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Produktdetails
  • Verlag: Dietz, Bonn
  • Seitenzahl: 623
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 1092g
  • ISBN-13: 9783801250270
  • Artikelnr.: 25020633
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.1999

Schwierigkeiten beim Schreiben
Niethammers Nationalgeschichten

Lutz Niethammer: Deutschland danach. Postfaschistische Gesellschaft und nationales Gedächtnis. Herausgegeben von Ulrich Herbert und Dirk van Laak, Verlag J. H. W. Dietz, Bonn 1999. 623 Seiten, 58,- Mark.

Kann man ohne Geschichte leben? Wie der Umgang vieler Völker Europas mit ihrer jüngeren Vergangenheit, das heißt mit ihrer Geschichte vor den weltpolitischen Umbrüchen der achtziger Jahre, zeigt, scheint man sie jedenfalls ändern, ins glatte Gegenteil verkehren oder kapitelweise auch ganz vergessen zu können. Dieses bemerkenswerte Phänomen eines kollektiven Gedächtnisschwundes hat Tradition.

Ihr geht seit Jahrzehnten Lutz Niethammer nach, den dabei in erster Linie die "postfaschistische" Gesellschaft in Deutschland beziehungsweise in den beiden deutschen Teilstaaten interessiert. Aus immer neuen Perspektiven und in einer Fülle von Beiträgen hat sich der jetzt in Jena lehrende Historiker seinem Gegenstand genähert, sich dabei allerdings stets auf den deutschen Fall konzentriert und kaum den Vergleich zu anderen vormals totalitär verfassten Gesellschaften gesucht. Niethammers besonderes Augenmerk galt der Alltagsgeschichte; seine wichtigste Methode war die "oral history", die er, mit einigem Erfolg, in Deutschland salonfähig zu machen suchte.

Insbesondere seine "lebensgeschichtlichen" Untersuchungen im Ruhrgebiet und, noch vor dem Fall der Mauer, in der absterbenden DDR, aber auch seine Arbeiten zur Entnazifizierungspraxis, namentlich in Bayern, sind in Teilen der Fachwelt auf interessierte Neugier gestoßen. Da die meisten seiner Beiträge, von anfänglichen Ausnahmen abgesehen, an eher abgelegenem Ort publiziert worden sind, wurden jetzt knapp 30 unter einem bezeichnenden, aber insofern irreführenden Untertitel wiederveröffentlicht, als Niethammer die Nation oder ihr "nationales Gedächtnis" erst in den Beiträgen aus den neunziger Jahren zum Thema macht.

Die Ergebnisse der jahrzehntelangen Forschungen sind nicht unbedingt so überraschend, wie das Anspruch und Methode erwarten lassen. Dass die "Alltags- und Erfahrungsgeschichte zur Erkenntnis von Verdrängung und zur Erinnerung beigetragen" hat, werden auch andere historische Teildisziplinen mit Recht von sich behaupten können; dass sich die Deutschen "überwiegend selbst als ein Volk von Überlebenden oder etwas cooler: des Durchkommens" empfunden haben, dürfte man wohl schon seit geraumer Zeit als Gemeingut der Zeitgeschichtsforschung ansehen; und in welchem Maße die "kulturelle Explosion '68" das "kollektive Gedächtnis" der Bonner Republik erst zur "Wahrnehmungsfähigkeit geöffnet hat", ist immerhin umstritten.

Wie man den Zustand der "kollektiven Gedächtnisse" in den beiden deutschen Staaten bis zum Ende der alten Ordnung zu erklären und zu beurteilen hat, ist eine ebenso relevante wie noch keinesfalls verbindlich entschiedene Frage. Für Niethammer steht fest, dass der Prozess der Vereinigung, Kohls "brillante politische Performance", für das jetzt eben nicht mehr gespaltene "deutsche Gedächtnis" beträchtliche Folgen haben muss. Ob sich dieses, wie Niethammer vermutet, schon deshalb durch seine "relative Offenheit" auszeichnet, weil sich der Prozess der staatlichen Vereinigung Deutschlands im postnationalen Zeitalter und im festen Rahmen eines integrierten Europa vollzieht, ist eine Frage, die es verdiente, debattiert zu werden. Bislang hat Niethammer allerdings kaum Einfluss auf die öffentliche Diskussion nehmen können. Das hat nicht nur damit zu tun, dass seine Arbeiten selten die Form einer monographischen Verdichtung gefunden haben, sondern auch damit, dass ihre Sprache selbst für den Fachmann schwer verdaulich ist.

In einem Beitrag über die "Schwierigkeiten beim Schreiben einer deutschen Nationalgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg", dem einzigen bislang nicht publizierten Stück des Bandes, in dem es Niethammer um die durchaus bedenkenswerte Frage geht, wie man das Problem einer Nationalgeschichte im postnationalen Zeitalter methodisch in den Griff bekommen kann, liest sich das so: "Historisierung heißt zunächst einmal die Befreiung von der Externalisierung der Diktaturerfahrungen in Deutschland in reduktionistischen pädagogischen Kontrast-Modellen zugunsten einer beschreibenden Vergegenwärtigung, der die Grenzen von 1945 und der innerdeutschen Grenze nicht als Demarkationslinie des Denkens dienen, sondern die die Internationalisierung und die systematische Spaltung der deutschen Nachkriegsgeschichte als spezifisch deutsche Folge des Dritten Reiches zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtung macht." Durch Einbeziehung unterschiedlicher "historischer Arbeitsbereiche" sei dabei ein "heilsamer Verfremdungseffekt" zu erwarten. Wie aber, fragt Niethammer, soll der Historiker, "die Distanz zu solcher explizierenden Verfremdung gewinnen? Man könnte sagen, wir sollten uns einfach doof stellen. Aber ich fürchte, selbst meine Doofheit wird nicht ausreichen, die wahrhaft produktiven dummen Fragen an unsere unbewussten Selbstverständlichkeiten zu stellen".

GREGOR SCHÖLLGEN

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