Waren die Deutschen in ihren Kolonialkriegen besonders gewalttätig? Ist bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Völkermord bewusst als militärische Mittel eingeplant worden? In ihrer großen empirischen Untersuchung zum Boxerkrieg in China 1900/01, dem Herero- und Namakrieg in Deutsch-Südwestafrika 1904-07 sowie dem Majimajikrieg 1905-08 in Deutsch-Ostafrika zeigt die Autorin, dass Form und Ausmaß der Gewalt in jenen Kriegen aus der Situation vor Ort erwachsen sind. Es entwickelte sich jeweils eine eigene, nicht vorhersehbare Dynamik. Damit liefert sie einen eigenständigen Beitrag zur Genozid-Forschung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2011Erschreckende Brutalität
Deutsche Soldaten auf kolonialen Kriegsschauplätzen: "Strafexpeditionen"
"Pardon wird nicht gegeben!" So verabschiedete Wilhelm II. nach der Ermordung des deutschen Gesandten in China das Expeditionskorps im Sommer 1900 von Bremerhaven aus nach Fernost. Diese Parole, die bald sogar fester Bestandteil eines eigens komponierten martialischen Soldatenliedes war, gilt bis heute zu Recht als Beleg dafür, dass der Kaiser nicht zuletzt wegen seiner häufig unüberlegten Reden völlig ungeeignet war, seiner Stellung als Monarch gerecht zu werden. Weitaus wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass einige Kolonialhistoriker in derartigen Äußerungen den Beweis für die spezifische Ausprägung einer "militärischen Kultur" in Deutschland gefunden zu haben glauben. Diese habe den "ultimativen Tabubruch", die Vernichtung ganzer Ethnien wie der Hereros, nicht nur zu denken gewagt, sondern ihren Vollzug auch schon vor 1914 erlaubt. Die Verbrechen des NS-Regimes und der Wehrmacht seien insofern nur die radikalste Variante einer Politik, die erstmals in den Kolonialkriegen in China, Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika systematisch praktiziert worden sei.
Was auf den ersten Blick schlüssig sein mag, also die berühmt-berüchtigte Proklamation des Generals von Trotha zur faktischen Vernichtung der Hereros in eine Linie mit Befehlen von Wehrmachtsgeneralen zu stellen, ist letztlich problematisch. Diesen Schluss legt die Studie von Susanne Kuß nahe. Auf der Grundlage vielfach neuer Quellen versucht sie aufzuzeigen, dass der Rekurs auf Motive und Absichten der Militärs oder mentale und psychische Dispositionen der Soldaten zu kurz greifen. Erst wenn man die Wirksamkeit verschiedener Faktoren, zu denen sie die geographischen Bedingungen, die sozialen Interaktionen und die Vorstellungen der Akteure zählt, berücksichtige und deren Abhängigkeit voneinander herausstelle, sei es möglich, die Ausübung extremer Kriegsgewalt zu erklären. Auch der Rezeption und der Reaktion im Ausland sowie im Reichstag und in der Militärpublizistik misst sie einen großen Stellenwert zu.
Ein solcher Ansatz hilft zu erklären, was es bedeutete, fernab der Heimat unter unwirtlichen Bedingungen in unbekannten und kaum erschlossenen Gegenden Krieg gegen Gegner zu führen, die sich an die gewohnten "Regeln" der Kriegsführung nicht hielten, oder welche Folgen die latente Beobachtung durch die Heimat haben konnte. Die erregten Debatten im Reichstag angesichts des Hererokrieges sollten diesbezüglich nicht unterschätzt werden. Zugegeben: Die Thesen von Frau Kuß klingen nicht nur sehr theoretisch, sondern auch apologetisch. Ihre schonungslose Darstellung der Realität der Kolonialkriege zeigt jedoch, dass von Apologie keine Rede sein kann. Es ist schon erschreckend, zu sehen, mit welcher Brutalität deutsche Soldaten bei der Niederschlagung von Aufständen vorgingen: Plünderungen, Niederbrennen ganzer Dörfer, Vernichtung der Ernten, Vertreibung der ansässigen Bevölkerung, langjährige Internierungen, drakonische Strafen, willkürliche Hinrichtungen und auch Vergewaltigungen gehörten zum Alltag dieser "Strafexpeditionen".
Da die Regelungen der Haager Landkriegsordnung nur für den Krieg zwischen "zivilisierten" Staaten galten, entfielen dabei alle Hemmungen zu töten. Im Gegenteil: ungehemmte Brutalität schien eine notwendige Begleiterscheinung der "Zivilisierungsmission" zu sein. Selbst altgediente Kolonialoffiziere konnten ihre Abscheu darüber, dass manche Angehörige der Schutztruppe den Krieg mit der Jagd verwechselten, nicht verbergen. "Der Freiherr von Erffa hat wieder 2 Feinde erlegt; der Mann erschießt mir etwas zu viel Hereros, seit er nicht mehr unter meinen Augen ficht." Die Zahl der Opfer war dementsprechend hoch: Fast ein Drittel der Nama und Herero starb nach vorsichtigen Schätzungen im Krieg oder an dessen Folgen; in Ostafrika wird die Zahl der Opfer auf 180 000 geschätzt.
Ob die Autorin ihre kritische Position hinsichtlich der Kontinuitätsthese aufrechterhalten kann, wird die weitere Diskussion zeigen. Gleichwohl: Ihr Versuch, den kolonialen Kriegsschauplatz stärker in den Mittelpunkt zu rücken, und ihre aus einer komplexen Analyse abgeleitete These, der Weg von Windhuk nach Auschwitz sei weiter gewesen als von manchen angenommen, hat trotz der Bereitschaft, Strafexpeditionen "notfalls" zum Genozid eskalieren zu lassen, manches für sich. Der Unterschied zwischen dem kolonialen Rassismus deutscher Weltpolitiker, die - so zynisch dies klingen mag - die einheimische Bevölkerung als "wichtigsten Aktivposten im kolonialen Wirtschaftsleben" betrachteten, und der von vornherein auf systematische rassische Vernichtung zielenden NS-Ideologie war mehr als nur gradueller Natur.
Gleichermaßen ist es bisher nicht gelungen, personelle Kontinuitäten oder die gezielte Auswertung der Kolonialkriege für die Kriegsführung im Osten nachzuweisen. Schließlich sollte angesichts des Verhaltens anderer Kolonialmächte nicht übersehen werden, dass es in der Kolonialpolitik genauso wenig einen deutschen "Sonderweg" gegeben hat wie im Bereich der politischen Kultur. Dies heißt freilich nicht, dass die Suche nach den spezifischen Ursachen für die "deutsche Katastrophe" nicht weitergehen müsste.
MICHAEL EPKENHANS
Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ch. Links Verlag, Berlin 2010. 500 S., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutsche Soldaten auf kolonialen Kriegsschauplätzen: "Strafexpeditionen"
"Pardon wird nicht gegeben!" So verabschiedete Wilhelm II. nach der Ermordung des deutschen Gesandten in China das Expeditionskorps im Sommer 1900 von Bremerhaven aus nach Fernost. Diese Parole, die bald sogar fester Bestandteil eines eigens komponierten martialischen Soldatenliedes war, gilt bis heute zu Recht als Beleg dafür, dass der Kaiser nicht zuletzt wegen seiner häufig unüberlegten Reden völlig ungeeignet war, seiner Stellung als Monarch gerecht zu werden. Weitaus wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass einige Kolonialhistoriker in derartigen Äußerungen den Beweis für die spezifische Ausprägung einer "militärischen Kultur" in Deutschland gefunden zu haben glauben. Diese habe den "ultimativen Tabubruch", die Vernichtung ganzer Ethnien wie der Hereros, nicht nur zu denken gewagt, sondern ihren Vollzug auch schon vor 1914 erlaubt. Die Verbrechen des NS-Regimes und der Wehrmacht seien insofern nur die radikalste Variante einer Politik, die erstmals in den Kolonialkriegen in China, Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika systematisch praktiziert worden sei.
Was auf den ersten Blick schlüssig sein mag, also die berühmt-berüchtigte Proklamation des Generals von Trotha zur faktischen Vernichtung der Hereros in eine Linie mit Befehlen von Wehrmachtsgeneralen zu stellen, ist letztlich problematisch. Diesen Schluss legt die Studie von Susanne Kuß nahe. Auf der Grundlage vielfach neuer Quellen versucht sie aufzuzeigen, dass der Rekurs auf Motive und Absichten der Militärs oder mentale und psychische Dispositionen der Soldaten zu kurz greifen. Erst wenn man die Wirksamkeit verschiedener Faktoren, zu denen sie die geographischen Bedingungen, die sozialen Interaktionen und die Vorstellungen der Akteure zählt, berücksichtige und deren Abhängigkeit voneinander herausstelle, sei es möglich, die Ausübung extremer Kriegsgewalt zu erklären. Auch der Rezeption und der Reaktion im Ausland sowie im Reichstag und in der Militärpublizistik misst sie einen großen Stellenwert zu.
Ein solcher Ansatz hilft zu erklären, was es bedeutete, fernab der Heimat unter unwirtlichen Bedingungen in unbekannten und kaum erschlossenen Gegenden Krieg gegen Gegner zu führen, die sich an die gewohnten "Regeln" der Kriegsführung nicht hielten, oder welche Folgen die latente Beobachtung durch die Heimat haben konnte. Die erregten Debatten im Reichstag angesichts des Hererokrieges sollten diesbezüglich nicht unterschätzt werden. Zugegeben: Die Thesen von Frau Kuß klingen nicht nur sehr theoretisch, sondern auch apologetisch. Ihre schonungslose Darstellung der Realität der Kolonialkriege zeigt jedoch, dass von Apologie keine Rede sein kann. Es ist schon erschreckend, zu sehen, mit welcher Brutalität deutsche Soldaten bei der Niederschlagung von Aufständen vorgingen: Plünderungen, Niederbrennen ganzer Dörfer, Vernichtung der Ernten, Vertreibung der ansässigen Bevölkerung, langjährige Internierungen, drakonische Strafen, willkürliche Hinrichtungen und auch Vergewaltigungen gehörten zum Alltag dieser "Strafexpeditionen".
Da die Regelungen der Haager Landkriegsordnung nur für den Krieg zwischen "zivilisierten" Staaten galten, entfielen dabei alle Hemmungen zu töten. Im Gegenteil: ungehemmte Brutalität schien eine notwendige Begleiterscheinung der "Zivilisierungsmission" zu sein. Selbst altgediente Kolonialoffiziere konnten ihre Abscheu darüber, dass manche Angehörige der Schutztruppe den Krieg mit der Jagd verwechselten, nicht verbergen. "Der Freiherr von Erffa hat wieder 2 Feinde erlegt; der Mann erschießt mir etwas zu viel Hereros, seit er nicht mehr unter meinen Augen ficht." Die Zahl der Opfer war dementsprechend hoch: Fast ein Drittel der Nama und Herero starb nach vorsichtigen Schätzungen im Krieg oder an dessen Folgen; in Ostafrika wird die Zahl der Opfer auf 180 000 geschätzt.
Ob die Autorin ihre kritische Position hinsichtlich der Kontinuitätsthese aufrechterhalten kann, wird die weitere Diskussion zeigen. Gleichwohl: Ihr Versuch, den kolonialen Kriegsschauplatz stärker in den Mittelpunkt zu rücken, und ihre aus einer komplexen Analyse abgeleitete These, der Weg von Windhuk nach Auschwitz sei weiter gewesen als von manchen angenommen, hat trotz der Bereitschaft, Strafexpeditionen "notfalls" zum Genozid eskalieren zu lassen, manches für sich. Der Unterschied zwischen dem kolonialen Rassismus deutscher Weltpolitiker, die - so zynisch dies klingen mag - die einheimische Bevölkerung als "wichtigsten Aktivposten im kolonialen Wirtschaftsleben" betrachteten, und der von vornherein auf systematische rassische Vernichtung zielenden NS-Ideologie war mehr als nur gradueller Natur.
Gleichermaßen ist es bisher nicht gelungen, personelle Kontinuitäten oder die gezielte Auswertung der Kolonialkriege für die Kriegsführung im Osten nachzuweisen. Schließlich sollte angesichts des Verhaltens anderer Kolonialmächte nicht übersehen werden, dass es in der Kolonialpolitik genauso wenig einen deutschen "Sonderweg" gegeben hat wie im Bereich der politischen Kultur. Dies heißt freilich nicht, dass die Suche nach den spezifischen Ursachen für die "deutsche Katastrophe" nicht weitergehen müsste.
MICHAEL EPKENHANS
Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ch. Links Verlag, Berlin 2010. 500 S., 49,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Studie der Freiburger Historikerin Susanne Kuss entnimmt Thomas Speckmann die Erkenntnis, dass zwischen den deutschen Kolonialkriegen und dem rassischen Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg kein kausaler Zusammenhang besteht. Kuss zeigt ihm, welche Faktoren außer Rassismus, Nationalismus und "Militärkultur" (seltsames Wort) noch bedeutsam waren für die imperialistische militärische Gewalt in den drei großen deutschen Kolonialkriegen (Boxerkrieg, Herero- und Namakrieg, Majimajikrieg). Geografie, Klima, Kultur, Herkunft des Gegners, sein Guerillakampf und andere unwägbare Momente erkennt Kuss als entscheidend für die Kolonialkriege. Rassismus und Propaganda seien dagegen bedeutsam für die Kriege Deutschland gegen Polen und die Sowjetunion 1939 und 1941. So differenziert Kuss die Handlungsbedingungen für die Soldaten analysiert, so klar ist dem Rezensenten doch eines: Die historische Verantwortung für die deutschen Kolonialkriege bleibt bestehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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