Hans-Jochen und Bernhard Vogel haben die Geschichte der Bundesrepublik von Anfang an erlebt. Als Betroffene und als Akteure. Den 8. Mai 1945 erlebte der eine als Kriegsgefangener in Italien, der andere als Schüler in Gießen. Politische Vorbilder wurden so gegensätzliche Persönlichkeiten wie Schumacher und Adenauer. Beider Wege führten in hohe Ämter. Die großen Daten von 60 Jahren deutscher Nachkriegsgeschichte sind verbunden mit Stationen auch ihres politischen Lebens. Adenauers Moskaureise, Mauerbau, Berlinblockade, die große Koalition und die 68er Bewegung tauchen auf, bis hin zur Wiedervereinigung.
Aber auch persönliche Erinnerungen führen Zeitgeschichte im Gepäck: die erste D-Mark und das erste Auto, die Begegnungen mit Brandt und Wehner, Katastrophen wie die Entführung der "Landshut", das Blutbad von München, die Ramstein-Katastrophe oder der Mord am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt.
Bei allen Unterschieden der Deutung - gemeinsam ist die Werthaltung, das Engagement und die leidenschaftliche Lust am Gestalten. Ein ungewöhnliches und spannend erzähltes, persönliches Geschichtsbuch.
Aber auch persönliche Erinnerungen führen Zeitgeschichte im Gepäck: die erste D-Mark und das erste Auto, die Begegnungen mit Brandt und Wehner, Katastrophen wie die Entführung der "Landshut", das Blutbad von München, die Ramstein-Katastrophe oder der Mord am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt.
Bei allen Unterschieden der Deutung - gemeinsam ist die Werthaltung, das Engagement und die leidenschaftliche Lust am Gestalten. Ein ungewöhnliches und spannend erzähltes, persönliches Geschichtsbuch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2007Das Hohelied der Bundesrepublik
Die Brüder Bernhard und Hans-Jochen Vogel erinnern sich im Wechselspiel
Eine pfiffige Idee, die beiden Vogel-Brüder, die in SPD und CDU erstaunliche Karriere machten, über Jahrzehnte nie gemeinsam auftraten, sich aber in allen politischen Kämpfen stets respektierten und freundschaftlich verbunden blieben, im Wechselspiel einen Blick zurück werfen zu lassen auf sechs Jahrzehnte deutscher Zeitgeschichte. Am Anfang steht, natürlich, das Ende des Krieges, aus dem der sechs Jahre Ältere, Hans-Jochen, mit einem Bauchschuss in Norditalien herauskommt, während der Jüngere amerikanischen Tanks am Ostermontag 1945 im heimatlichen Gießen begegnet. Dass die totale Niederlage zugleich eine Befreiung bedeutet, erschließt sich beiden erst allmählich, wobei Hans-Jochen, früh schon schulmeisterlich, Bernhards politische Bildung übernimmt, die wichtigsten Wochenereignisse abfragt, richtige Antworten mit 50 Pfennig honoriert. Dass ihm der jüngere Bruder jedoch 1950 nicht in die SPD folgen mag, stattdessen etwas später in die CDU eintritt, wird als notwendiger Emanzipationsakt mehr als erklärlich.
Währungsreform, Grundgesetz, Adenauer-Zeit - schon bei diesen Schilderungen wird deutlich, was beide Brüder prägt und über alle politischen Gräben hinweg neben einem tiefen Verfassungspatriotismus verbindet: eine katholisch fundierte, paternalistische Sozialethik. Wo Hans-Jochen Vogel in den fünfziger Jahren lange vom "Gedanken des Gemeineigentums an marktbeherrschenden Unternehmen" fasziniert ist und noch später als Bundesbauminister im Kabinett Brandt von einer "wirklichen Bodenreform" träumt, beruft sich sein Bruder auf die katholische Soziallehre, auf die Jesuitenpatres Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning. Zusammen verehren sie Johannes Paul II., loben seine Kapitalismuskritik. Auch Hans-Jochen Vogel, der erste praktizierende Katholik an der Spitze der SPD, wird ihn mehrmals treffen. Wirkliches Vertrauen in die Effizienz, die Gerechtigkeit des Marktes sieht anders aus, bei allem Lob für den Mut Ludwig Erhards und seine Wirtschaftsreformen.
Das Wirtschaftswunder und die gute Bezahlung als Münchner Stadtrat und Leiter des Rechtsreferates verhelfen Hans-Jochen Vogel 1958 zu seinem ersten Auto, einem VW-Käfer. Der Aufstieg zum jüngsten Oberbürgermeister Deutschlands folgt zwei Jahre später. Ein Menetekel für Adenauer - der amtierende Bundeskanzler ist fünfzig Jahre älter. Bruder Bernhard nimmt derweil unter dem Decknamen "Peter Pinto" mit Rückendeckung des Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen an den kommunistischen Weltjugendspielen in Wien teil. Auch seine Karriere gewinnt nach kommunalpolitischem Start an Fahrt, führt 1965 in den Bundestag. Wichtigster Förderer und Freund? Helmut Kohl, dem er in den dramatischen Wochen von Erhards Sturz, Kurt Georg Kiesingers Kür und der Bildung der ersten großen Koalition der Bundesrepublik jeden Abend telefonisch berichtet, der ihn wenig später zum Kultusminister in Rheinland-Pfalz berufen, 1976 als Nachfolger im Ministerpräsidentenamt vorschlagen wird. Bernhard Vogel im Rückblick: "Die Partei war Kohls Heimat. Mitunter - so schien es manchmal - war ihm sein Parteiamt noch wichtiger als sein Regierungsamt."
Der Band versammelt eine Fülle solcher Beobachtungen und Skizzen politischer Weggefährten. Brandts Kniefall in Warschau und sein Plädoyer für "compassion" auf dem SPD-Wahlparteitag 1972 haben Hans-Jochen Vogel besonders beeindruckt. Herbert Wehners Verstrickungen in die stalinistische Mordmaschinerie bewertet er milde: Wehner sei, selbst bedroht, "ein Rädchen im riesigen Verfolgungsapparat" gewesen. Über Helmut Schmidt erfahren wir, dass er Kabinettssitzungen vom ersten Tage an "straff und gut vorbereitet" führte, Helmut Kohl im Ministerkreis einst als "Zaunkönig, der keine Zukunft habe" bezeichnete - ein amüsantes Fehlurteil.
Gegner und bittere Niederlagen bleiben weitgehend ausgeblendet. Allerdings ärgert sich Hans-Jochen Vogel noch immer über den Vorwurf, dass die SPD sich 1989 bereits endgültig mit der Zweistaatlichkeit abgefunden und einen unkritisch engen Dialog mit dem SED-Regime gepflegt habe, und - historische Sensation - dass sein Stufenplan zur deutschen Vereinigung vor Kohls berühmten zehn Punkten übersehen wurde: "Dass ich zuvor in einem fünf-Punkte-Programm für meine Fraktion bereits dasselbe gefordert habe, ist weithin unbekannt geblieben." Oskar Lafontaines Verhalten ergrimmt ihn noch immer - dieser habe den SPD-Parteivorsitz weggeworfen "wie einen schmutzigen Anzug", habe einen Mangel an Solidarität, ein "Übermaß an Egozentrik" erkennen lassen.
Auffällig ist die brüderliche Übereinstimmung bei der Bewertung der Apo. Wo Hans-Jochen Vogel sich an "kalten, mitunter hasserfüllten Fanatismus, Unduldsamkeit und absolute Humorlosigkeit" der studentischen Ideologen erinnert, berichtet Bernhard fast schon lakonisch von chaotischen Zuständen an den Universitäten, offenen Rechtsbrüchen, resignierenden Professoren und davon, dass er selbst sich 1967/68 daran gewöhnen musste, "nahezu allabendlich mit Eiern und Tomaten beworfen zu werden".
Ihre größte Herausforderung allerdings bestand die Republik für beide Brüder vor dreißig Jahren, im sogenannten "deutschen Herbst" der Schleyer-Entführung. Der eine, Hans-Jochen, sitzt als Bundesjustizminister im Bonner Krisenstab, der andere als Freund und Vertrauter bei Familie Schleyer in Stuttgart. Die jeweilige Schilderung ist hier dicht, bedrückend: Ein Mensch wird geopfert für die Staatsräson. Beide wissen es, sind letztlich hilf- und machtlos wie alle. Dennoch wird Bernhard Vogel als Ministerpräsident - der älteste Sohn Schleyers ist sein Büroleiter - zehn Jahre später den ersten RAF-Verurteilten begnadigen, nach Rücksprache mit allen Beteiligten, vom Täter bis zu den Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, darunter für die SPD: Bruder Hans-Jochen. Ein weiteres bizarres Detail aus diesem seltsamen politischen Doppelleben. Auch dass Bernhard Vogel 1992 für elf Jahre als Ministerpräsident nach Thüringen gehen, als bislang einziger Politiker in zwei Bundesländern regiert haben wird, bleibt bemerkenswert. So bemerkenswert wie das kleine Buch, in dem in höchsten schwarz-roten Tönen die Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Republik besungen wird.
DANIEL KOERFER
Bernhard Vogel/Hans-Jochen Vogel: Deutschland aus der Vogel-Perspektive. Eine kleine Geschichte der Bundesrepublik. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2007. 256 S., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Brüder Bernhard und Hans-Jochen Vogel erinnern sich im Wechselspiel
Eine pfiffige Idee, die beiden Vogel-Brüder, die in SPD und CDU erstaunliche Karriere machten, über Jahrzehnte nie gemeinsam auftraten, sich aber in allen politischen Kämpfen stets respektierten und freundschaftlich verbunden blieben, im Wechselspiel einen Blick zurück werfen zu lassen auf sechs Jahrzehnte deutscher Zeitgeschichte. Am Anfang steht, natürlich, das Ende des Krieges, aus dem der sechs Jahre Ältere, Hans-Jochen, mit einem Bauchschuss in Norditalien herauskommt, während der Jüngere amerikanischen Tanks am Ostermontag 1945 im heimatlichen Gießen begegnet. Dass die totale Niederlage zugleich eine Befreiung bedeutet, erschließt sich beiden erst allmählich, wobei Hans-Jochen, früh schon schulmeisterlich, Bernhards politische Bildung übernimmt, die wichtigsten Wochenereignisse abfragt, richtige Antworten mit 50 Pfennig honoriert. Dass ihm der jüngere Bruder jedoch 1950 nicht in die SPD folgen mag, stattdessen etwas später in die CDU eintritt, wird als notwendiger Emanzipationsakt mehr als erklärlich.
Währungsreform, Grundgesetz, Adenauer-Zeit - schon bei diesen Schilderungen wird deutlich, was beide Brüder prägt und über alle politischen Gräben hinweg neben einem tiefen Verfassungspatriotismus verbindet: eine katholisch fundierte, paternalistische Sozialethik. Wo Hans-Jochen Vogel in den fünfziger Jahren lange vom "Gedanken des Gemeineigentums an marktbeherrschenden Unternehmen" fasziniert ist und noch später als Bundesbauminister im Kabinett Brandt von einer "wirklichen Bodenreform" träumt, beruft sich sein Bruder auf die katholische Soziallehre, auf die Jesuitenpatres Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning. Zusammen verehren sie Johannes Paul II., loben seine Kapitalismuskritik. Auch Hans-Jochen Vogel, der erste praktizierende Katholik an der Spitze der SPD, wird ihn mehrmals treffen. Wirkliches Vertrauen in die Effizienz, die Gerechtigkeit des Marktes sieht anders aus, bei allem Lob für den Mut Ludwig Erhards und seine Wirtschaftsreformen.
Das Wirtschaftswunder und die gute Bezahlung als Münchner Stadtrat und Leiter des Rechtsreferates verhelfen Hans-Jochen Vogel 1958 zu seinem ersten Auto, einem VW-Käfer. Der Aufstieg zum jüngsten Oberbürgermeister Deutschlands folgt zwei Jahre später. Ein Menetekel für Adenauer - der amtierende Bundeskanzler ist fünfzig Jahre älter. Bruder Bernhard nimmt derweil unter dem Decknamen "Peter Pinto" mit Rückendeckung des Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen an den kommunistischen Weltjugendspielen in Wien teil. Auch seine Karriere gewinnt nach kommunalpolitischem Start an Fahrt, führt 1965 in den Bundestag. Wichtigster Förderer und Freund? Helmut Kohl, dem er in den dramatischen Wochen von Erhards Sturz, Kurt Georg Kiesingers Kür und der Bildung der ersten großen Koalition der Bundesrepublik jeden Abend telefonisch berichtet, der ihn wenig später zum Kultusminister in Rheinland-Pfalz berufen, 1976 als Nachfolger im Ministerpräsidentenamt vorschlagen wird. Bernhard Vogel im Rückblick: "Die Partei war Kohls Heimat. Mitunter - so schien es manchmal - war ihm sein Parteiamt noch wichtiger als sein Regierungsamt."
Der Band versammelt eine Fülle solcher Beobachtungen und Skizzen politischer Weggefährten. Brandts Kniefall in Warschau und sein Plädoyer für "compassion" auf dem SPD-Wahlparteitag 1972 haben Hans-Jochen Vogel besonders beeindruckt. Herbert Wehners Verstrickungen in die stalinistische Mordmaschinerie bewertet er milde: Wehner sei, selbst bedroht, "ein Rädchen im riesigen Verfolgungsapparat" gewesen. Über Helmut Schmidt erfahren wir, dass er Kabinettssitzungen vom ersten Tage an "straff und gut vorbereitet" führte, Helmut Kohl im Ministerkreis einst als "Zaunkönig, der keine Zukunft habe" bezeichnete - ein amüsantes Fehlurteil.
Gegner und bittere Niederlagen bleiben weitgehend ausgeblendet. Allerdings ärgert sich Hans-Jochen Vogel noch immer über den Vorwurf, dass die SPD sich 1989 bereits endgültig mit der Zweistaatlichkeit abgefunden und einen unkritisch engen Dialog mit dem SED-Regime gepflegt habe, und - historische Sensation - dass sein Stufenplan zur deutschen Vereinigung vor Kohls berühmten zehn Punkten übersehen wurde: "Dass ich zuvor in einem fünf-Punkte-Programm für meine Fraktion bereits dasselbe gefordert habe, ist weithin unbekannt geblieben." Oskar Lafontaines Verhalten ergrimmt ihn noch immer - dieser habe den SPD-Parteivorsitz weggeworfen "wie einen schmutzigen Anzug", habe einen Mangel an Solidarität, ein "Übermaß an Egozentrik" erkennen lassen.
Auffällig ist die brüderliche Übereinstimmung bei der Bewertung der Apo. Wo Hans-Jochen Vogel sich an "kalten, mitunter hasserfüllten Fanatismus, Unduldsamkeit und absolute Humorlosigkeit" der studentischen Ideologen erinnert, berichtet Bernhard fast schon lakonisch von chaotischen Zuständen an den Universitäten, offenen Rechtsbrüchen, resignierenden Professoren und davon, dass er selbst sich 1967/68 daran gewöhnen musste, "nahezu allabendlich mit Eiern und Tomaten beworfen zu werden".
Ihre größte Herausforderung allerdings bestand die Republik für beide Brüder vor dreißig Jahren, im sogenannten "deutschen Herbst" der Schleyer-Entführung. Der eine, Hans-Jochen, sitzt als Bundesjustizminister im Bonner Krisenstab, der andere als Freund und Vertrauter bei Familie Schleyer in Stuttgart. Die jeweilige Schilderung ist hier dicht, bedrückend: Ein Mensch wird geopfert für die Staatsräson. Beide wissen es, sind letztlich hilf- und machtlos wie alle. Dennoch wird Bernhard Vogel als Ministerpräsident - der älteste Sohn Schleyers ist sein Büroleiter - zehn Jahre später den ersten RAF-Verurteilten begnadigen, nach Rücksprache mit allen Beteiligten, vom Täter bis zu den Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, darunter für die SPD: Bruder Hans-Jochen. Ein weiteres bizarres Detail aus diesem seltsamen politischen Doppelleben. Auch dass Bernhard Vogel 1992 für elf Jahre als Ministerpräsident nach Thüringen gehen, als bislang einziger Politiker in zwei Bundesländern regiert haben wird, bleibt bemerkenswert. So bemerkenswert wie das kleine Buch, in dem in höchsten schwarz-roten Tönen die Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Republik besungen wird.
DANIEL KOERFER
Bernhard Vogel/Hans-Jochen Vogel: Deutschland aus der Vogel-Perspektive. Eine kleine Geschichte der Bundesrepublik. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2007. 256 S., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Robert Leicht mochte diese "kleine Geschichte der Bundesrepublik" aus der "bodennahen Zwei-Vogelperspektive", also der Perspektive von Hans-Jochen und Bernhard Vogel. Denn darin finden sich seinen Informationen zufolge nicht nur sehr persönliche , bewegende Mitschriften aus sechzig Jahren bundesrepublikanischer Geschichte, wie die Schleyer-Entführung, die Hans-Jochen als Mitglied von Helmut Schmidts Krisenstab, Bernhard als Freund und Berater der Schleyer-Familie miterlebte. Zwar leidet aus Sicht des Rezensenten der literarisch-politisch "Sex-Appeal" der Darstellung gelegentlich unter allzu großer Disziplin. Auch die lediglich als "Nanopartikel" auszumachende Selbstkritik mancher Rechtfertigung lässt Fragen beim Rezensenten offen. Trotzdem ist sein Gesamteindruck positiv.
© Perlentaucher Medien GmbH
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