Gabriele Goettles literarisch ambitionierte Sozialreportagen entlarven auf unspektakuläre, dabei oft atemberaubende Weise eine ganze Reihe deutscher Unsitten. Es stellt sich heraus, dass das Gewöhnliche oft genug auch das Monströse ist. Weil sie nicht kommentiert, gelingen ihr definitive Aussagen über den Mief deutschen Wesens und die Kälte modernen Lebens. Die Nachlassinventarliste eines verstorbenen Lehrers reicht aus, um deutsche Spießergesinnung ganz im Sinne Tucholskys sozusagen flächendeckend auszubreiten. Am Standardtod im Altenheim erfährt der Leser den wahren Verkehrswert der vielbeschworenen Individualität. Es ist die Wahl der Perspektive und die scheinbare Abwesenheit von Kunst, was die Texte von Gabriele Goettle so außergewöhnlich und so kunstvoll macht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2002Gabriele Goettle: Deutsche Sitten
1991 - Die Gegenwart erscheint in Augenhöhe
Als es zu Beginn der neunziger Jahre plötzlich vorbei gewesen sein sollte mit dem Kalten Krieg, als all die Ängste, die Mühen und das Leid der Teilung Europas mit einem Mal Vergangenheit und sogar Geschichte waren, konnte es kaum jemand so recht glauben. Man blinzelte so hinein in die plötzlich hereingebrochene Zukunft, und obwohl sich der Westen freuen sollte, dachte er, Sieger sehen anders aus, und der Osten war sogar noch ratloser. Viele Schriftsteller und Intellektuelle fühlten jetzt den Drang zum Hohen und Großen, es wurde ernst.
Die deutsche Literatur wurde Schauplatz und Gegenstand heftiger symbolischer Machtkämpfe, es gab die Stasi-Debatte, die Wiedervereinigungsdebatte, die Golfkriegs- und die Rushdiedebatte. Mancher Schriftsteller hatte seinen Arbeitsplatz praktisch ins Fernsehen verlegt, mancher politische Akteur, wir erinnern uns an Markus Wolf, wollte plötzlich nur noch Schriftsteller sein. Bei so viel Zukunft und Vergangenheit schien der Kurswert der Gegenwart unablässig zu sinken.
Gabriele Goettle hat das mit ihren "Deutschen Sitten" geändert. Sie beschrieb die Gegenwart von einem neuen Ort aus, nicht aus der Höhe historischer Bedeutsamkeit. Manchmal, so berichten die ersten Sätze des Buchs, hat die Autorin von Sozialhilfe gelebt: "Wie euphorisch und gesellig man werden kann durch ein paar bunte Lappen, davon macht sich der routinierte Geldverdiener keine Vorstellung. Dabei, was sind schon 370 Mark Sozialhilfe? Es ist eine Schande, daß durch sie alle nagenden Sorgen verschwunden sind. Aber vielleicht liegt es auch nur an diesem schönen Julitag. Ich fahre dahin, die Reifen meines Fahrrads sind frisch aufgepumpt, was will man mehr vom Leben? Schließlich gibt es ärgere Schicksale, Legionen vegetieren weit unter dem Existenzminimum. Grade vorhin sah ich einen alten, verwahrlosten Mann in den Mülltonnen wühlen. Ich fasse einen Entschluß: Wenn der Alte immer noch da ist, dann soll er meinen Fünfzigmarkschein haben."
Der Alte, so wird sich im Laufe dieser Reportage herausstellen, hat das Methadon erfunden, ein vergessener, verarmter Wissenschaftler. Ohne zu werten, ohne zu übertreiben, mit einem scharfen politischen Sinn führt Gabriele Goettle den Leser in die "Strangeness" der Randbezirke der deutschen Gesellschaft, zu Altenheimen, Hausmeisterwohnungen, in Sexshops und Igelschutzvereinsheime. Viele dieser Erfahrungen sind eine Reaktion der Autorin auf dringende Geldsorgen: Pflegejobs, der Einfall, gegen Bezahlung in der eignen Wohnung über Sadomasochismus zu sprechen oder verzweifelten Frauen zuzuhören. Weil sie mit den beschriebenen Personen auf gleicher Augenhöhe steht, kann sie ihrer Neugier, ihrem Wunsch nach präzisem Verständnis der Motive und Bedingungen ihres Handelns freien Lauf lassen.
Die so entstandenen Texte sind heute unschätzbar wertvolle Zeugnisse einer Gesellschaft, die es nicht mehr gibt. Heute würden Berliner SM-Amateure kaum auf ein Inserat in einer Tageszeitung angewiesen sein, um sich auszutauschen: Jeder von ihnen dürfte einen DSL- Highspeed-Internetanschluß zu Hause haben, da geht sowas diskret, schnell und ununterbrochen. Tierheime, Gerichtsvollzieher, Sexshops, vermüllte Alte und kuriose Querulanten sind zu Lieblingsobjekten aller Reportageformate, manchmal sogar zum Thema eigener Doku-Soaps im Fernsehen geworden.
Die Medien haben auch die von Gabriele Goettle beschriebenen Welten erschlossen, Vergangenheits- und Zukunftsobsessionen sind wie abgeschwollen, fast gibt es schon wieder zuviel Gegenwart im Lande und in der Literatur. "Deutsche Sitten" markierte den Beginn einer kulturellen Epoche, die allmählich auch wieder enden könnte.
mink
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
1991 - Die Gegenwart erscheint in Augenhöhe
Als es zu Beginn der neunziger Jahre plötzlich vorbei gewesen sein sollte mit dem Kalten Krieg, als all die Ängste, die Mühen und das Leid der Teilung Europas mit einem Mal Vergangenheit und sogar Geschichte waren, konnte es kaum jemand so recht glauben. Man blinzelte so hinein in die plötzlich hereingebrochene Zukunft, und obwohl sich der Westen freuen sollte, dachte er, Sieger sehen anders aus, und der Osten war sogar noch ratloser. Viele Schriftsteller und Intellektuelle fühlten jetzt den Drang zum Hohen und Großen, es wurde ernst.
Die deutsche Literatur wurde Schauplatz und Gegenstand heftiger symbolischer Machtkämpfe, es gab die Stasi-Debatte, die Wiedervereinigungsdebatte, die Golfkriegs- und die Rushdiedebatte. Mancher Schriftsteller hatte seinen Arbeitsplatz praktisch ins Fernsehen verlegt, mancher politische Akteur, wir erinnern uns an Markus Wolf, wollte plötzlich nur noch Schriftsteller sein. Bei so viel Zukunft und Vergangenheit schien der Kurswert der Gegenwart unablässig zu sinken.
Gabriele Goettle hat das mit ihren "Deutschen Sitten" geändert. Sie beschrieb die Gegenwart von einem neuen Ort aus, nicht aus der Höhe historischer Bedeutsamkeit. Manchmal, so berichten die ersten Sätze des Buchs, hat die Autorin von Sozialhilfe gelebt: "Wie euphorisch und gesellig man werden kann durch ein paar bunte Lappen, davon macht sich der routinierte Geldverdiener keine Vorstellung. Dabei, was sind schon 370 Mark Sozialhilfe? Es ist eine Schande, daß durch sie alle nagenden Sorgen verschwunden sind. Aber vielleicht liegt es auch nur an diesem schönen Julitag. Ich fahre dahin, die Reifen meines Fahrrads sind frisch aufgepumpt, was will man mehr vom Leben? Schließlich gibt es ärgere Schicksale, Legionen vegetieren weit unter dem Existenzminimum. Grade vorhin sah ich einen alten, verwahrlosten Mann in den Mülltonnen wühlen. Ich fasse einen Entschluß: Wenn der Alte immer noch da ist, dann soll er meinen Fünfzigmarkschein haben."
Der Alte, so wird sich im Laufe dieser Reportage herausstellen, hat das Methadon erfunden, ein vergessener, verarmter Wissenschaftler. Ohne zu werten, ohne zu übertreiben, mit einem scharfen politischen Sinn führt Gabriele Goettle den Leser in die "Strangeness" der Randbezirke der deutschen Gesellschaft, zu Altenheimen, Hausmeisterwohnungen, in Sexshops und Igelschutzvereinsheime. Viele dieser Erfahrungen sind eine Reaktion der Autorin auf dringende Geldsorgen: Pflegejobs, der Einfall, gegen Bezahlung in der eignen Wohnung über Sadomasochismus zu sprechen oder verzweifelten Frauen zuzuhören. Weil sie mit den beschriebenen Personen auf gleicher Augenhöhe steht, kann sie ihrer Neugier, ihrem Wunsch nach präzisem Verständnis der Motive und Bedingungen ihres Handelns freien Lauf lassen.
Die so entstandenen Texte sind heute unschätzbar wertvolle Zeugnisse einer Gesellschaft, die es nicht mehr gibt. Heute würden Berliner SM-Amateure kaum auf ein Inserat in einer Tageszeitung angewiesen sein, um sich auszutauschen: Jeder von ihnen dürfte einen DSL- Highspeed-Internetanschluß zu Hause haben, da geht sowas diskret, schnell und ununterbrochen. Tierheime, Gerichtsvollzieher, Sexshops, vermüllte Alte und kuriose Querulanten sind zu Lieblingsobjekten aller Reportageformate, manchmal sogar zum Thema eigener Doku-Soaps im Fernsehen geworden.
Die Medien haben auch die von Gabriele Goettle beschriebenen Welten erschlossen, Vergangenheits- und Zukunftsobsessionen sind wie abgeschwollen, fast gibt es schon wieder zuviel Gegenwart im Lande und in der Literatur. "Deutsche Sitten" markierte den Beginn einer kulturellen Epoche, die allmählich auch wieder enden könnte.
mink
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