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Sie zweifelt daran, dass es an der Zeit ist, aufzuhören. Deshalb lässt Gabriele Goettle den Deutschen Sitten von 1991 und den Deutschen Bräuchen von 1994 einen dritten Band folgen. Ihre Neugier gibt keine Ruhe, ihr Material ist unerschöpflich, ihre Methode ohne Vorbild: »Dieses Hineintappen - blindlings geradezu - in Situationen, die dann zu Geschichten werden und unerwartete Wendungen nehmen, das ist wunderbar. Wie in der Komödie oder im Märchen tauchen immer wieder die bekannten Figuren auf, und jedes Mal zeigt sich das Thema, die Tragikomödie der deutschen Geschichte, von einer anderen…mehr

Produktbeschreibung
Sie zweifelt daran, dass es an der Zeit ist, aufzuhören. Deshalb lässt Gabriele Goettle den Deutschen Sitten von 1991 und den Deutschen Bräuchen von 1994 einen dritten Band folgen. Ihre Neugier gibt keine Ruhe, ihr Material ist unerschöpflich, ihre Methode ohne Vorbild: »Dieses Hineintappen - blindlings geradezu - in Situationen, die dann zu Geschichten werden und unerwartete Wendungen nehmen, das ist wunderbar. Wie in der Komödie oder im Märchen tauchen immer wieder die bekannten Figuren auf, und jedes Mal zeigt sich das Thema, die Tragikomödie der deutschen Geschichte, von einer anderen Seite«. Die Ergebnisse lassen sich nicht auf eine Formel bringen. Warum baut ein bayerischer Kapitalist den Berg ab, in dem einst die Zwangsarbeiter aus dem KZ die »Wunderwaffe« V2 bauten? Wie geht es auf einem Treffen christlicher Motorradfahrer im Wilden Osten zu? Worüber unterhält man sich bei einer Porno-Messe im ehemaligen Stasi-Hauptquartier? Geht der deutsche Gartenzwerg tatsächlich auf ein Arbeiter-Denkmal zurück? Wie hat eine Frau in Männerkleidung den Ersten Weltkrieg bei der Reichswehr, das Dritte Reich als Metallarbeiter und die DDR in einem Stahlwerk überlebt? Wie wird ein Glasauge geblasen? Was hat ein Pilzfreund mit dem Uranabbau der Wismut-AG zu tun? Wie hängt die Erfindung der Gummipuppe mit dem Elend der Heimarbeiter zusammen? Fragen, auf die kein gewöhnlicher Reporter gekommen wäre. Die Antworten, die Gabriele Goettle einsammelt, sind weniger abwegig als man glauben möchte: sie geben ganz präzise Auskunft über den Widersinn, die Komik und die Unheimlichkeit der Normalität.
Autorenporträt
Gabriele Goettle, 1946 in Aschaffenburg geboren, lebt in Berlin und arbeitet vor allem für die taz, in der ihre Reportagen regelmäßig erscheinen. In der Anderen Bibliothek sind von ihr erschienen: »Deutsche Sitten« (1991), »Deutsche Bräuche« (1994), »Deutsche Spuren« (1997) und »DieÄrmsten!Wahre Geschichten aus dem arbeitslosen Leben« (2000).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.1997

Der deutsche Wolf ist überall
Mit dem Spaten unterwegs: Gabriele Goettle auf Spurensuche

Auch wenn alle in die Ferne reisen würden, um Urlaub von Deutschland zu machen, eine gewiß nicht: Zehn Jahre sind es nun schon, daß Gabriele Goettle mit ihrem VW-Bus unverdrossen durchs Land fährt und fährt und fährt. Lustvoll führen die ethnographischen Berichte ihrer Land-und Seelenvermessungen den deutschen Alltag in drastischen Nahaufnahmen vor. Ihren Ruf als Meisterin der Reportage begründete die Journalistin der "taz" vor sechs Jahren mit ihren "Deutschen Sitten", denen der nicht weniger erfolgreiche Band "Deutsche Bräuche" folgte. Jetzt hat sie mit "Deutsche Spuren" ihren Anteil an Hans Magnus Enzensbergers "Anderer Bibliothek" zu einer Trilogie abgerundet.

Die Vorgehensweise ist die gleiche wie in den vorangegangenen Bänden. Route und Verlauf der Recherche ergeben sich häufig durch Zufallsfunde und Zufallsbekanntschaften. Sobald eine Fährte aufgespürt und das Interesse der Reporterin geweckt ist, läßt Goettle Menschen wie Dinge soviel als möglich für sich selber sprechen. Die Wirklichkeit soll möglichst kommentarlos zum dokumentarischen Selbstausdruck kommen. Das wichtigste Stilmittel dieser Methode sind die Monologe und Selbstgespräche, in die Goettles vertrauensselige Wachmänner, Pastoren, Pilzsammler und Schäferhundzüchter immer wieder verfallen.

Was sich früher bewährte, droht jetzt allerdings zur Masche zu werden. Vor sechs Jahren schockierte der "Nachlaß eines Gymnasiallehrers". Die Banalität der Liste seiner Habseligkeiten vermittelte ein nachhaltigeres Bild des verunglückten Besitzers als jedes Psychogramm. Ähnlich suggestive Wirkung entfaltete das "Nachtgebet von Genoveva Kraus", das delirierende Selbstgespräch einer sechsundneunzigjährigen Altersheimbewohnerin. Vergleichbares taucht jetzt gleich in mehreren Varianten auf: Wiederum sollen die Monologe zweier über neunzig Jahre alter, in "Siechenheimen" dahinvegetierender Frauen die Kälte einer modernen Welt bezeugen, die sich um Individualität keinen Deut schert. Doch wenn jetzt der Epitaph für Genoveva Kraus auf die nämliche Weise für Hedwig Sch. und Frau K. gesetzt wird, zuckt man zusammen und fragt sich, ob es sich womöglich um bloß erfundene Personen handelt.

Im Vergleich zu früheren Reportagen hat sich der Aktionsradius deutlich verkleinert. Von "Erkenntnissen aus Ost und West" kann, anders als der Untertitel verspricht, kaum die Rede sein. Expeditionsgebiet ist fast ausnahmslos der deutsche Osten, Sachsen und Thüringen sind die bevorzugten Domänen. Eine Einkapselung, die Goettles seit jeher bekannte Ruinenseligkeit noch gesteigert hat. Was immer sie anblickt, trägt entweder die Zeichen des bevorstehenden Unterganges oder ist längst abgestorben. Zwei Drittel der zweiunddreißig Reportagen handeln vom Tod und vom Sterben: Abbruch ist in Goettles Osten überall, Aufbruch nirgendwo. Stets fällt ihr Blick zurück, für die mit nekrophiler Dynamik betriebenen archäologischen Tiefenbohrungen heißt das vor allem: nach unten. Gleich im ersten Stück macht sich die Reporterin mitten im Thüringer Wald an die "Exhumierung" geheimnisvoller weißer Püppchen. Die weitere Recherche erweist diese als Überbleibsel der hier vor hundert Jahren in Blüte stehenden, heute weitgehend abgewickelten Puppenfabrikation.

Die ausgegrabenen Puppen sind nur die ersten unheimlichen Begegnungen eines Rotkäppchens, das auszieht, das Gruseln zu lehren: In Goettles Schauermärchen lauert der deutsche Wolf überall. Aus Unterwelten gibt es dabei selten ein Auftauchen. Hat die Reporterin erst einmal zu graben angefangen, dauert es nie lange, bis sie auf Scheintote, Gräber und Tote stößt. Man gelangt von Siechenheim zu Siechenheim; man steht an den Gräbern von Nietzsche und Turnvater Jahn; man verfolgt anhand nachgelassener Bücher die Krankengeschichte eine Onkels, der als Vertreter einer Kunstblumenfabrik "Beerdigungsunternehmen und Geschäfte für Bestattungszubehör" zu seinen Kunden zählte. An den beiden totalitären Vergangenheiten Deutschlands führt bei diesen Wallfahrten des Schreckens kaum je ein Weg vorbei. Wo immer an der Oberfläche gekratzt wird, gären die Hinterlassenschaften von Stalinismus und Nationalsozialismus. Man erfährt von "Dora-Mittelblau", dem Stollensystem im Innern eines Harzberges, in dem 20000 KZ-Häftlinge ihr Leben ließen, sowie von einer unterirdischen "Außenstelle" des Konzentrationslagers Buchenwald, über der sich heute ein unbetretbarer ehemaliger sowjetischer Truppenübungsplatz erstreckt, und lauscht den detaillierten Erklärungen eines Friedhofswärters. Dank seiner makabren Ironie gewährt der Bericht von Heiner Müllers Beerdigung, ein feuilletonistisches Meisterwerk, kurzes Aufatmen.

"Frau Hillers Metamorphose" berichtet von einem Transvestiten, der zu DDR-Zeiten mit offizieller Erlaubnis in Frauenkleidern an seinen Arbeitsplatz, die "VEB Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hans Beimler", gehen durfte. Das ist eine starke Geschichte. Stutzig macht sie dennoch. Denn in alter deutscher Tradition spielt diese profane Heiligenlegende mit der Existenz zweier Reiche. Was ist die schnöde Realität des Sozialismus, so die Botschaft zwischen den Zeilen, gegen dessen unversehrbare, in der Biographie der Frau Hiller menschgewordene Idee? Hinter solch aufblitzenden Ehrenrettungsversuchen größere Sympathie für das DDR-System zu vermuten wäre abwegig. Wichtiger ist die untergründige Polemik der linken Gesellschaftskritikerin gegenüber dem vereinten Deutschland, dem sie den Verlust aller chiliastischen Hoffnungen anlastet, eines Tages das Gute doch noch als gesellschaftliches Ganzes herstellen zu können. So gesehen, sind Goettles nekrophile Manien keineswegs nur eine individuelle Marotte. Sie sind vielmehr ein Versuch, die Kräfte des Erschreckens gegen die Ausbreitung der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation des Westens östlich der Elbe zu mobilisieren.

"Inmitten einer komplexen, hochtechnisierten Gesellschaft", heißt es zu Beginn eines Berichts über ein Universitätsklinikum, "ist jedes Nicht-auf-der-Höhe-Sein, jede Veränderung ins Krankhafte krasser Rückfall - Schritt für Schritt - in die vertriebene und zurückgekehrte Natur." Daß diese im Dauerprotest des Abseitigen verborgene Natur die Oberhand gewinnen möge, ist insgeheim Goettles Hoffnung. Ihre kulturkritisch motivierte Parteinahme versteht es, die Wucherungen des Unheimlichen, von denen diese Texte strotzen, mit politischem Hintersinn aufzuladen.

Wie das funktioniert, zeigt das vielleicht beste Stück dieses Bandes. Es ist einem Glasaugenhersteller im thüringischen Lauscha gewidmet. "Ein graublaues Auge, mit kleiner Pupille und stechendem Blick", lautet der Schlußsatz, "liegt kühl in meiner Handfläche." Beim bloß ästhetischen Schrecken solch surrealistischer Albträume soll es jedoch, wie die mit den Spuren brauner Vergangenheit bedeckten Topographien anderer Stücke zeigen, nicht bleiben. In Goettles politischer Romantik steht jeder Text pars pro toto, und jeder Teil sagt, daß dem Ganzen nicht zu trauen sei. Das Ganze aber ist Deutschland, und daß sich hier der Tod stets zum Meister aufzuschwingen droht, ist die Quintessenz der in diesem Buch versammelten Reportagen. Sich und ihren Lesern verordnet die Autorin gegen die deutschen Dämonen das archäologische Spurenlesen. Unschwer ist darin die Rückbindung an die politisch-moralische Kultur der alten Bundesrepublik zu erkennen. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR hat in dieser Spurenlese die 68er-Generation, die so erfolgreich die Politisierung der Erinnerung betrieb, ihre Deutungshoheit noch nicht eingebüßt. THOMAS MEDICUS

Gabriele Goettle: "Deutsche Spuren. Erkenntnisse aus Ost und West". Mit Fotografien von Elisabeth Kmölniger. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1997. 362 S., geb., 49,50 DM.

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