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"Die Nation hat schlechte Laune. Sie ist wiedervereint, aber nicht glücklich." So beschreibt Günter de Bruyn die Bewusstseinslage seiner Zeitgenossen, zehn Jahre nach der Wende. In diesem Essay-Band geht er mit den Landsleuten in Ost und West scharf ins Gericht. Er entlarvt ihr Verhältnis zur Geschichte als allzu bequem und oberflächlich. Engagiert bezieht er Stellung gegen fortschreitenden Werteverfall und Entchristianisierung.

Produktbeschreibung
"Die Nation hat schlechte Laune. Sie ist wiedervereint, aber nicht glücklich." So beschreibt Günter de Bruyn die Bewusstseinslage seiner Zeitgenossen, zehn Jahre nach der Wende. In diesem Essay-Band geht er mit den Landsleuten in Ost und West scharf ins Gericht. Er entlarvt ihr Verhältnis zur Geschichte als allzu bequem und oberflächlich. Engagiert bezieht er Stellung gegen fortschreitenden Werteverfall und Entchristianisierung.
Autorenporträt
Günter de Bruyn, 1926 in Berlin geboren, lebt heute als freier Schriftsteller in einem märkischen Dorf. Seine beiden autobiografischen Bücher "Zwischenbilanz" und "Vierzig Jahre" machten Furore. Zu Günter de Bruyns zahlreichen Auszeichnungen zählen der Heinrich-Mann-Preis, der Thomas- Mann-Preis, der Große Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Künste, der Jean-Paul-Preis, der Deutsche Nationalpreis, der Jacob-Grimm-Preis, der Hoffmann-von-Fallersleben-Preis und 2011 der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2000

Engel statt Sputniks
Günter de Bruyn erklärt, weshalb er die deutsche Einheit immer noch gut findet · Von Mark Siemons

Man wird unter deutschen Schriftstellern schwerlich einen ernsthafteren, wahrheitsliebenderen und gerechteren Menschen finden als Günter de Bruyn. Seinem neuen Essay-Band "Deutsche Zustände" merkt man an, wie skrupulös der Autor vorgeht; jedes Urteil ist jahrelang durchlebt, erwogen, hin- und hergewendet worden. So ist die Freude über die deutsche Einheit, die das übergreifende Thema dieses Buches bildet, alles andere als leichtfertigem Optimismus, geschweige denn politischem Opportunismus geschuldet. Sie ist ein hochreflektierter, sehr persönlicher Akt, der den durchaus abweichenden Gefühlen der Umgebung hartnäckig abgerungen ist.

Doch leider entspringen dieser Freude Sätze wie der folgende, eine Mahnung an die ostdeutschen Landsleute, die stilistisch, dramaturgisch und inhaltlich für das Buch typisch ist: "Nur wir selbst können uns aus der Zufriedenheit einer kaschierten und geklitterten Erinnerung reißen, indem wir der Neigung, es uns leicht zu machen, entgegenarbeiten, uns auch der Leidenszeiten entsinnen, uns unsere Fehler, Schwächen und Niederlagen vor Augen führen, vergangene Schuld aus der Verdrängung entbinden, über Versäumnisse oder Taten nachträglich noch Scham empfinden und das nicht etwa aus psychotherapeutischen Gründen (obwohl eine Wirkung in dieser Hinsicht einsetzen könnte) - sondern weil es verhängnisvoll wäre, wenn wir alle statt unsere Vergangenheit eine Illusion von ihr wahrnehmen würden, und weil die Ehrlichkeit nicht aus der Welt kommen darf."

Der Satz ist ebenso wenig bestreitbar wie originell, pointiert oder folgerichtig. Er überführt ein gesellschaftliches Problem in eine rein moralische Sphäre, wo alles wieder eindeutig ist: Denn dass Verdrängung, Illusion und Unehrlichkeit von Nachteil sind, darauf wird man sich einigen können. Nur ist mit solcher Übereinstimmung nicht viel über die Wirklichkeit gesagt. Günter de Bruyn findet für alle Merkwürdigkeiten, die Deutschland und ihn umgeben, eine Diagnose, die niemand bezweifeln würde. Er stellt, vor allem im Osten, "schlechte Laune" und eine Vergoldung der Erinnerung fest; er bemerkt einen "Verlust von Selbstwertgefühlen" und eine "Überforderung durch Neuheit und Freiheit"; er findet, "dass der Hauptfehler, den wir im Urteilen übereinander machen, vor allem im zu schnellen Generalisieren besteht".

Das ist das Elend des Konservativismus im Allgemeinen und dieser gut gemeinten Näherungsversuche an die ost-westliche Realität im Besonderen: Sie können die Differenz nicht erklären, die auch unter den Gutmeinenden immer wieder zustande kommt. Weshalb nimmt einer wie Günter de Bruyn eine andere Haltung zur vergangenen DDR und zur gegenwärtigen Bundesrepublik ein als die meisten seiner Schriftstellerkollegen aus der DDR? Weshalb bewertet er den Zugewinn an Freiheit so viel höher als die Orientierungsverluste oder Demütigungen, unter denen andere in den neuen Verhältnissen leiden? De Bruyn verschweigt es nicht, und das macht den besonderen dokumentarischen Wert dieses Buches aus; aber er zieht daraus leider keine ästhetischen Folgerungen.

Die andere Erfahrung kommt aus einer mit der Geschichtsphilosophie der DDR konkurrierenden Metaphysik, die freilich nur wenige Freunde hatte: dem christlichen Glauben, in de Bruyns Fall dem katholischen. Er erzählt eine Anekdote von seiner sechsjährigen Tochter, die bei der Einschulung in den sechziger Jahren gefragt wurde, was denn so alles fliegt. Statt, wie erwartet, den Sputnik als Flugobjekt zu identifizieren, kam das Kind auf die Engel, worauf sich bei der Lehrerin verlegenes Schweigen ausbreitete. Die Frage zielte auf den wissenschaftlichen Fortschritt, der die Überlegenheit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung dokumentieren sollte, und als Antwort kam da ein vermeintlicher Anachronismus aus dem ideologischen Arsenal des Klassenfeinds. Aber auch die Eltern waren verlegen, weil ihnen die Konzeptionslosigkeit ihrer Erziehungsarbeit im atheistischen Staat bewusst wurde, ihr Gespaltensein zwischen Scheinanpassung und Bekenntnis.

In diesem Teil hat das Buch seine stärksten Passagen. Hier kann man erahnen, dass vor allem jene, die eine intellektuelle Alternative zum sozialistischen Gedankengebäude hatten, dessen Zusammenbruch uneingeschränkt als Befreiung erleben konnten. Was nicht heißt, dass de Bruyn die Bundesrepublik nun rückhaltlos als seine geistige Heimat ansieht. Man merkt das an der Wärme, mit der er seine Sympathie mit dem seiner Meinung nach heute billig verachteten Heinrich Böll kundgibt. Angetan hat es ihm vor allem eine Szene aus "Dr. Murkes gesammeltem Schweigen", "in der eine ohnmächtige Geste daran erinnert, dass es auch für den modernen Menschen noch mehr gibt als das Funktionieren in der Alltagsroutine und das allabendliche Geschwätz der Medien". Der Held, ein Radioredakteur, befestigt da ein kitschiges Herz-Jesu-Bildchen an der Tür der Hörspielabteilung, gewissermaßen als "Sand im Getriebe der Kunstmaschinerie". De Bruyn sieht das Christentum auch im Westen auf dem Rückzug. "Für einen, der an dem Rationalismus heutigen Lebens kein Genüge findet, ist die Kirche vielleicht zu sehr Bestandteil desselben." Den Christen fehle heute der "Wille, sich nicht nur zu behaupten, sondern verlorene Seelen zurückzugewinnen, also, falls das Wort noch erlaubt ist: Mission".

Diese Zugespitztheit fehlt dem mit Fotografien von Barbara Klemm so schön gestalteten Buch sonst leider häufig. Am besten sind diese allzu gerechten Betrachtungen über Brandenburg, Berlin und Fontane dort, wo sie persönlich werden. Stifter wird mit dem Vorschlag zitiert, die gegenwärtigen Gefühle und Gedanken regelmäßig aufzuschreiben, in einem Umschlag zu versiegeln und erst nach drei oder vier Jahren wieder zu lesen: So könne der Einzelne an seinen eigenen Erfahrungen und Urteilen wachsen - wobei freilich jeder Gedanke an Öffentlichkeit peinlichst vermieden werden müsse. Zwischen dem Guten und dem öffentlich Anerkannten, bemerkt de Bruyn nebenbei, können Welten klaffen.

Günter De Bruyn: "Deutsche Zustände". Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur. Mit Fotografien von Barbara Klemm. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 276 S., geb., 44,- DM.

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