DEUTSCHLAND - EINE ANDERE GESCHICHTE VOM 18. JAHRHUNDERT BIS HEUTE
Juden in Deutschland haben Revolutionen und Kriege, nationale und demokratische Bewegungen, Reichsgründung und Wiedervereinigung oft anders erlebt als ihre nichtjüdischen Zeitgenossen. Die israelische Historikerin Shulamit Volkov erzählt die deutsche Geschichte erstmals konsequent aus jüdischer Sicht. Zu hören sind die Stimmen von bekannten Schriftstellern wie Heinrich Heine und Stefan Zweig, aber auch von unbekannten Beobachtern des deutschen Weges in Nationalstaat, Demokratie und Diktatur, Kriegs- und Nachkriegszeiten. Ein faszinierender Durchgang durch eine «andere» Geschichte, der uns auch die Gegenwart mit anderen Augen sehen lässt.
Shulamit Volkov verwebt meisterhaft verschiedene jüdische Perspektiven auf Revolutionen und Kriege, politische Bewegungen und Ideologien, soziale und wirtschaftliche Verhältnisse zu einem neuen Bild von der deutschen Geschichte. Sie lässt uns die Aufklärung mit den Augen Moses Mendelssohns sehen, den Wiener Kongress aus der Perspektive jüdischer Delegationen und die Revolution von 1848 aus Sicht der Opfer antijüdischer Ausschreitungen. Die Familien Liebermann und Rathenau haben Kaiserzeit, Ersten Weltkrieg und den Beginn der Weimarer Zeit anders erlebt als nichtjüdische Deutsche. Bertha Pappenheim, Käte Frankenthal und Hannah Arendt geben der Zwischenkriegszeit eigene Konturen. Besonderes Augenmerk gilt dem Holocaust, dem Zweiten Weltkrieg und den Jahrzehnten danach, in denen Fritz Bauer oder Ignatz Bubis kritisch auf die Zeit von Wirtschaftswunder und deutscher Einheit blickten. In ihrem konzisen Buch führt Shulamit Volkov die deutsche und die deutsch-jüdische Geschichte so zusammen, dass sie am Ende untrennbar erscheinen.
Die erste deutsche Geschichte aus jüdischer Perspektive Ein Blick auf Deutschland mit den Augen von Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Hannah Arendt, Käte Frankenthal und anderen
Juden in Deutschland haben Revolutionen und Kriege, nationale und demokratische Bewegungen, Reichsgründung und Wiedervereinigung oft anders erlebt als ihre nichtjüdischen Zeitgenossen. Die israelische Historikerin Shulamit Volkov erzählt die deutsche Geschichte erstmals konsequent aus jüdischer Sicht. Zu hören sind die Stimmen von bekannten Schriftstellern wie Heinrich Heine und Stefan Zweig, aber auch von unbekannten Beobachtern des deutschen Weges in Nationalstaat, Demokratie und Diktatur, Kriegs- und Nachkriegszeiten. Ein faszinierender Durchgang durch eine «andere» Geschichte, der uns auch die Gegenwart mit anderen Augen sehen lässt.
Shulamit Volkov verwebt meisterhaft verschiedene jüdische Perspektiven auf Revolutionen und Kriege, politische Bewegungen und Ideologien, soziale und wirtschaftliche Verhältnisse zu einem neuen Bild von der deutschen Geschichte. Sie lässt uns die Aufklärung mit den Augen Moses Mendelssohns sehen, den Wiener Kongress aus der Perspektive jüdischer Delegationen und die Revolution von 1848 aus Sicht der Opfer antijüdischer Ausschreitungen. Die Familien Liebermann und Rathenau haben Kaiserzeit, Ersten Weltkrieg und den Beginn der Weimarer Zeit anders erlebt als nichtjüdische Deutsche. Bertha Pappenheim, Käte Frankenthal und Hannah Arendt geben der Zwischenkriegszeit eigene Konturen. Besonderes Augenmerk gilt dem Holocaust, dem Zweiten Weltkrieg und den Jahrzehnten danach, in denen Fritz Bauer oder Ignatz Bubis kritisch auf die Zeit von Wirtschaftswunder und deutscher Einheit blickten. In ihrem konzisen Buch führt Shulamit Volkov die deutsche und die deutsch-jüdische Geschichte so zusammen, dass sie am Ende untrennbar erscheinen.
Die erste deutsche Geschichte aus jüdischer Perspektive Ein Blick auf Deutschland mit den Augen von Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Hannah Arendt, Käte Frankenthal und anderen
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Für den Rezensenten Cord Aschenbrenner legt die Historikerin Shulamit Volkov mit ihrem Buch eine "wichtige Ergänzung der Geschichtsschreibung über Deutschland" vor. Wie Intellektuelle und Wissenschaftler das Leben in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert prägten und zu einer deutsch-jüdischen Geschichte formten, erzählt Volkov laut Aschenbrenner "aus jüdischer Sicht", ebenso die Erfahrung der zunehmenden Diskriminierung, des Antisemitismus und des Holocaust. Auch Versuche liberaler Zeitgenossen, die rechtliche Stellung von Juden in Deutschland zu verbessern, erwähnt die Autorin, stellt der Rezensent fest. In einem zweiten Teil bietet das Buch laut Rezensent eine jüdische Sicht auf die jüngere deutsche Geschichte, etwa indem die Autorin fragt, wie ein Ignatz Bubis das wiedervereinigte Deutschland sah. Kenntnis und Klarheit der Erzählung findet Aschenbrenner bemerkenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2022Aus der Sicht einer Minderheit
Shulamit Volkov über die ambivalente Erfolgsgeschichte von Juden in Deutschland seit der Aufklärung
"Wer eine Geschichte des Antisemitismus schriebe, würde zugleich ein wichtiges Stück deutscher Kulturgeschichte geben." Dieser Satz des deutsch-jüdischen Schriftstellers Jakob Wassermann summiert die Erfahrung von Juden mit deutscher Geschichte und Kultur in den letzten zweihundertfünfzig Jahren. Der Antisemitismus ist fester Bestandteil der deutschen Kulturgeschichte von Anfang an und bis heute, nicht einmalig und nur in der NS-Zeit. Wie Wassermann in seiner Autobiographie "Mein Weg als Deutscher und Jude" (1921) festhält, konnte - und kann - kein Jude in Deutschland leben, ohne die Erfahrung des Antisemitismus zu machen.
Die israelische Historikerin Shulamit Volkov hat in ihrer Essaysammlung "Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert" (1990) den Antisemitismus als "kulturellen Code" in der deutschen Geschichte analysiert; jahrzehntelang war besonders der deutsche Antisemitismus das Feld ihrer wissenschaftlichen Expertise. In ihrem nun erschienenen Buch öffnet sie die jüdische Perspektive jedoch über die diversen Erfahrungen des Antisemitismus hinaus auf das, was die Geschichte von Jüdinnen und Juden in Deutschland seit der Aufklärung auch war: nämlich eine "Erfolgsgeschichte". Trotz des Antisemitismus und zumindest bis 1933.
Für diese Seite einer zutiefst ambivalenten Erfolgsgeschichte, in der Juden stets nur "unter Vorbehalt" akzeptiert wurden, aber mit der Emanzipation sich ins deutsche Bürgertum integrierten, stehen in Volkovs Buch die von Regina Scheer erzählte Geschichte vom Aufstieg der Familie Liebermann, die im Impressionisten Max Liebermann gipfelt, oder die Familiengeschichte des 1922 ermordeten jüdischen Außenministers Walther Rathenau, dem Volkov auch eine Biographie gewidmet hat. Oder die berühmten deutsch-jüdischen Ärzte, Juristen, Naturwissenschaftler und Nobelpreisträger im zwanzigsten Jahrhundert. Dazu zählen aber auch die Schicksale der sich emanzipierenden jüdischen Frauen, für die bei Volkov die Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim, die Ärztin und Politikerin Käte Frankenthal und die Philosophin Hannah Arendt stehen.
Volkovs Buch hat vier Teile, eine kluge historiographische Einleitung mit Kritik an der Vernachlässigung von deutsch-jüdischer Geschichte bei Thomas Nipperdey, Hans-Ulrich Wehler und anderen Großhistorikern, und einen aktuellen, eher optimistischen Epilog: "Berlin ist nicht Weimar". Sie beschreibt die Ambivalenz der deutschen Aufklärung gegenüber Moses Mendelssohn, der als Philosoph anerkannt, aber politisch nie gleichberechtigter Bürger wurde; sie schildert, wie Preußens und Österreichs Drängen auf staatsbürgerliche Emanzipation der jüdischen Männer im Deutschen Bund während des Wiener Kongresses 1814/15 am Widerstand der norddeutschen Hansestädte, der bayerischen, badischen und württembergischen Delegationen scheiterte.
Mit Johann Jacoby und Gabriel Riesser werden erstmals prominente jüdische Politiker in deutsche Parlamente gewählt, aber die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden wird erst 1871 im neu gegründeten Deutschen Reich erreicht. Dennoch blieben Juden hohe Positionen im Beamtenapparat oder im Militär im Kaiserreich noch versagt, erst die Weimarer Republik emanzipierte sie vollständig. Die nationalsozialistische Diktatur machte die Emanzipation nach 1933 wieder rückgängig, aber nach Weltkrieg und Schoa wurden die wenigen verbliebenen, zurückgekehrten und neu zugewanderten Jüdinnen und Juden in der DDR und der Bundesrepublik nicht wieder staatlich diskriminiert. Nach 1990 wandern in das wiedervereinte Deutschland über 200 000 Juden mit Familienangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion ein; Deutschland wird, wie seit 1880 und kurz nach dem Ersten Weltkrieg, wieder ein Fluchtort vor dem Antisemitismus in Osteuropa.
Hier folgt Volkov in ihrer Epocheneinteilung sehr weitgehend der politischen Geschichte Deutschlands und platziert darin die jeweilige Rechtssituation und Befindlichkeit der jüdischen Minderheit. Die schier unglaubliche soziale, berufliche, akademische und ökonomische, von Bildung getriebene bürgerliche Aufstiegsgeschichte vieler Juden vor allem im neunzehnten Jahrhundert, trotz des vorherrschenden Antisemitismus und der gesetzlichen Diskriminierungen, wird bei Volkov mit diesem politischen Narrativ und seiner Periodisierung nur lose verbunden. Unverständlich bleibt, warum Simone Lässigs unverzichtbare sozialgeschichtliche Monographie "Jüdische Wege ins Bürgertum" (2004) nicht einmal in einer Fußnote erwähnt wird. Auch die jüdische Religions- oder Kulturgeschichte in Deutschland könnte Volkov natürlich ganz anders periodisieren. Arnold Schönberg, Kurt Weill oder Paul Abraham sind da für eine jüdische Perspektive wichtiger als der immer wieder hervorgekramte Antisemit Richard Wagner und seine jüdischen Verehrer.
Dennoch bleibt Volkovs Ansatz, die deutsche Geschichte konsequent aus der Sicht der jüdischen Minderheit zu erzählen, frisch und anregend. Die Provokation dieses Perspektivwechsels hätte noch schärfer ausfallen können, wenn man sich vergegenwärtigt, in welch hohem Maß diese kurze jüdische Geschichte in Deutschland und ihre religiös-kulturellen Neuerungen (wie etwa die Wissenschaft des Judentums, das Reformjudentum, jüdische Sozialisten und Psychoanalytiker) das jüdische Selbstverständnis in der Moderne selbst insgesamt verändert haben. Bei Shulamit Volkov wird deutlich, dass Jüdinnen und Juden die moderne deutsche Geschichte nicht nur - als Opfer von Antisemitismus, Exklusion und Genozid - erlitten haben. Schließlich haben sie nicht einfach, quasi von außen, irgendeinen minoritär-putzigen 'Beitrag' zu dieser ansonsten nichtjüdisch-deutsch bleibenden Mehrheits-Geschichte Deutschlands geleistet, wie es in manchen Sonntagsreden heißt. Sondern sie waren selbst Teil dieser Geschichte, und sie haben, wie in kaum einem anderen Land Europas, die moderne Geschichte und Kultur Deutschlands durch ihre eigene Agenda mitgestaltet und sich dabei selbst verändert. CHRISTOPH SCHULTE
Shulamit Volkov: "Deutschland aus jüdischer Sicht". Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
A. d. Englischen von Ulla Höber. C. H. Beck Verlag, München 2022. 336 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Shulamit Volkov über die ambivalente Erfolgsgeschichte von Juden in Deutschland seit der Aufklärung
"Wer eine Geschichte des Antisemitismus schriebe, würde zugleich ein wichtiges Stück deutscher Kulturgeschichte geben." Dieser Satz des deutsch-jüdischen Schriftstellers Jakob Wassermann summiert die Erfahrung von Juden mit deutscher Geschichte und Kultur in den letzten zweihundertfünfzig Jahren. Der Antisemitismus ist fester Bestandteil der deutschen Kulturgeschichte von Anfang an und bis heute, nicht einmalig und nur in der NS-Zeit. Wie Wassermann in seiner Autobiographie "Mein Weg als Deutscher und Jude" (1921) festhält, konnte - und kann - kein Jude in Deutschland leben, ohne die Erfahrung des Antisemitismus zu machen.
Die israelische Historikerin Shulamit Volkov hat in ihrer Essaysammlung "Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert" (1990) den Antisemitismus als "kulturellen Code" in der deutschen Geschichte analysiert; jahrzehntelang war besonders der deutsche Antisemitismus das Feld ihrer wissenschaftlichen Expertise. In ihrem nun erschienenen Buch öffnet sie die jüdische Perspektive jedoch über die diversen Erfahrungen des Antisemitismus hinaus auf das, was die Geschichte von Jüdinnen und Juden in Deutschland seit der Aufklärung auch war: nämlich eine "Erfolgsgeschichte". Trotz des Antisemitismus und zumindest bis 1933.
Für diese Seite einer zutiefst ambivalenten Erfolgsgeschichte, in der Juden stets nur "unter Vorbehalt" akzeptiert wurden, aber mit der Emanzipation sich ins deutsche Bürgertum integrierten, stehen in Volkovs Buch die von Regina Scheer erzählte Geschichte vom Aufstieg der Familie Liebermann, die im Impressionisten Max Liebermann gipfelt, oder die Familiengeschichte des 1922 ermordeten jüdischen Außenministers Walther Rathenau, dem Volkov auch eine Biographie gewidmet hat. Oder die berühmten deutsch-jüdischen Ärzte, Juristen, Naturwissenschaftler und Nobelpreisträger im zwanzigsten Jahrhundert. Dazu zählen aber auch die Schicksale der sich emanzipierenden jüdischen Frauen, für die bei Volkov die Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim, die Ärztin und Politikerin Käte Frankenthal und die Philosophin Hannah Arendt stehen.
Volkovs Buch hat vier Teile, eine kluge historiographische Einleitung mit Kritik an der Vernachlässigung von deutsch-jüdischer Geschichte bei Thomas Nipperdey, Hans-Ulrich Wehler und anderen Großhistorikern, und einen aktuellen, eher optimistischen Epilog: "Berlin ist nicht Weimar". Sie beschreibt die Ambivalenz der deutschen Aufklärung gegenüber Moses Mendelssohn, der als Philosoph anerkannt, aber politisch nie gleichberechtigter Bürger wurde; sie schildert, wie Preußens und Österreichs Drängen auf staatsbürgerliche Emanzipation der jüdischen Männer im Deutschen Bund während des Wiener Kongresses 1814/15 am Widerstand der norddeutschen Hansestädte, der bayerischen, badischen und württembergischen Delegationen scheiterte.
Mit Johann Jacoby und Gabriel Riesser werden erstmals prominente jüdische Politiker in deutsche Parlamente gewählt, aber die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden wird erst 1871 im neu gegründeten Deutschen Reich erreicht. Dennoch blieben Juden hohe Positionen im Beamtenapparat oder im Militär im Kaiserreich noch versagt, erst die Weimarer Republik emanzipierte sie vollständig. Die nationalsozialistische Diktatur machte die Emanzipation nach 1933 wieder rückgängig, aber nach Weltkrieg und Schoa wurden die wenigen verbliebenen, zurückgekehrten und neu zugewanderten Jüdinnen und Juden in der DDR und der Bundesrepublik nicht wieder staatlich diskriminiert. Nach 1990 wandern in das wiedervereinte Deutschland über 200 000 Juden mit Familienangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion ein; Deutschland wird, wie seit 1880 und kurz nach dem Ersten Weltkrieg, wieder ein Fluchtort vor dem Antisemitismus in Osteuropa.
Hier folgt Volkov in ihrer Epocheneinteilung sehr weitgehend der politischen Geschichte Deutschlands und platziert darin die jeweilige Rechtssituation und Befindlichkeit der jüdischen Minderheit. Die schier unglaubliche soziale, berufliche, akademische und ökonomische, von Bildung getriebene bürgerliche Aufstiegsgeschichte vieler Juden vor allem im neunzehnten Jahrhundert, trotz des vorherrschenden Antisemitismus und der gesetzlichen Diskriminierungen, wird bei Volkov mit diesem politischen Narrativ und seiner Periodisierung nur lose verbunden. Unverständlich bleibt, warum Simone Lässigs unverzichtbare sozialgeschichtliche Monographie "Jüdische Wege ins Bürgertum" (2004) nicht einmal in einer Fußnote erwähnt wird. Auch die jüdische Religions- oder Kulturgeschichte in Deutschland könnte Volkov natürlich ganz anders periodisieren. Arnold Schönberg, Kurt Weill oder Paul Abraham sind da für eine jüdische Perspektive wichtiger als der immer wieder hervorgekramte Antisemit Richard Wagner und seine jüdischen Verehrer.
Dennoch bleibt Volkovs Ansatz, die deutsche Geschichte konsequent aus der Sicht der jüdischen Minderheit zu erzählen, frisch und anregend. Die Provokation dieses Perspektivwechsels hätte noch schärfer ausfallen können, wenn man sich vergegenwärtigt, in welch hohem Maß diese kurze jüdische Geschichte in Deutschland und ihre religiös-kulturellen Neuerungen (wie etwa die Wissenschaft des Judentums, das Reformjudentum, jüdische Sozialisten und Psychoanalytiker) das jüdische Selbstverständnis in der Moderne selbst insgesamt verändert haben. Bei Shulamit Volkov wird deutlich, dass Jüdinnen und Juden die moderne deutsche Geschichte nicht nur - als Opfer von Antisemitismus, Exklusion und Genozid - erlitten haben. Schließlich haben sie nicht einfach, quasi von außen, irgendeinen minoritär-putzigen 'Beitrag' zu dieser ansonsten nichtjüdisch-deutsch bleibenden Mehrheits-Geschichte Deutschlands geleistet, wie es in manchen Sonntagsreden heißt. Sondern sie waren selbst Teil dieser Geschichte, und sie haben, wie in kaum einem anderen Land Europas, die moderne Geschichte und Kultur Deutschlands durch ihre eigene Agenda mitgestaltet und sich dabei selbst verändert. CHRISTOPH SCHULTE
Shulamit Volkov: "Deutschland aus jüdischer Sicht". Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
A. d. Englischen von Ulla Höber. C. H. Beck Verlag, München 2022. 336 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.05.2022Rechte und
Bringschulden
Enormer Faktenreichtum, kluge Beispiele,
elegante Knappheit: Shulamit Volkov hat
endlich eine moderne deutsche Geschichte
aus jüdischer Sicht geschrieben
VON GUSTAV SEIBT
Der Holocaust hat die Geschichte der Juden unwiderruflich zu einem Teil der deutschen Geschichte gemacht. Die radikale Anstrengung, die Juden aus Deutschland, seiner Kultur und Geschichte zu eliminieren, führte zu einer Verflechtung, der in historischen Zusammenhängen ewige Dauer zukommen wird: Wann immer von deutscher Geschichte die Rede ist, wird auch ihre Verquickung mit der Geschichte der Juden zur Sprache kommen müssen. Der Holocaust hat einen Gesichtspunkt geschaffen, der sich nicht mehr umgehen lässt.
Trotz dieser oft benannten Konstellation wird die Geschichte der deutschen Juden immer noch überwiegend als Spezialgeschichte einer Gruppe behandelt, die am Rand der großen historischen Prozesse steht. Erst unmittelbar vor der Katastrophe fließen die beiden Stränge, der jüdische und der deutsche, zusammen, um sich danach wieder zu trennen. Doch selbst in ersten Geschichten der nationalsozialistischen Diktatur spielte das Thema eine erstaunlich untergeordnete Rolle.
Nun gibt es diese Sondergeschichte natürlich, als innere Geschichte der jüdischen Gemeinschaften, als Geschichte ihrer sich wandelnden Rechtsstellungen in den Epochen der deutschen Geschichte, ihres Beitrags zur deutschen Kulturgeschichte, nicht zuletzt als Geschichte des Antisemitismus. Dass man es anders machen kann, zeigt aber beispielsweise die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum von Berlin, die sich der Verflochtenheit des Judentums in das annimmt, was man „allgemeine deutsche Geschichte“ nennen kann, – anschaulich und oft überraschend.
Die israelische Historikerin Shulamit Volkov, seit Jahrzehnten als Expertin deutsch-jüdischer Geschichte ausgewiesen, hat nun eine moderne deutsche Geschichte aus der Sicht der Juden vorgelegt. Ihr Ausgangspunkt ist die zwangsläufige Verflochtenheit, doch Volkov behandelt das Thema trotzdem nicht unter dem Signum der Unvermeidlichkeit des Holocausts. „Die von uns dargestellte Geschichte führt keineswegs gradlinig oder unabwendbar zum Nationalsozialismus und zum Holocaust“, hält sie fest.
Ihre Themenstellung ist doppelseitig: Einerseits behandelt sie den wechselvollen Weg der Juden zur Integration in die sich verbürgerlichende deutsche Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert, samt den Rückschlägen und der Zurücknahme im Nationalsozialismus bis zum Neuanfang danach. Zugleich fragt sie, was diese Prozesse über die moderne deutsche Geschichte verraten – wie sehen Aufklärung, Reformzeit um 1800, die Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert, Kaiserreich, Industrialisierung, Weimarer Republik, das wiedervereinigte Deutschland seit 1990 aus jüdischer Sicht aus? Was zeigt diese Sicht von dem größeren Zusammenhang der deutschen Nationalgeschichte?
Das ist ein anspruchsvolles Vorhaben, das Volkov mit enormem Faktenreichtum, klugen Beispielen und eleganter Knappheit auf nur 300 Seiten bewältigt. Man merkt dem Buch jahrelanges Forschen und Nachdenken an, dabei liest es sich unangestrengt, es ist zugänglich auch für Leser, die sich auf diesem Gebiet erst kundig machen wollen.
Der Einsatz des Buches im 18. Jahrhundert ist plausibel, denn mit der Aufklärung, ihren Gleichheitsidealen und einem nicht mehr obrigkeitlichen, sondern kulturell und ethnisch unterfütterten Volksbegriff, nicht zuletzt durch einen neuen Individualismus, stellte sich die Frage der Stellung der Juden in der modernen bürgerlichen Gesellschaft ganz neu. Die Juden hatten nicht nur ein eigenes Bekenntnis, sie begriffen sich in ihrer Religion als Volk, das Volk Gottes; der moderne Begriff der politischen Nation hat sogar hier eine seiner Grundlagen.
Das führte bei der Ausbildung moderner Bürgernationen zu unvermeidlichen Kollisionen, weil in der politischen Nation Rechte nicht mehr wie zuvor in der ständischen Gesellschaft unterschiedlichen Gruppen, sondern allen, aber als Einzelnen zugemessen wurden. Instanzen zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen fielen der Idee nach weg. Die Formel der Französischen Revolution lautete, man müsse den Juden als Individuen alles geben, ihnen als Nation aber alles versagen. Dramatisiert wurde diese Konstellation durch Volksbegriffe, die nicht staatsbürgerlich, sondern kulturell oder völkisch konzipiert wurden, wie im politisch zersplitterten Deutschland der Sattelzeit um 1800, etwa bei Herder und Fichte.
Aus einer abweichenden Religion, die in vormodernen Zeiten ihren eingeschränkten, aber rechtlich definierten Platz gehabt hatte, konnte so ein nationaler Fremdkörper werden. Der neuzeitliche Antisemitismus beerbt zwar uralten Religionshass, zugleich ist er aufs engste mit den politischen Begriffen der Moderne verquickt, noch vor dem Aufkommen biologistischer Rassenideen.
Volkov zeigt, wie zweischneidig das Bestreben der Aufklärung zu „Verbesserung“ der Lage der Juden war: aus bürgerlicher Emanzipation sollte auch das Ablegen als unangenehm empfundener, historisch überholter Eigenschaften folgen, „verbessert“ sollte nicht nur die Lage der Juden werden, sie selbst sollten sich dadurch bessern. Moses Mendelssohn formulierte den Konflikt in der Auseinandersetzung mit Christian Wilhelm Dohm und einer Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von 1781. Mendelssohn bestand darauf, so resümiert Volkov, „dass ihre Gleichstellung als Bürger nur auf den Prinzipien des Rechts basieren müsse, sie sei keine Gratifikation für ,gutes Benehmen‘“.
Die Wahrnehmung dieser Ambiguität aller modernen Angebote an die Juden – sie sollten Gleichberechtigung mit dem Verzicht auf Besonderheit erkaufen – ist Kern und Leitmotiv von Volkovs Darstellung. Rechte wurden hier immer wieder an mehr oder weniger explizite Bringschulden gekoppelt. Argwöhnisch beobachtete man soziale Tatsachen (oder auch nur Einbildungen) wie das Vorwiegen von Juden in bestimmten Berufsgruppen, etwa bei Anwälten, Ärzten oder Journalisten. Dass die meisten Juden kleine Selbständige im Handel waren und nicht Finanzleute oder Industrielle, geriet aus dem Blick, aber man erfährt es in Volkovs präziser sozialgeschichtlicher Darstellung. Was die Mehrheitsgesellschaft argwöhnisch als intellektuelle jüdische Ambition beäugte, verdankte sich einer schriftbezogenen religiösen Kultur, die vor allem das Lernen lehrte.
Auch der Liberalismus sieht hier weniger liberal aus als gewohnt. Die Revolution von 1848 begann auch mit einer Welle antisemitischer Angriffe, die nur selten erwähnt werden. Schon die Hep-hep-Krawalle um 1816 zeigten einen Konservativismus von unten, der sich gegen die neue Sichtbarkeit von Juden richtete. Ein revolutionsfeindlicher Staatsmann wie Metternich war den Juden freundlicher gesinnt als die frühdemokratischen Studenten, die seit 1817 Freiheitsfeste feierten.
Die 1870 formal abgeschlossene rechtliche Gleichstellung verhinderte nicht akademische oder militärische Zurücksetzung. Im Ersten Weltkrieg wurde sogar der Kampfwille jüdischer Soldaten angezweifelt. Dabei wurden die deutschen Juden immer patriotischer, machten sich begeistert die klassische deutsche Literatur zu eigen, trotz Richard Wagners Antisemitismus gehörten sie zu dessen treuestem Publikum. In den Zwanzigerjahren wurden sie schließlich die maßgeblichen Protagonisten der ästhetischen Moderne.
Mit Umsicht konturiert Volkov diese Widersprüche, mit Nüchternheit bilanziert sie den Holocaust und sein Nachleben in Prozessen, Gedenkkultur und Historikerdebatten bis in unsere Tage. Gut gewählte Zitate beleuchten ganze Mentalitätslandschaften, so Sätze des Bundesjustizminister Ewald Bucher (FDP) in einer Verjährungsdebatte der Sechzigerjahre: „Wir können uns nicht von Israel unter Druck setzen lassen in einer Frage, die für uns eine Rechtsfrage ist. Wir müssen es auf uns nehmen, notfalls mit einigen Mördern zusammenzuleben.“
Gibt es Lücken? Ja, eine wichtige: Volkov verzichtet darauf, das Bild der Juden in der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts zu umreißen – dabei haben die Bestseller von Wilhelm Raabe („Der Hungerpastor“) und Gustav Freytag („Soll und Haben“) eine kaum zu unterschätzende, generationenlange Wirkung auf die antisemitische Selbstkonstituierung des deutschen Bürgertums ausgeübt. Zugleich haben beide Autoren sich in späteren Werken korrigiert – ein eigenes literarisches Drama.
Volkovs Buch vertreibt alle Feierlichkeit aus der nationalen Selbstbetrachtung ohne ins Gegenteil umzuschlagen, eine unterschiedslose apokalyptische Anklage. Der trockene Wind, der hier weht, ist die wahre Luft der Aufklärung.
Der neuzeitliche Antisemitismus
ist aufs engste mit den politischen
Begriffen der Moderne verquickt
Die rechtliche Gleichstellung
verhinderte nicht akademische
oder militärische Zurücksetzung
Shulamit Volkov: Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Aus dem Englischen von Ulla Höber. Verlag C.H. Beck, München 2022. 336 Seiten, 28,00 Euro.
Die meisten deutschen Juden waren kleine Selbständige im Handel, nicht etwa Finanzleute oder Industrielle: Kunden 1914 vor der „Krakauer Fleischhalle“ im Berliner Scheunenviertel nahe des Alexanderplatzes.
Foto: Scherl/SZ Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Bringschulden
Enormer Faktenreichtum, kluge Beispiele,
elegante Knappheit: Shulamit Volkov hat
endlich eine moderne deutsche Geschichte
aus jüdischer Sicht geschrieben
VON GUSTAV SEIBT
Der Holocaust hat die Geschichte der Juden unwiderruflich zu einem Teil der deutschen Geschichte gemacht. Die radikale Anstrengung, die Juden aus Deutschland, seiner Kultur und Geschichte zu eliminieren, führte zu einer Verflechtung, der in historischen Zusammenhängen ewige Dauer zukommen wird: Wann immer von deutscher Geschichte die Rede ist, wird auch ihre Verquickung mit der Geschichte der Juden zur Sprache kommen müssen. Der Holocaust hat einen Gesichtspunkt geschaffen, der sich nicht mehr umgehen lässt.
Trotz dieser oft benannten Konstellation wird die Geschichte der deutschen Juden immer noch überwiegend als Spezialgeschichte einer Gruppe behandelt, die am Rand der großen historischen Prozesse steht. Erst unmittelbar vor der Katastrophe fließen die beiden Stränge, der jüdische und der deutsche, zusammen, um sich danach wieder zu trennen. Doch selbst in ersten Geschichten der nationalsozialistischen Diktatur spielte das Thema eine erstaunlich untergeordnete Rolle.
Nun gibt es diese Sondergeschichte natürlich, als innere Geschichte der jüdischen Gemeinschaften, als Geschichte ihrer sich wandelnden Rechtsstellungen in den Epochen der deutschen Geschichte, ihres Beitrags zur deutschen Kulturgeschichte, nicht zuletzt als Geschichte des Antisemitismus. Dass man es anders machen kann, zeigt aber beispielsweise die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum von Berlin, die sich der Verflochtenheit des Judentums in das annimmt, was man „allgemeine deutsche Geschichte“ nennen kann, – anschaulich und oft überraschend.
Die israelische Historikerin Shulamit Volkov, seit Jahrzehnten als Expertin deutsch-jüdischer Geschichte ausgewiesen, hat nun eine moderne deutsche Geschichte aus der Sicht der Juden vorgelegt. Ihr Ausgangspunkt ist die zwangsläufige Verflochtenheit, doch Volkov behandelt das Thema trotzdem nicht unter dem Signum der Unvermeidlichkeit des Holocausts. „Die von uns dargestellte Geschichte führt keineswegs gradlinig oder unabwendbar zum Nationalsozialismus und zum Holocaust“, hält sie fest.
Ihre Themenstellung ist doppelseitig: Einerseits behandelt sie den wechselvollen Weg der Juden zur Integration in die sich verbürgerlichende deutsche Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert, samt den Rückschlägen und der Zurücknahme im Nationalsozialismus bis zum Neuanfang danach. Zugleich fragt sie, was diese Prozesse über die moderne deutsche Geschichte verraten – wie sehen Aufklärung, Reformzeit um 1800, die Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert, Kaiserreich, Industrialisierung, Weimarer Republik, das wiedervereinigte Deutschland seit 1990 aus jüdischer Sicht aus? Was zeigt diese Sicht von dem größeren Zusammenhang der deutschen Nationalgeschichte?
Das ist ein anspruchsvolles Vorhaben, das Volkov mit enormem Faktenreichtum, klugen Beispielen und eleganter Knappheit auf nur 300 Seiten bewältigt. Man merkt dem Buch jahrelanges Forschen und Nachdenken an, dabei liest es sich unangestrengt, es ist zugänglich auch für Leser, die sich auf diesem Gebiet erst kundig machen wollen.
Der Einsatz des Buches im 18. Jahrhundert ist plausibel, denn mit der Aufklärung, ihren Gleichheitsidealen und einem nicht mehr obrigkeitlichen, sondern kulturell und ethnisch unterfütterten Volksbegriff, nicht zuletzt durch einen neuen Individualismus, stellte sich die Frage der Stellung der Juden in der modernen bürgerlichen Gesellschaft ganz neu. Die Juden hatten nicht nur ein eigenes Bekenntnis, sie begriffen sich in ihrer Religion als Volk, das Volk Gottes; der moderne Begriff der politischen Nation hat sogar hier eine seiner Grundlagen.
Das führte bei der Ausbildung moderner Bürgernationen zu unvermeidlichen Kollisionen, weil in der politischen Nation Rechte nicht mehr wie zuvor in der ständischen Gesellschaft unterschiedlichen Gruppen, sondern allen, aber als Einzelnen zugemessen wurden. Instanzen zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen fielen der Idee nach weg. Die Formel der Französischen Revolution lautete, man müsse den Juden als Individuen alles geben, ihnen als Nation aber alles versagen. Dramatisiert wurde diese Konstellation durch Volksbegriffe, die nicht staatsbürgerlich, sondern kulturell oder völkisch konzipiert wurden, wie im politisch zersplitterten Deutschland der Sattelzeit um 1800, etwa bei Herder und Fichte.
Aus einer abweichenden Religion, die in vormodernen Zeiten ihren eingeschränkten, aber rechtlich definierten Platz gehabt hatte, konnte so ein nationaler Fremdkörper werden. Der neuzeitliche Antisemitismus beerbt zwar uralten Religionshass, zugleich ist er aufs engste mit den politischen Begriffen der Moderne verquickt, noch vor dem Aufkommen biologistischer Rassenideen.
Volkov zeigt, wie zweischneidig das Bestreben der Aufklärung zu „Verbesserung“ der Lage der Juden war: aus bürgerlicher Emanzipation sollte auch das Ablegen als unangenehm empfundener, historisch überholter Eigenschaften folgen, „verbessert“ sollte nicht nur die Lage der Juden werden, sie selbst sollten sich dadurch bessern. Moses Mendelssohn formulierte den Konflikt in der Auseinandersetzung mit Christian Wilhelm Dohm und einer Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von 1781. Mendelssohn bestand darauf, so resümiert Volkov, „dass ihre Gleichstellung als Bürger nur auf den Prinzipien des Rechts basieren müsse, sie sei keine Gratifikation für ,gutes Benehmen‘“.
Die Wahrnehmung dieser Ambiguität aller modernen Angebote an die Juden – sie sollten Gleichberechtigung mit dem Verzicht auf Besonderheit erkaufen – ist Kern und Leitmotiv von Volkovs Darstellung. Rechte wurden hier immer wieder an mehr oder weniger explizite Bringschulden gekoppelt. Argwöhnisch beobachtete man soziale Tatsachen (oder auch nur Einbildungen) wie das Vorwiegen von Juden in bestimmten Berufsgruppen, etwa bei Anwälten, Ärzten oder Journalisten. Dass die meisten Juden kleine Selbständige im Handel waren und nicht Finanzleute oder Industrielle, geriet aus dem Blick, aber man erfährt es in Volkovs präziser sozialgeschichtlicher Darstellung. Was die Mehrheitsgesellschaft argwöhnisch als intellektuelle jüdische Ambition beäugte, verdankte sich einer schriftbezogenen religiösen Kultur, die vor allem das Lernen lehrte.
Auch der Liberalismus sieht hier weniger liberal aus als gewohnt. Die Revolution von 1848 begann auch mit einer Welle antisemitischer Angriffe, die nur selten erwähnt werden. Schon die Hep-hep-Krawalle um 1816 zeigten einen Konservativismus von unten, der sich gegen die neue Sichtbarkeit von Juden richtete. Ein revolutionsfeindlicher Staatsmann wie Metternich war den Juden freundlicher gesinnt als die frühdemokratischen Studenten, die seit 1817 Freiheitsfeste feierten.
Die 1870 formal abgeschlossene rechtliche Gleichstellung verhinderte nicht akademische oder militärische Zurücksetzung. Im Ersten Weltkrieg wurde sogar der Kampfwille jüdischer Soldaten angezweifelt. Dabei wurden die deutschen Juden immer patriotischer, machten sich begeistert die klassische deutsche Literatur zu eigen, trotz Richard Wagners Antisemitismus gehörten sie zu dessen treuestem Publikum. In den Zwanzigerjahren wurden sie schließlich die maßgeblichen Protagonisten der ästhetischen Moderne.
Mit Umsicht konturiert Volkov diese Widersprüche, mit Nüchternheit bilanziert sie den Holocaust und sein Nachleben in Prozessen, Gedenkkultur und Historikerdebatten bis in unsere Tage. Gut gewählte Zitate beleuchten ganze Mentalitätslandschaften, so Sätze des Bundesjustizminister Ewald Bucher (FDP) in einer Verjährungsdebatte der Sechzigerjahre: „Wir können uns nicht von Israel unter Druck setzen lassen in einer Frage, die für uns eine Rechtsfrage ist. Wir müssen es auf uns nehmen, notfalls mit einigen Mördern zusammenzuleben.“
Gibt es Lücken? Ja, eine wichtige: Volkov verzichtet darauf, das Bild der Juden in der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts zu umreißen – dabei haben die Bestseller von Wilhelm Raabe („Der Hungerpastor“) und Gustav Freytag („Soll und Haben“) eine kaum zu unterschätzende, generationenlange Wirkung auf die antisemitische Selbstkonstituierung des deutschen Bürgertums ausgeübt. Zugleich haben beide Autoren sich in späteren Werken korrigiert – ein eigenes literarisches Drama.
Volkovs Buch vertreibt alle Feierlichkeit aus der nationalen Selbstbetrachtung ohne ins Gegenteil umzuschlagen, eine unterschiedslose apokalyptische Anklage. Der trockene Wind, der hier weht, ist die wahre Luft der Aufklärung.
Der neuzeitliche Antisemitismus
ist aufs engste mit den politischen
Begriffen der Moderne verquickt
Die rechtliche Gleichstellung
verhinderte nicht akademische
oder militärische Zurücksetzung
Shulamit Volkov: Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Aus dem Englischen von Ulla Höber. Verlag C.H. Beck, München 2022. 336 Seiten, 28,00 Euro.
Die meisten deutschen Juden waren kleine Selbständige im Handel, nicht etwa Finanzleute oder Industrielle: Kunden 1914 vor der „Krakauer Fleischhalle“ im Berliner Scheunenviertel nahe des Alexanderplatzes.
Foto: Scherl/SZ Photo
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"Ein anspruchsvolles Vorhaben, das Volkov mit enormem Faktenreichtum, klugen Beispielen und eleganter Knappheit auf nur 300 Seiten bewältigt. Man merkt dem Buch jahrelanges Forschen und Nachdenken an, dabei liest es sich unangestrengt, es ist zugänglich auch für Leser, die sich auf diesem Gebiet erst kundig machen wollen."
Süddeutsche Zeitung, Gustav Seibt
"Ein neues und ganz anderes Bild von der deutschen Geschichte"
Bayern 2, Barbara Weiß
"Volkov erzählt (...) mit großer Klarheit und bemerkenswerter Kenntnis."
NZZ, Cord Aschenbrenner
"Bestens lesbar, ungemein informativ ... Volkov gelingt es nicht nur, die Dialektik der Emanzipation zu entfalten, sondern auch, die Beiträge von Jüdinnen und Juden zur modernen deutschen Kultur prägnant nachzuzeichnen."
taz, Micha Brumlik
"Eine bedeutende Interpretin dieser doppelten Geschichte ist die 1942 in Tel Aviv geborene israelische Historikerin Shulamit Volkov"
Tagesspiegel, Jakob Hessing
"Volkov schafft es, sowohl einen Überblick zu liefern als auch einzelne Biografien und Geschichten zu verfolgen." Jüdische Allgemeine, Katrin Diehl
"Ohne Zweifel ein wertvoller Beitrag zu einem besseren Verständnis der komplexen deutschen Geschichte."
Deutschlandfunk Andruck, Victoria Eglau
"Eine gute Einführung"
Die literarische Welt, Hannes Stein
"Sehr lesenswertes Buch...analytisch scharfsichtig."
Bayern 2 Diwan, Jochen Rack
"Eine erkenntnisreiche Perspektive auf die deutsche Geschichte seit der Aufklärung"
sehepunkte, Sebastian Voigt
Süddeutsche Zeitung, Gustav Seibt
"Ein neues und ganz anderes Bild von der deutschen Geschichte"
Bayern 2, Barbara Weiß
"Volkov erzählt (...) mit großer Klarheit und bemerkenswerter Kenntnis."
NZZ, Cord Aschenbrenner
"Bestens lesbar, ungemein informativ ... Volkov gelingt es nicht nur, die Dialektik der Emanzipation zu entfalten, sondern auch, die Beiträge von Jüdinnen und Juden zur modernen deutschen Kultur prägnant nachzuzeichnen."
taz, Micha Brumlik
"Eine bedeutende Interpretin dieser doppelten Geschichte ist die 1942 in Tel Aviv geborene israelische Historikerin Shulamit Volkov"
Tagesspiegel, Jakob Hessing
"Volkov schafft es, sowohl einen Überblick zu liefern als auch einzelne Biografien und Geschichten zu verfolgen." Jüdische Allgemeine, Katrin Diehl
"Ohne Zweifel ein wertvoller Beitrag zu einem besseren Verständnis der komplexen deutschen Geschichte."
Deutschlandfunk Andruck, Victoria Eglau
"Eine gute Einführung"
Die literarische Welt, Hannes Stein
"Sehr lesenswertes Buch...analytisch scharfsichtig."
Bayern 2 Diwan, Jochen Rack
"Eine erkenntnisreiche Perspektive auf die deutsche Geschichte seit der Aufklärung"
sehepunkte, Sebastian Voigt