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Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und im 16. Jahrhundert entwickelte sich in vielen Städten des deutschen Sprachraums eine Fülle von neuen dramatischen Formen, in denen sich die religiösen, geistigen und sozialen Kräfte der Zeit widerspiegeln. Mit dem Fastnachtspiel trat der neue Typus des Dichters aus dem bürgerlichen Handwerkerstand hervor. Kurze Zeit darauf wurde das volkssprachliche Bibeldrama zur überaus beliebten Gattung. Gleichzeitig ließ der Geist des Humanismus das Erbe des antiken Dramas wieder lebendig werden. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts machte sich außerdem der Einfluß…mehr

Produktbeschreibung
Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und im 16. Jahrhundert entwickelte sich in vielen Städten des deutschen Sprachraums eine Fülle von neuen dramatischen Formen, in denen sich die religiösen, geistigen und sozialen Kräfte der Zeit widerspiegeln. Mit dem Fastnachtspiel trat der neue Typus des Dichters aus dem bürgerlichen Handwerkerstand hervor. Kurze Zeit darauf wurde das volkssprachliche Bibeldrama zur überaus beliebten Gattung. Gleichzeitig ließ der Geist des Humanismus das Erbe des antiken Dramas wieder lebendig werden. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts machte sich außerdem der Einfluß der englischen Kommödianten und der Commedia dell'arte bemerkbar. Aus diesem reichen Spektrum stellt der Band eine repräsentative Auswahl von fünfzehn Spielen und Dramen zusammen. Alle Texte werden kritisch ediert und ausführlich erläutert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.1997

Doctor Lupold scheut nichts
Hellmut Thomkes Sammlung früher deutscher Spiele und Dramen

Unter den vom Aussterben bedrohten literarischen Arten nimmt die Literatur des deutschen sechzehnten Jahrhunderts sicherlich einen besonders prekären Platz ein. Und dies, obwohl da keineswegs Mangel herrscht. So hat man im Blick auf die geradezu überquellende dramatische Produktion erklärt, niemals wieder habe das Drama eine solche überragende soziale Funktion ausüben können wie zu dieser Zeit. In die Hunderte gehen die Stücke und ihre Produzenten. Gut sechstausend Titel zählt beispielsweise das Werkverzeichnis des Hans Sachs, darunter nicht weniger als zweihundert "Dramen" jeglicher Spielart.

Was freilich fehlt, sind die Autoren der ersten Klasse. Da gibt es "keinen Shakespeare, nicht einmal einen Marlowe", wie auch der Herausgeber der vorliegenden Sammlung unumwunden gesteht. Und wo ein Großer sich ankündigt wie doch wohl im Falle des Thomas Naogeorg, da stellt sich die Sprachbarriere des Lateinischen der Nachwirkung sperrig in den Weg. So ist dessen gewaltige "Tragoedia nova Pammachius" (1538), die den reformatorischen Sturmangriff gegen den päpstlichen "Antichrist" mit allen Mitteln einer bild- und sprachmächtigen Theatralik vorträgt, eine Preziose für Spezialisten geblieben.

Ähnliches gilt für die protofaustischen Stücke aus der katholischen Szene, Levin Brechts "Euripus" (1549) oder Jakob Gretsers "Udo" (1587). Ohne das Lateinische ist jedenfalls die Literatur dieses Zeitalters nicht zu haben. Unerschrocken kündigt denn auch die "Bibliothek der frühen Neuzeit" innerhalb der "Bibliothek deutscher Klassiker" einen entsprechenden Band an. Dennoch hätte man es schon jetzt nicht ungern gesehen, wäre eine zeitgenössische Übersetzung des "Pammachius" durch das Netz des philologischen Purismus geschlüpft, um in der literarischen Arche Noah einen rettenden Platz für (letzte) Leser zu finden.

Deutsch also, mit kräftigem eidgenössischen Einschlag, bürgerlich durchweg und, mit einer Ausnahme, reformatorisch-protestantisch gibt sich die Auswahl, die Hellmut Thomke präsentiert. Man muß die Verzweiflung der Literaturhistoriker angesichts der chaotischen und amorphen Textmassen kennen, um die entscheidungsfreudige Umsicht Thomkes richtig einschätzen zu können. Was er auf neunhundert Seiten immerhin bietet, unterschlägt eigentlich nichts und hält den Ansprüchen auf einen repräsentativen Querschnitt stand. Selbst für Trouvaillen bleibt noch Raum genug.

Erwartungsgemäß deftig und ohne jede Zimperlichkeit kommen die frühen Nürnberger Fastnachtspiele daher. Kein Moralprediger fährt den zwölf Bauern von Hans Folz' "Bauernspiel" in die Parade, wenn sie zum Wettstreit um die obszönste "poulschafft" (Buhlschaft) antreten. Naturgemäß seriöser geht es bei den Eidgenossen zu, die danach zu Wort kommen, bei Pamphilus Gengenbach oder dem auch als Maler und Berner Politiker bedeutenden Niklaus Manuel. Das frei flottierende Fastnachtspiel wird jetzt moralisch, politisch und konfessionspolemisch an die Kandare genommen. In Niklaus Manuels "Vom Papst und seiner Priesterschaft" liegt eines der ersten protestantischen Kampfdramen vor, das ein üppiges "Totenfresser"-Gelage dazu nutzt, im dichten Anschluß an Luther die römische Hierarchie zu demaskieren - bis hin zur fassungslosen Verzweiflung der Apostel Petrus und Paulus und der zornigen Schlußansprache des "Doctor Lupold schüch nit" (scheut nichts): "Wette (wollte) gott ich könd mit einer acks / Die päpstlichen recht eines streichs zerschiten (zerspalten) / Das hieß recht wider die türcken stryten / Vnd die subtilen schüler leren / Alle im schißhus vmherkeren."

Keine Frage, die Reformation mit ihren unbedingten Forderungen ist die Antriebsmacht der meisten Dramatiker. Wer schreibt, hat immer schon recht, ist im Besitz der neuen Wahrheit und bekämpft ihre Feinde. Der agonale Zug des Dramas versteift sich aufs Satirische und Polemische. Große, farbige Bilderbögen sind die Folge. Liebhaber des epischen Theaters werden sich auf diesem Terrain wohl fühlen.

Das gilt, mit Verlaub, auch für die reformatorischen Bibel- und Schuldramen, die ihren Platz unmittelbar neben der Kanzel haben. Vertreten werden sie hier durch Sixt Bircks "Judith" und Paul Rebhuns "Susanna". Beide Autoren berufen sich unmittelbar auf Luthers Empfehlungen, die apokryphen Bücher des Alten Testaments zu dramatisieren. Birck formt seinen Stoff zu einem vaterländischen Stück aus, das deutlich den republikanischen Stadtstaat der Schweizer durchscheinen läßt. Rebhun hingegen ist ganz auf die Ordnung der Stände und des "ganzen Hauses" bedacht: "Drumb thue wir fürnemlich begern / Das ihm ein ieder nem daraus / Ein lehr / vnd trags mit ihm zu haus / Vnd besser sich inn seinem standt / Er sey nu wie er sey genant." Ganz ähnlich verfährt Hans Sachs, der mit zwei Fastnachtspielen und der köstlichen Meistersingertragödie "Der hörnerne Siegfried" erscheint. Der Drachentöter Siegfried - "Herr König ich kan anderst nicht / Denn in dem Krieg reisen vnd reiten / Mit Würmen vnd mit Leuten streiten" - ist nichts anderes als ein Schläger, der didaktisch aufs bürgerliche Maß zurückgestutzt wird: "Zumb andern deut (bedeutet) Sewfriedt die jugent / On zucht guter sitten vnd tugendt / verwegen / frech vnd vnuerzagt / Die sich in all gferligkeit wagt."

Die Trouvaillen, bislang nur an entlegener Stelle gedruckt, bilden den Schlußteil des Bandes, Johannes Strickers "De Düdesche Schlömer " (Der deutsche Schlemmer) und Ferdinands II. von Tirol "Speculum vitae humanae". Sie stehen für die Gattung der Moralität, die den Kontakt zum geistlichen Drama des Mittelalters noch am deutlichsten wahrt. Ein überaus reizvolles Zwiegespann: Hier der holsteinische Pastor, der wegen seiner adelskritischen Stücke gar mit einem Mordanschlag bedroht und aus seiner Pfarrei vertrieben wird. Dort der Erzherzog, der seine Liebesheirat mit einer Augsburger Kaufmannstochter geheimhalten muß, ein strenger Verfechter der Gegenreformation. Hier ein mittelniederdeutscher "Jedermann" in der Nachfolge niederländischer und lateinischer Vorbilder, eine Ars moriendi, ein Totentanz aus protestantischem Geist, der bei aller allegorischen Typik doch die gesellschaftliche Wirklichkeit aufs Korn nimmt, eine sehr konkrete Bußpredigt von großem Format. Dort ein italienisch beeinflußter, bairisch geprägter (übrigens besonders leicht lesbarer) Lebens-Spiegel, der im Mittelteil die Werke der Barmherzigkeit mit den sieben Todsünden konfrontiert, im Rahmen einen jungen Adligen vorführt, der seine Erzieher um Lebensrat angeht, gewürzt das alles mit sehr persönlichen Erfahrungen des Autors.

Fast dreihundert Seiten nimmt sich der Herausgeber für textkritische Erläuterungen und Kommentare. Die zweifellos beträchtliche Mühsal läßt er sich nirgends anmerken. Geradlinig gibt er jedem das Seine, den Kennern die editorischen Prinzipien (grundsätzlich geht er auf Handschriften, Erstdrucke und früheste Gesamtausgaben zurück), den Normallesern alle erdenklichen und doch nie pedantischen Lesehilfen, sprachliche Erläuterungen gleich unter dem Text, einen Kommentar sodann, der auch die entlegensten Realien und die verderbtesten Zitate aufzuschließen weiß. So wirbt man für das Geschäft der Philologie und für die Sache einer fast vergessenen Literatur. Diese Arche ist wasserdicht und wetterfest. Man wünscht ihr eine gute Landung.

HANS-JÜRGEN SCHINGS

Hellmut Thomke (Hrsg.): "Deutsche Spiele und Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts". Bibliothek der Frühen Neuzeit. Erste Abteilung. Literatur im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, Bd. 2. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1996. 1186 S., geb., 136,- DM.

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