewicht ist der neue „Gebhardt” zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges aus der Feder von Rolf-Dieter Müller. Es lohnt sich, über die Thesen des Wissenschaftlichen Direktors des MGFA zu streiten. Auch er legt das Schwergewicht auf die militärischen Aspekte, wobei er immer wieder kenntnisreich über den Zusammenhang von nationalsozialistischer Politik, Wirtschaft und Kriegsverlauf informiert. In seiner wichtigen Studie benennt er auch schonungslos die „Hungerpolitik” gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen als Teil der Besatzungs- und Vernichtungspolitik. Der Krieg öffnete die Schleusen für die rücksichtslose „Neuordnung” annektierter Gebiete.
Deutlicher als andere betont Müller die Entschlossenheit Winston Churchills im Kampf gegen Hitler, die ein „entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts” gewesen sei und das Überleben der westlichen Demokratien gesichert habe. Blass bleibt dagegen die Erfahrungsgeschichte des „kleines Mannes”, seine Prägungen und Erlebnisse, die Bedeutung von Gewalt und gruppenspezifischen Verhaltensmuster - Aspekte, die in letzter Zeit das Bild des Krieges deutlich erweitert haben. Ob tatsächlich „einiges” für die Annahme spricht, die Entscheidung Hitlers für die Ermordung der Juden sei nicht zuletzt durch die Atlantik-Charta vom August 1941 und das enge Bündnis von Churchill und Roosevelt mit beeinflusst worden, ist zumindest umstritten.
Da Müllers Arbeiten über apologetische Ausfälle erhaben sind, sind manche Formulierungen wohl einer gewissen Gedankenlosigkeit geschuldet. Die Soldaten des Ostheeres hätten auf dem „Schlachtfeld unvergleichliche Leistungen” vollbracht. Was sollte das sein? Wohl am ehesten die Beteiligung am Massenmord von Juden und Kriegsgefangenen und weniger militärische Husarenstücke. Und ob seine Behauptung zutrifft, dass in manchen Gebieten mehr Einheimische durch Partisanen ums Leben kamen als durch deutsche Soldaten, darf man bezweifeln. Ungewöhnlich sind die heftigen Attacken gegen die DDR-Weltkriegsgeschichte und alle jene Historiker im Westen, die der „sowjetischen Geschichtspropaganda” nicht getrotzt hätten. Dies und der Ost-West-Konflikt hätten dazu geführt, so Müller bedauernd, dass es bisher noch keine deutsche „Nationalgeschichte” des Zweiten Weltkriegs gibt. Sein Plädoyer ist umso unverständlicher, als es längst keinen Zweifel mehr geben kann, dass sich eine Geschichte des Zweiten Weltkrieges nicht mehr als Nationalgeschichte schreiben lässt - heute weniger denn je. Denn 60 Jahre nach Kriegsende gehören die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg zum zentralen Fundament einer gerade entstehenden gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur.
Norbert Frei
1945 und Wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen
C. H. Beck Verlag, München 2005.
224 Seiten, 19,90 Euro.
Rolf-Dieter Müller
Der Zweite Weltkrieg 1939-1945
Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 21. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004. 461 Seiten, 42 Euro.
Gerhard Schreiber
Kurze Geschichte des
Zweiten Weltkrieges
C. H. Beck-Verlag, München 2005.
221 Seiten, 14,90 Euro.
Jörg Echternkamp (Hrsg.)
Das Deutsche Reich
und der Zweite Weltkrieg
Band. 9, Erster Halbband: Die Deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Im Auftrag des Militärgeschicht-
lichen Forschungsamtes. DVA, München 2004. 993 Seiten, 49,80 Euro.
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Die Akzente in der Bewertung des Zweiten Weltkrieges beginnen sich zu verschieben - hin zu einer Konkurrenz der Opfer
Wie wohl Historiker in einigen Jahren den schier endlosen Erinnerungsmarathon zum 60. Jahrestag des Kriegsendes bewerten werden? Die bloße Menge an Dokumentationen, Kinofilmen und Zeitzeugen-Interviews sprengt alle publizistischen Rekorde. Kein Schlussstrich also - und doch beginnen sich die Akzente zu verändern. Nicht, dass vom Nationalsozialismus, seinen Profiteuren, Wegbereitern und „Vollstreckern” nicht mehr die Rede wäre. Doch sind die Stimmen derer lauter geworden, die sich - als Generation der Kriegskinder - selbst als Opfer des Krieges fühlen, Flucht und Vertreibung und die alliierten Bombardierungen brandmarken und nun, in die Jahre gekommen, deutlich nachsichtiger mit der Elterngeneration umgehen.
Vieles spricht dafür, dies als einen erinnerungskulturellen „Gezeitenwechsel” zu deuten, wie es der Jenaer Zeithistoriker Norbert Frei in einer lesenswerten Sammlung von zumeist schon andernorts publizierten Aufsätzen über den Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte im „Bewusstsein der Deutschen” vorschlägt. Dazu zählt auch der „Abschied von der Zeitgenossenschaft” - das langsame Verstummen der Zeitzeugen, von Opfern, Tätern und Mitläufern und die daraus entstehende neue Debatte über den Stellenwert des Nationalsozialismus für die deutsche Geschichte, einem neuen „Zeitalter der Opferkonkurrenz”. Frei richtet seinen Blick auf die Bindekraft des Dritten
Reiches und die vergangenheitspolitischen Schlachten der jungen Bundesrepublik: auf die schwierige juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen und den langen Weg, bis Widerstandskämpfer nicht mehr als „Vaterlandsverräter” denunziert wurden. Seine elegant formulierten Analysen zeigen eindringlich, wie elementar ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstein für den Abbau kollektiver Mythen ist - wozu die langlebige Vorstellung vieler Deutscher gehört, selbst das „erste Opfer” Hitlers gewesen zu sein.
Wie unterschiedlich die Erfahrungen des Krieges jedoch sein können, zeigt der neue Band des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA). Die Zeitgeschichte hat lange gebraucht, das Spannungsverhältnis von „innerer” und „äußerer” Front, von Gesellschaft und Regime im Krieg und die Bedeutung der aggressiven Expansionspolitik für die Funktionsweise des Dritten Reiches zu beleuchten. Insofern leistet der Band Vorbildliches, weil er unterschiedliche Perspektiven miteinander verbindet: die Dynamik und Radikalisierung des Krieges, die Mobilisierung aller Ressourcen; die Kontinuität und Veränderungen der Denk- und Verhaltensmuster seit dem Ersten Weltkrieg und die zunehmende Entgrenzung der Gewalt als wesentliches Element der deutschen Kriegsgesellschaft - ein Aspekt, der bei vielen Bombardierungs-Gedenkfeiern allzu leicht in Vergessenheit gerät. Die „Heimatfront” war nicht so „zivil”, wie sie viele Legenden zeichnen.
Mit zunehmender Kriegsdauer wurde gerade in den vom Luftkrieg massiv betroffenen Städten deutlich, wie eng verflochten nationalsozialistische Fürsorge und Vernichtung waren. Zuerst traf es die Juden, dann kamen Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene hinzu, die unter Einsatz ihres Lebens Trümmer und Bombenblindgänger beseitigen mussten und gezwungen waren, die Rüstungsproduktion am Laufen zu halten. Alte, Kranke und Schwache gerieten in das Räderwerk der Vernichtung. Die Geschichte der deutschen Kriegsgesellschaft war, wie der Band zeigt, eine Geschichte von wachsendem Terror und innerem Vernichtungswillen.
Die NSDAP spielte für die Mobilisierung und lang währende Loyalität der Bevölkerung eine zentrale Rolle, wie der besonders gelungene Beitrag von Armin Nolzen deutlich macht. Kurz vor Kriegsende erreichte die Mitgliederzahl knapp neun Millionen. Das waren keineswegs alles Zwangsmitgliedschaften. Es ging auch um die Chance zum persönlichen Aufstieg, zur Teilhabe an politischer Macht - im kleinen wie großen. Während des Krieges dehnte die Partei ihren Herrschaftsbereich immer weiter aus. Nolzen zeigt diesen Prozess „volksgemeinschaftlicher” Integration, der auf der Basis antijüdischer Ausgrenzung basierte, äußerst anschaulich.
Gerhard Schreiber und Rolf-Dieter Müller, beides ausgewiesene Kenner der deutschen Militärgeschichte, setzten einen anderen Schwerpunkt. Schreibers „Kurze Geschichte des Zweiten Weltkrieges” geht auf ein vor einigen Jahren veröffentlichtes Buch zurück und konzentriert sich ganz auf die militärische Ereignisgeschichte - eine äußerst konventionelle Art der Kriegsgeschichte, zudem sehr spröde geschrieben. In seinen Urteilen ist Schreiber aber erfreulich klar, wenn er etwa über den Vernichtungskrieg feststellt: „Ohne Duldung, auch Gutheißen des Genozids durch die, im weiteren Sinn des Worts verstanden, Wehrmachtsführung wäre der Völkermord nicht möglich gewesen.”
Von anderem Gewicht ist der neue „Gebhardt” zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges aus der Feder von Rolf-Dieter Müller. Es lohnt sich, über die Thesen des Wissenschaftlichen Direktors des MGFA zu streiten. Auch er legt das Schwergewicht auf die militärischen Aspekte, wobei er immer wieder kenntnisreich über den Zusammenhang von nationalsozialistischer Politik, Wirtschaft und Kriegsverlauf informiert. In seiner wichtigen Studie benennt er auch schonungslos die „Hungerpolitik” gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen als Teil der Besatzungs- und Vernichtungspolitik. Der Krieg öffnete die Schleusen für die rücksichtslose „Neuordnung” annektierter Gebiete.
Deutlicher als andere betont Müller die Entschlossenheit Winston Churchills im Kampf gegen Hitler, die ein „entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts” gewesen sei und das Überleben der westlichen Demokratien gesichert habe. Blass bleibt dagegen die Erfahrungsgeschichte des „kleines Mannes”, seine Prägungen und Erlebnisse, die Bedeutung von Gewalt und gruppenspezifischen Verhaltensmuster - Aspekte, die in letzter Zeit das Bild des Krieges deutlich erweitert haben. Ob tatsächlich „einiges” für die Annahme spricht, die Entscheidung Hitlers für die Ermordung der Juden sei nicht zuletzt durch die Atlantik-Charta vom August 1941 und das enge Bündnis von Churchill und Roosevelt mit beeinflusst worden, ist zumindest umstritten.
Da Müllers Arbeiten über apologetische Ausfälle erhaben sind, sind manche Formulierungen wohl einer gewissen Gedankenlosigkeit geschuldet. Die Soldaten des Ostheeres hätten auf dem „Schlachtfeld unvergleichliche Leistungen” vollbracht. Was sollte das sein? Wohl am ehesten die Beteiligung am Massenmord von Juden und Kriegsgefangenen und weniger militärische Husarenstücke. Und ob seine Behauptung zutrifft, dass in manchen Gebieten mehr Einheimische durch Partisanen ums Leben kamen als durch deutsche Soldaten, darf man bezweifeln. Ungewöhnlich sind die heftigen Attacken gegen die DDR-Weltkriegsgeschichte und alle jene Historiker im Westen, die der „sowjetischen Geschichtspropaganda” nicht getrotzt hätten. Dies und der Ost-West-Konflikt hätten dazu geführt, so Müller bedauernd, dass es bisher noch keine deutsche „Nationalgeschichte” des Zweiten Weltkriegs gibt. Sein Plädoyer ist umso unverständlicher, als es längst keinen Zweifel mehr geben kann, dass sich eine Geschichte des Zweiten Weltkrieges nicht mehr als Nationalgeschichte schreiben lässt - heute weniger denn je. Denn 60 Jahre nach Kriegsende gehören die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg zum zentralen Fundament einer gerade entstehenden gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur.
Norbert Frei
1945 und Wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen
C. H. Beck Verlag, München 2005.
224 Seiten, 19,90 Euro.
Rolf-Dieter Müller
Der Zweite Weltkrieg 1939-1945
Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 21. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004. 461 Seiten, 42 Euro.
Gerhard Schreiber
Kurze Geschichte des
Zweiten Weltkrieges
C. H. Beck-Verlag, München 2005.
221 Seiten, 14,90 Euro.
Jörg Echternkamp (Hrsg.)
Das Deutsche Reich
und der Zweite Weltkrieg
Band. 9, Erster Halbband: Die Deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Im Auftrag des Militärgeschicht-
lichen Forschungsamtes. DVA, München 2004. 993 Seiten, 49,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Aufschlussreich findet Dietmar Süß diesen von Jörg Echternkamp herausgegebenen Band über das Deutsche Reich und den Zweiten Weltkrieg, der zeige, wie unterschiedlich die Erfahrungen des Krieges sein können. Als "vorbildlich" lobt Süß die Verbindung verschiedener Perspektiven, die der Band vornimmt: die Dynamik und Radikalisierung des Krieges, die Mobilisierung aller Ressourcen, die Kontinuität und Veränderungen von Denk- und Verhaltensmustern seit dem Ersten Weltkrieg, und die Entgrenzung der Gewalt als wesentliches Element der deutschen Kriegsgesellschaft. "Besonders gelungen" findet Süß den Beitrag von Armin Nolzen, der die zentrale Rolle verdeutliche, die die NSDAP für die Mobilisierung der Bevölkerung und ihre lang währende Loyalität spielte. Während des Kriegs habe die Partei ihren Herrschaftsbereich immer weiter ausgedehnt, wobei viele Deutsche freiwillig eine Mitgliedschaft eingingen, um aufzusteigen oder sich persönlich zu bereichern. Diesen Prozess "volksgemeinschaftlicher" Integration, der auf antijüdischer Ausgrenzung basierte, zeige Nolzen "äußert anschaulich".
© Perlentaucher Medien GmbH
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