Das Verhältnis von Tschechen und Deutschen, insbesondere im 20. Jahrhundert, ist dem Mediävisten Ferdinand Seibt seit Jahrzehnten ein Anliegen. Bekannt geworden durch seine Arbeiten zu Kaiser Karl IV. und zu Jan Hus hat er sich seit 1952 kontinuierlich auch neuzeitlichen und zeithistorischen Themen gewidmet. Der Band vereinigt wesentliche Studien Seibts zur Nachbarschaft von Tschechen, Deutschen, Sudetendeutschen und Juden in Mitteleuropa. Er reicht bis in die Zeit des Nationalsozialismus, des Kriegsendes und der Vertreibung der Deutschen. Seibt setzt sich aber auch mit Nationalismustheorien auseinander; ebenso mit Entwicklung und Diskursen der Geschichtswissenschaft in der Tschechoslowakei und in Deutschland, dem allgemeinen Geschichtsbild und der deutsch-tschechischen Zusammenarbeit im vergangenen Jahrzehnt. Persönliche Stellungnahmen und Erinnerungen zur deutsch-tschechischen Nachbarschaft runden den Band ab.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.04.2003Der Versöhner
Ferdinand Seibts letztes Buch
über Deutsche und Tschechen
Auch 1980 saß Ferdinand Seibt zwischen den Stühlen, als er die seit dem neunzehnten Jahrhundert zunehmend zerrütteten Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen als „langen Weg in die Katastrophe” charakterisierte. Mitten im damals wieder kälter gewordenen Kalten Krieg wandte sich der unbequeme Historiker gegen beide Positionen: gegen die Selbstgerechtigkeit der Sudetendeutschen wie auch gegen die monokausale Selbstrechtfertigung der Tschechen. Seibt forderte beide Seiten dazu auf, das von Besetzung, Unterdrückung und Vertreibung geprägte „Katastrophenjahrzehnt zwischen 1938 und 1948” endlich ohne Vorurteile zu behandeln.
Dieser Aufsatz fungiert als Schlüsseltext in dem umfangreichen Sammelband, der anlässlich des 75. Geburtstag des Historikers erschienen ist. 1927 in Nordböhmen geboren und 1945 aus der Tschechoslowakei vertrieben, hat sich der Mediävist besonders durch seine Studien zum Hussitismus und zur Rolle von Kaiser Karl IV. einen Namen gemacht. Seine Forschung umgreift das Verhältnis von Tschechen und Deutschen über das ganze Jahrtausend bis heute.
Für den vorliegenden Band wurden nun hauptsächlich Seibts weit gestreute Veröffentlichungen zur Geschichte von Böhmen und Mähren im vergangenen Jahrhundert zusammengetragen. Weil sich Seibt als Wissenschaftler mit staatsbürgerlichem Engagement immer wieder wortmächtig eingemischt hat, können viele Aufsätze auch interessierte Laien ansprechen. Die Anschaulichkeit seiner Interpretationen rührt wohl auch daher, dass Seibt vor seiner Universitätslaufbahn in München und Bochum als Gymnasiallehrer tätig war.
Seit den fünfziger Jahren verfolgt Ferdinand Seibt das Ziel, die „böhmischen Verwirrungen” aufzuklären. Das gelang ihm mit Essays wie dem originellen „Lesedrama in sieben Akten” zur tschechischen Diskussion über „ihre” Deutschen zwischen 1947 und 1999.
In seiner Absage an jeden Nationalismus und durch seine leidenschaftliche Erinnerung an das ehemals schöpferische Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden ist Ferdinand Seibt zu einem Wegbereiter der Verständigung geworden.
WOLFGANG JEAN STOCK
FERDINAND SEIBT: Deutsche, Tschechen, Sudetendeutsche. Analysen und Stellungnahmen zu Geschichte und Gegenwart aus fünf Jahrzehnten. Oldenbourg Verlag, München 2002. 614 Seiten, 49,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ferdinand Seibts letztes Buch
über Deutsche und Tschechen
Auch 1980 saß Ferdinand Seibt zwischen den Stühlen, als er die seit dem neunzehnten Jahrhundert zunehmend zerrütteten Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen als „langen Weg in die Katastrophe” charakterisierte. Mitten im damals wieder kälter gewordenen Kalten Krieg wandte sich der unbequeme Historiker gegen beide Positionen: gegen die Selbstgerechtigkeit der Sudetendeutschen wie auch gegen die monokausale Selbstrechtfertigung der Tschechen. Seibt forderte beide Seiten dazu auf, das von Besetzung, Unterdrückung und Vertreibung geprägte „Katastrophenjahrzehnt zwischen 1938 und 1948” endlich ohne Vorurteile zu behandeln.
Dieser Aufsatz fungiert als Schlüsseltext in dem umfangreichen Sammelband, der anlässlich des 75. Geburtstag des Historikers erschienen ist. 1927 in Nordböhmen geboren und 1945 aus der Tschechoslowakei vertrieben, hat sich der Mediävist besonders durch seine Studien zum Hussitismus und zur Rolle von Kaiser Karl IV. einen Namen gemacht. Seine Forschung umgreift das Verhältnis von Tschechen und Deutschen über das ganze Jahrtausend bis heute.
Für den vorliegenden Band wurden nun hauptsächlich Seibts weit gestreute Veröffentlichungen zur Geschichte von Böhmen und Mähren im vergangenen Jahrhundert zusammengetragen. Weil sich Seibt als Wissenschaftler mit staatsbürgerlichem Engagement immer wieder wortmächtig eingemischt hat, können viele Aufsätze auch interessierte Laien ansprechen. Die Anschaulichkeit seiner Interpretationen rührt wohl auch daher, dass Seibt vor seiner Universitätslaufbahn in München und Bochum als Gymnasiallehrer tätig war.
Seit den fünfziger Jahren verfolgt Ferdinand Seibt das Ziel, die „böhmischen Verwirrungen” aufzuklären. Das gelang ihm mit Essays wie dem originellen „Lesedrama in sieben Akten” zur tschechischen Diskussion über „ihre” Deutschen zwischen 1947 und 1999.
In seiner Absage an jeden Nationalismus und durch seine leidenschaftliche Erinnerung an das ehemals schöpferische Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden ist Ferdinand Seibt zu einem Wegbereiter der Verständigung geworden.
WOLFGANG JEAN STOCK
FERDINAND SEIBT: Deutsche, Tschechen, Sudetendeutsche. Analysen und Stellungnahmen zu Geschichte und Gegenwart aus fünf Jahrzehnten. Oldenbourg Verlag, München 2002. 614 Seiten, 49,80 Euro.
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"Überzeugend weist die Festschrift, zugleich der 100. Band in der Schriftenreihe des Collegium Carolinum, den leider zwischenzeitlich verstorbenen Ferdinand Seibt als engagierten Zeithistoriker des deutsch-tschechischen Verhältnisses und als bedeutenden Historiographieforscher für das 19. und 20. Jahrhundert aus." (Joachim Bahlcke in: Das Historisch-Politische Buch 2/2004)