In Thüringen greift die AfD nach der Macht und bringt die ganze Republik in Bedrängnis
Martin Debes erzählt die Geschichte eines Landes, das Experimentierfeld extremer politischer Strömungen war und wieder geworden ist: Genau ein Jahrhundert, nachdem in Weimar erstmals Bürgerliche mithilfe völkischer Extremisten regierten, steht die Demokratie in Thüringen vor einer neuen Herausforderung. 2024 könnte die AfD Wahlsieger und damit regierungsentscheidend werden. Das ist nicht nur ein Härtetest für die Region, sondern einer für die ganze Bundesrepublik. Thüringen steht damit beispielhaft für die Bedrohung der Demokratie in Deutschland.
»Über Martin Debes ärgern sich Björn Höcke und Bodo Ramelow gleichermaßen - zu Recht. Ein Thüringer Journalist, der in ganz Deutschland gelesen wird.« Robin Alexander, Die Welt
»Schnell, lakonisch und mit Schärfe analysiert Martin Debes den Irrsinn, der sich in seiner Heimat Thüringen abspielt.« Medium Magazin
Die Pflichtlektüre im Vorfeld der Landtagswahlen in Ostdeutschland
Martin Debes erzählt die Geschichte eines Landes, das Experimentierfeld extremer politischer Strömungen war und wieder geworden ist: Genau ein Jahrhundert, nachdem in Weimar erstmals Bürgerliche mithilfe völkischer Extremisten regierten, steht die Demokratie in Thüringen vor einer neuen Herausforderung. 2024 könnte die AfD Wahlsieger und damit regierungsentscheidend werden. Das ist nicht nur ein Härtetest für die Region, sondern einer für die ganze Bundesrepublik. Thüringen steht damit beispielhaft für die Bedrohung der Demokratie in Deutschland.
»Über Martin Debes ärgern sich Björn Höcke und Bodo Ramelow gleichermaßen - zu Recht. Ein Thüringer Journalist, der in ganz Deutschland gelesen wird.« Robin Alexander, Die Welt
»Schnell, lakonisch und mit Schärfe analysiert Martin Debes den Irrsinn, der sich in seiner Heimat Thüringen abspielt.« Medium Magazin
Die Pflichtlektüre im Vorfeld der Landtagswahlen in Ostdeutschland
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2024Wie Thüringen zu Höckes perfektem Biotop wurde
Die Ministerpräsidentenwahl 2020 hat gezeigt, was alles schiefgehen kann. Porträt eines widersprüchlichen Bundeslandes vor einer wichtigen Landtagswahl. In Erfurt steht die Demokratie vor einer Bewährungsprobe.
Von Livia Gerster
Mit einer Mischung aus Furcht und düsterer Vorahnung schaut Deutschland auf die drei Bundesländer, in denen im September gewählt wird. Ganz besonders ängstlich blicken viele nach Thüringen. Denn dort ist es die AfD Björn Höckes, die zum Siegeszug antreten will, dort haben die demokratischen Parteien in den vergangenen Jahren viel Vertrauen verspielt, und dort haben die Vorgänge rund um die Ministerpräsidentenwahl von Thomas Kemmerich schon vor vier Jahren gezeigt, was alles schiefgehen kann.
In diese Schauderstimmung hinein kommt das Thüringen-Buch des politischen Journalisten Martin Debes gerade recht: Es bringt Ordnung in eine erhitzte Debatte, kontert Spekulationen mit Fakten und Ferndiagnosen mit der Kenntnis des politischen Beobachters vor Ort. Debes schreibt dieses Buch als Journalist und als "gebürtiger Thüringer, dessen Vorfahren schon in diesem Land lebten", und zeichnet eindrucksvoll das Porträt eines widersprüchlichen Bundeslandes: Hier schrieben Goethe und Schiller ihre größten Werke, und hier bauten die Nazis ihr erstes Konzentrationslager. Hier entstand die erste deutsche Demokratie, und hier ging sie als Erstes wieder zugrunde. Und hier regiert der einzige linke Ministerpräsident, stellt die AfD den ersten Landrat, beweisen Rechtsextremisten immer wieder ihre Macht.
Auch wenn Debes das Ergebnis der Landtagswahl nicht vorhersehen kann, so kann er doch ziemlich präzise darlegen, wieso Höcke ausgerechnet hier sein perfektes Biotop fand. Höcke selbst hält die Voraussetzungen für eine blaue Revolution in Thüringen für "besonders gut", und auch wenn dem Autor Schwarzmalerei fernliegt, muss er ihm doch in einem Punkt recht geben: Gemeinsam mit den anderen Parteien hat die AfD seiner Analyse nach am 5. Februar 2020 die parlamentarische Demokratie nachhaltig beschädigt. Höcke, indem er den versammelten Landtag austrickste, Kemmerich, indem er sich zum Ministerpräsidenten von Höckes Gnaden machen ließ, Bundeskanzlerin Angela Merkel, indem sie die demokratische Wahl "rückgängig" machen ließ, und das Thüringer Parlament, indem es die versprochene Neuwahl absagte. Die Rekonstruktion der Ereignisse, die Debes wie einen Politkrimi erzählt, werden zum Schlüsselkapitel.
Aber es ist kein Buch über Höcke und die AfD. Was es so lesenswert macht, ist die Erzählung der Vorgeschichte von der thüringischen Kleinstaaterei über die deutsche Romantik, von Weimar über das Dritte Reich bis zur DDR. Ab den Wirren der Wendezeit beginnt Debes die Ereignisse chronologisch zu ordnen: das Auf und Ab im wiedervereinigten Deutschland, Abwanderung und Massenarbeitslosigkeit, der demokratische Aufbruch und der grassierende Rechtsextremismus. Vor diesem Hintergrund treten die maßgeblichen politischen Figuren der Nachwendezeit auf: Bernhard Vogel, der gescheiterte Ministerpräsident aus dem Westen, Dieter Althaus, der Mann, dessen Skiunfall das Land ins Chaos stürzt, die Pastorin Christine Lieberknecht, der Gewerkschafter Bodo Ramelow, die ewigen Konkurrenten Mike Mohring und Mario Voigt. Immer wieder führt Debes elegant Figuren ein, die später noch Bedeutung erfahren: den Glücksritter aus dem Westen, Thomas Kemmerich, etwa, der in den 1990er-Jahren hier mit Niedriglöhnen einen Friseurkette aufbaute.
Mit Wertungen hält sich der Autor stets zurück, lässt den Leser sich sein eigenes Urteil bilden. Und bilanziert doch bitter, wie die versprochene Einheit auf Augenhöhe ausfällt: Statt einem neuen Grundgesetz gibt es nur einen formalen Beitritt, die Ostdeutschen müssen ein neues System erlernen, das sie nicht mitgestalten dürfen und in dem Abschluss, Beruf und gesellschaftliche Stellung plötzlich kaum noch etwas wert sind. Debes klagt das nicht an, schreibt vielmehr, dass die Mehrheit der Ostdeutschen genau diese rasche Wiedervereinigung ja unbedingt wollte. Und trotzdem fragt man sich, ob die damaligen Verhandler und Verantwortungsträger nicht doch einen anderen Ton hätten setzen können, eine andere Erzählung hätten prägen können und andere Begriffe als die der "neuen Länder". "Dass Thüringen eine über Jahrhunderte gewachsene Identität besitzt, dass es nie formal aufgelöst wurde und dass es somit älter ist als Bindestrichländer wie Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz", schreibt Debes: "dies alles interessiert im Westen nur wenige."
Kurzweilig und spannend lesen sich die Kapitel, die stets mit einer Szene beginnen und dann mit Analyse und Hintergrund verwoben werden. Manchmal ist man allerdings nicht sicher, ob der Autor nun selbst dabei war oder sich auf andere Quellen beruft, etwa wenn es um interne Fraktionssitzungen oder SMS-Wechsel geht. Wer sich die Mühe macht, den Fußnoten ans Buchende zu folgen, kann es zwar herausfinden, aber die Einordnung im Text würde doch helfen. Vor allem da, wo Debes die Gespräche selbst geführt hat, wäre weniger Zurückhaltung mehr. Wenn er Björn Höcke in seinem Büro im Erfurter Landtag zum Interview trifft, wäre man gern näher dabei, erführe, wie die Stimmung war im Raum und wie der Journalist Debes das Journalisten-Dilemma mit der AfD reflektiert: Bühne bieten oder ignorieren? Ruhig zuhören oder giftig streiten? Über Programm oder Rhetorik reden?
Manchmal nimmt es der Chronist des Erfurter Landtags auch ein bisschen zu genau. Ständig werden Wahlergebnisse bis auf die Nachkommastelle referiert, wird das Kabinett umgebildet und die Opposition neu aufgestellt. Wer in der SPD gerade wen aufbaut, wer bei den Grünen über was stürzt und wer bei der CDU gerade wen aussticht: manch politische Volte der 1990er- und 2000er-Jahre hätte man wahrscheinlich nicht vermisst.
Stattdessen hätte Debes vielleicht auch von den Thüringerinnen und Thüringern abseits der Berufspolitik erzählen können, die er im Laufe seines Reporterlebens getroffen hat und die ihre ganz eigenen politischen Erfahrungen und Ansichten haben zu Flüchtlingen, zur Pandemie und zum russischen Angriffskrieg - oder auch zu Gasheizungen und Dieselautos. All dies wird allenfalls mal erwähnt, aber nur als Hintergrundrauschen für die politisch Handelnden. Wie und warum in Thüringen auf manches anders geblickt wird, bleibt unbeantwortet.
Das ist einerseits schade, andererseits auch folgerichtig. Hier wird gar nicht erst versucht, eine Gesellschaft zu psychologisieren, werden weder "den" Ostdeutschen noch "den" Thüringern irgendwelche Diagnosen ausgestellt, die ihnen sowieso nicht gerecht werden. Debes konzentriert sich in seinem Buch auf die parlamentarische Politik. Und auch wenn die Bilanz dieses politischen Handelns ausgesprochen bitter ausfällt, so steckt in ihr doch implizit eine Hoffnung: Wenn der Aufstieg der AfD mit dem Versagen der politischen Verantwortungsträger zu tun hat, wie Debes nahelegt, dann können Politiker ja vielleicht auch wieder Vertrauen herstellen, in dem sie es besser machen.
Zum Schluss kann Debes nur vage Mutmaßungen anstellen darüber, was passieren würde, wenn die AfD tatsächlich an die Macht käme: Entzaubert sich die Partei im Regierungsalltag? Oder wird sie erst recht stark? Sonderlich optimistisch klingt er nicht, wenn er schließt: "Genau ein Jahrhundert nachdem in Weimar erstmals Bürgerliche mithilfe völkischer Extremisten regierten, wird in Erfurt die Demokratie vor einer neuen, schweren Herausforderung stehen."
Was er nicht schreibt, weil es für das Manuskript zu spät kommt: Eine neue demokratische Bewegung will den Entwicklungen nicht teilnahmslos zusehen, sondern organisiert im ganzen Land Demonstrationen gegen die AfD, auch in vielen kleinen und großen Orten in Thüringen. Und da spielt die Gesellschaft dann doch eine größere Rolle, als ihr in diesem Buch zugedacht wird: Denn all diese Menschen beweisen, dass sie das Vertrauen in die rechtsstaatliche, liberale Demokratie trotz aller Fehler noch lange nicht verloren haben.
Martin Debes: "Deutschland der Extreme". Wie Thüringen die Demokratie herausfordert.
Ch. Links Verlag, Berlin 2024.
280 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Ministerpräsidentenwahl 2020 hat gezeigt, was alles schiefgehen kann. Porträt eines widersprüchlichen Bundeslandes vor einer wichtigen Landtagswahl. In Erfurt steht die Demokratie vor einer Bewährungsprobe.
Von Livia Gerster
Mit einer Mischung aus Furcht und düsterer Vorahnung schaut Deutschland auf die drei Bundesländer, in denen im September gewählt wird. Ganz besonders ängstlich blicken viele nach Thüringen. Denn dort ist es die AfD Björn Höckes, die zum Siegeszug antreten will, dort haben die demokratischen Parteien in den vergangenen Jahren viel Vertrauen verspielt, und dort haben die Vorgänge rund um die Ministerpräsidentenwahl von Thomas Kemmerich schon vor vier Jahren gezeigt, was alles schiefgehen kann.
In diese Schauderstimmung hinein kommt das Thüringen-Buch des politischen Journalisten Martin Debes gerade recht: Es bringt Ordnung in eine erhitzte Debatte, kontert Spekulationen mit Fakten und Ferndiagnosen mit der Kenntnis des politischen Beobachters vor Ort. Debes schreibt dieses Buch als Journalist und als "gebürtiger Thüringer, dessen Vorfahren schon in diesem Land lebten", und zeichnet eindrucksvoll das Porträt eines widersprüchlichen Bundeslandes: Hier schrieben Goethe und Schiller ihre größten Werke, und hier bauten die Nazis ihr erstes Konzentrationslager. Hier entstand die erste deutsche Demokratie, und hier ging sie als Erstes wieder zugrunde. Und hier regiert der einzige linke Ministerpräsident, stellt die AfD den ersten Landrat, beweisen Rechtsextremisten immer wieder ihre Macht.
Auch wenn Debes das Ergebnis der Landtagswahl nicht vorhersehen kann, so kann er doch ziemlich präzise darlegen, wieso Höcke ausgerechnet hier sein perfektes Biotop fand. Höcke selbst hält die Voraussetzungen für eine blaue Revolution in Thüringen für "besonders gut", und auch wenn dem Autor Schwarzmalerei fernliegt, muss er ihm doch in einem Punkt recht geben: Gemeinsam mit den anderen Parteien hat die AfD seiner Analyse nach am 5. Februar 2020 die parlamentarische Demokratie nachhaltig beschädigt. Höcke, indem er den versammelten Landtag austrickste, Kemmerich, indem er sich zum Ministerpräsidenten von Höckes Gnaden machen ließ, Bundeskanzlerin Angela Merkel, indem sie die demokratische Wahl "rückgängig" machen ließ, und das Thüringer Parlament, indem es die versprochene Neuwahl absagte. Die Rekonstruktion der Ereignisse, die Debes wie einen Politkrimi erzählt, werden zum Schlüsselkapitel.
Aber es ist kein Buch über Höcke und die AfD. Was es so lesenswert macht, ist die Erzählung der Vorgeschichte von der thüringischen Kleinstaaterei über die deutsche Romantik, von Weimar über das Dritte Reich bis zur DDR. Ab den Wirren der Wendezeit beginnt Debes die Ereignisse chronologisch zu ordnen: das Auf und Ab im wiedervereinigten Deutschland, Abwanderung und Massenarbeitslosigkeit, der demokratische Aufbruch und der grassierende Rechtsextremismus. Vor diesem Hintergrund treten die maßgeblichen politischen Figuren der Nachwendezeit auf: Bernhard Vogel, der gescheiterte Ministerpräsident aus dem Westen, Dieter Althaus, der Mann, dessen Skiunfall das Land ins Chaos stürzt, die Pastorin Christine Lieberknecht, der Gewerkschafter Bodo Ramelow, die ewigen Konkurrenten Mike Mohring und Mario Voigt. Immer wieder führt Debes elegant Figuren ein, die später noch Bedeutung erfahren: den Glücksritter aus dem Westen, Thomas Kemmerich, etwa, der in den 1990er-Jahren hier mit Niedriglöhnen einen Friseurkette aufbaute.
Mit Wertungen hält sich der Autor stets zurück, lässt den Leser sich sein eigenes Urteil bilden. Und bilanziert doch bitter, wie die versprochene Einheit auf Augenhöhe ausfällt: Statt einem neuen Grundgesetz gibt es nur einen formalen Beitritt, die Ostdeutschen müssen ein neues System erlernen, das sie nicht mitgestalten dürfen und in dem Abschluss, Beruf und gesellschaftliche Stellung plötzlich kaum noch etwas wert sind. Debes klagt das nicht an, schreibt vielmehr, dass die Mehrheit der Ostdeutschen genau diese rasche Wiedervereinigung ja unbedingt wollte. Und trotzdem fragt man sich, ob die damaligen Verhandler und Verantwortungsträger nicht doch einen anderen Ton hätten setzen können, eine andere Erzählung hätten prägen können und andere Begriffe als die der "neuen Länder". "Dass Thüringen eine über Jahrhunderte gewachsene Identität besitzt, dass es nie formal aufgelöst wurde und dass es somit älter ist als Bindestrichländer wie Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz", schreibt Debes: "dies alles interessiert im Westen nur wenige."
Kurzweilig und spannend lesen sich die Kapitel, die stets mit einer Szene beginnen und dann mit Analyse und Hintergrund verwoben werden. Manchmal ist man allerdings nicht sicher, ob der Autor nun selbst dabei war oder sich auf andere Quellen beruft, etwa wenn es um interne Fraktionssitzungen oder SMS-Wechsel geht. Wer sich die Mühe macht, den Fußnoten ans Buchende zu folgen, kann es zwar herausfinden, aber die Einordnung im Text würde doch helfen. Vor allem da, wo Debes die Gespräche selbst geführt hat, wäre weniger Zurückhaltung mehr. Wenn er Björn Höcke in seinem Büro im Erfurter Landtag zum Interview trifft, wäre man gern näher dabei, erführe, wie die Stimmung war im Raum und wie der Journalist Debes das Journalisten-Dilemma mit der AfD reflektiert: Bühne bieten oder ignorieren? Ruhig zuhören oder giftig streiten? Über Programm oder Rhetorik reden?
Manchmal nimmt es der Chronist des Erfurter Landtags auch ein bisschen zu genau. Ständig werden Wahlergebnisse bis auf die Nachkommastelle referiert, wird das Kabinett umgebildet und die Opposition neu aufgestellt. Wer in der SPD gerade wen aufbaut, wer bei den Grünen über was stürzt und wer bei der CDU gerade wen aussticht: manch politische Volte der 1990er- und 2000er-Jahre hätte man wahrscheinlich nicht vermisst.
Stattdessen hätte Debes vielleicht auch von den Thüringerinnen und Thüringern abseits der Berufspolitik erzählen können, die er im Laufe seines Reporterlebens getroffen hat und die ihre ganz eigenen politischen Erfahrungen und Ansichten haben zu Flüchtlingen, zur Pandemie und zum russischen Angriffskrieg - oder auch zu Gasheizungen und Dieselautos. All dies wird allenfalls mal erwähnt, aber nur als Hintergrundrauschen für die politisch Handelnden. Wie und warum in Thüringen auf manches anders geblickt wird, bleibt unbeantwortet.
Das ist einerseits schade, andererseits auch folgerichtig. Hier wird gar nicht erst versucht, eine Gesellschaft zu psychologisieren, werden weder "den" Ostdeutschen noch "den" Thüringern irgendwelche Diagnosen ausgestellt, die ihnen sowieso nicht gerecht werden. Debes konzentriert sich in seinem Buch auf die parlamentarische Politik. Und auch wenn die Bilanz dieses politischen Handelns ausgesprochen bitter ausfällt, so steckt in ihr doch implizit eine Hoffnung: Wenn der Aufstieg der AfD mit dem Versagen der politischen Verantwortungsträger zu tun hat, wie Debes nahelegt, dann können Politiker ja vielleicht auch wieder Vertrauen herstellen, in dem sie es besser machen.
Zum Schluss kann Debes nur vage Mutmaßungen anstellen darüber, was passieren würde, wenn die AfD tatsächlich an die Macht käme: Entzaubert sich die Partei im Regierungsalltag? Oder wird sie erst recht stark? Sonderlich optimistisch klingt er nicht, wenn er schließt: "Genau ein Jahrhundert nachdem in Weimar erstmals Bürgerliche mithilfe völkischer Extremisten regierten, wird in Erfurt die Demokratie vor einer neuen, schweren Herausforderung stehen."
Was er nicht schreibt, weil es für das Manuskript zu spät kommt: Eine neue demokratische Bewegung will den Entwicklungen nicht teilnahmslos zusehen, sondern organisiert im ganzen Land Demonstrationen gegen die AfD, auch in vielen kleinen und großen Orten in Thüringen. Und da spielt die Gesellschaft dann doch eine größere Rolle, als ihr in diesem Buch zugedacht wird: Denn all diese Menschen beweisen, dass sie das Vertrauen in die rechtsstaatliche, liberale Demokratie trotz aller Fehler noch lange nicht verloren haben.
Martin Debes: "Deutschland der Extreme". Wie Thüringen die Demokratie herausfordert.
Ch. Links Verlag, Berlin 2024.
280 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Holger Heimann vertieft sich in das Buch des Journalisten und Thüringen-Kenners Martin Debes. Was der Autor über das Bundesland und die Region weiß und aufschreibt, über die jüngere politische Dynamik wie über historische Prägungen, erscheint Heimann höchst interessant und aufschlussreich. Woher die extremistische Gesinnung in großen Teilen der Bevölkerung kommt, versteht er nach der Lektüre besser, weil Debes über Kleinstaaterei und die Folgen der Wende schreibt, ausführlich, aber ohne Besserwisserei. Die neuesten Entwicklungen kann das Buch naturgemäß nur streifen, erklärt Heimann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wer Thüringen in diesem Jahr besser verstehen will, findet bei Debes reichlich Erklärung. Wer ruhiger schlafen möchte, sei gewarnt.« Iris Mayer Süddeutsche Zeitung 20240318
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.03.2024Höckes
Machtlabor
Martin Debes erklärt, warum in Thüringen früher geschieht,
was dem Rest des Landes noch bevorstehen könnte.
Es kann nicht falsch sein, regelmäßig zu fragen, was denn schon wieder in Thüringen los ist. Im einzigen Bundesland mit einem linken Ministerpräsidenten, einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung und einem Parlament, in dem Linkspartei und Rechtsextreme die Mehrzahl der Sitze halten. Einem Bundesland, in dem die Fraktion des radikalsten AfD-Politikers des Landes vor vier Jahren zusammen mit der CDU einem FDP-Mann kurzzeitig ins Ministerpräsidentenamt verhalf und damit ein Beben auslöste, dessen Ausläufer bis heute noch zu spüren sind.
Es wird in diesem Jahr viele Gelegenheiten geben, die Was-ist-denn-da-schon-wieder-los-Frage zu stellen, denn spätestens zur Landtagswahl am 1. September könnte erneut Geschichte geschrieben werden. Die rechtsextremistische AfD des westdeutschen Geschichtslehrers Björn Höcke führt seit Monaten die Umfragen an. Auch wenn in Thüringen nur drei Prozent der deutschen Bevölkerung leben, verlaufen hier die großen Konfliktlinien der Republik gut sichtbar: die Machterosion der Volksparteien und die Zersplitterung der politischen Landschaft, der nahezu ungebremste Aufstieg der AfD und der Vertrauensverlust der Menschen in die Politik – und der handelnden Politiker in ihresgleichen.
Der Journalist und Buchautor Martin Debes legt pünktlich vor den Kommunal-, Europa- und Landtagswahlen nun eine Abhandlung vor, die erklären soll, „wie Thüringen die Demokratie herausfordert“. Er tut dies so detailreich wie umfassend. Sollte die Erklärung des Bundeslandes Thüringens je in den Rang einer Wissenschaft erhoben werden, Debes wäre Deutschlands führender Thüringologe. Keine historische Parallele, die er nicht schon gezeichnet, keine wichtige Politiker-SMS, die er nicht zitiert hätte.
In „Deutschland der Extreme“ erzählt er mit der Nüchternheit eines Augenzeugen, der routiniert die Unfälle der Geschichte protokolliert und erklären will, warum auch extreme Entwicklungen in seiner Heimat stets früher zu beobachten waren als anderswo. Das ist lehrreich, auch wenn es nicht ganz an den Spannungsbogen des Vorgängers „Demokratie unter Schock“ heranreicht, in dem die von der AfD eingefädelte Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten minutiös im Stil einer Netflix-Serie geschildert wird.
Diesmal geht Debes weiter zurück in der Geschichte, beschreibt die historische Kleinstaaterei, die dazu führt, dass Thüringen noch heute 17 Landkreise und fünf kreisfreie Städte hat. Er zeichnet nach, wie Thüringen zum Machtlabor der Nazis und Hitlers Mustergau wurde: die Minderheitsregierung von SPD und USPD in den frühen 1920er-Jahren, die später den Wahlerfolg des konservativ-rechten Thüringer Ordnungsbundes ermöglicht, der sich 1924 zum Pakt mit einer Tarnorganisation der damals noch verbotenen NSDAP entschließt.
Der Preis, den diese Vereinigte Völkische Liste für die Tolerierung des Ordnungsbundes fordert: eine Landesregierung aus „deutschblütigen, nichtmarxistischen Männern“. So nimmt das Unheil seinen Lauf, 1926 hält die NSDAP in Weimar ihren ersten Reichsparteitag nach der Aufhebung ihres Verbotes nach dem Hitlerputsch ab; hier gründet sich auch die Hitler-Jugend. Thüringen wird zum Sprungbrett für die Nazis.
Nach dem Wahlsieg der NSDAP im Juli 1932 – er fällt in Thüringen fünf Prozentpunkte höher aus als bei den Reichstagswahlen – werden in Thüringen Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden aus der Verwaltung gedrängt, jüdische Geschäfte boykottiert. Oppositionsparteien wurden hier schneller verboten, jüdischer Besitz früher enteignet als im Rest des Landes. Schon im März 1933 entsteht das erste Konzentrationslager in Nohra bei Weimar. „Weimar ist der Vorbote dessen, was bald darauf in Berlin geschieht.“
So nährt Debes mit seiner Schilderung von Vergangenheit vor allem Sorge beim Betrachten der Gegenwart. Die stärksten Stellen des Buches sind aber nicht die historischen, sondern es ist die akribische Herleitung der aktuellen parlamentarischen Selbstblockade, die auf hart erarbeitetem Misstrauen fußt. Politisch-persönliche Fehden und Fehltritte des handelnden Personals werden so aneinandergereiht, dass einen das nächste schicksalhafte Unheil nur noch schwer überraschen kann.
Vieles davon ist nicht neu, gewinnt beim beharrlichen Verdichten aber an Eindringlichkeit, zum Beispiel wie lange die CDU schon vor sich hin schlingert, was ihren Kurs zur AfD angeht, wie die Rechtsextremen unter Höcke von allen Krisen profitieren können, sei es die Kemmerich-Wahl, Corona oder die geplatzte Neuwahl des Landtags. Höckes Rolle widmet Debes viel Platz, beschreibt, wie der Thüringen als Bastion begreift, von der aus er angreifen will, wie er mit seinem völkischen Flügel nach und nach die Gesamtpartei dominiert. Und auf welch fruchtbaren Boden Höckes Rhetorik in einem Bundesland fällt, das stärker als andere unter den Nachwehen der deutschen Teilung und den Transformationsbrüchen leidet.
Wer Thüringen in diesem Jahr besser verstehen will, findet bei Debes reichlich Erklärung. Wer ruhiger schlafen möchte, sei gewarnt.
IRIS MAYER
„Deutschblütige,
nichtmarxistische Männer“
waren erwünscht
Martin Debes:
Deutschland der Extreme.
Wie Thüringen die
Demokratie herausfordert. Verlag Ch. Links,
Berlin 2024.
280 Seiten, 20 Euro.
E-Book: 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Machtlabor
Martin Debes erklärt, warum in Thüringen früher geschieht,
was dem Rest des Landes noch bevorstehen könnte.
Es kann nicht falsch sein, regelmäßig zu fragen, was denn schon wieder in Thüringen los ist. Im einzigen Bundesland mit einem linken Ministerpräsidenten, einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung und einem Parlament, in dem Linkspartei und Rechtsextreme die Mehrzahl der Sitze halten. Einem Bundesland, in dem die Fraktion des radikalsten AfD-Politikers des Landes vor vier Jahren zusammen mit der CDU einem FDP-Mann kurzzeitig ins Ministerpräsidentenamt verhalf und damit ein Beben auslöste, dessen Ausläufer bis heute noch zu spüren sind.
Es wird in diesem Jahr viele Gelegenheiten geben, die Was-ist-denn-da-schon-wieder-los-Frage zu stellen, denn spätestens zur Landtagswahl am 1. September könnte erneut Geschichte geschrieben werden. Die rechtsextremistische AfD des westdeutschen Geschichtslehrers Björn Höcke führt seit Monaten die Umfragen an. Auch wenn in Thüringen nur drei Prozent der deutschen Bevölkerung leben, verlaufen hier die großen Konfliktlinien der Republik gut sichtbar: die Machterosion der Volksparteien und die Zersplitterung der politischen Landschaft, der nahezu ungebremste Aufstieg der AfD und der Vertrauensverlust der Menschen in die Politik – und der handelnden Politiker in ihresgleichen.
Der Journalist und Buchautor Martin Debes legt pünktlich vor den Kommunal-, Europa- und Landtagswahlen nun eine Abhandlung vor, die erklären soll, „wie Thüringen die Demokratie herausfordert“. Er tut dies so detailreich wie umfassend. Sollte die Erklärung des Bundeslandes Thüringens je in den Rang einer Wissenschaft erhoben werden, Debes wäre Deutschlands führender Thüringologe. Keine historische Parallele, die er nicht schon gezeichnet, keine wichtige Politiker-SMS, die er nicht zitiert hätte.
In „Deutschland der Extreme“ erzählt er mit der Nüchternheit eines Augenzeugen, der routiniert die Unfälle der Geschichte protokolliert und erklären will, warum auch extreme Entwicklungen in seiner Heimat stets früher zu beobachten waren als anderswo. Das ist lehrreich, auch wenn es nicht ganz an den Spannungsbogen des Vorgängers „Demokratie unter Schock“ heranreicht, in dem die von der AfD eingefädelte Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten minutiös im Stil einer Netflix-Serie geschildert wird.
Diesmal geht Debes weiter zurück in der Geschichte, beschreibt die historische Kleinstaaterei, die dazu führt, dass Thüringen noch heute 17 Landkreise und fünf kreisfreie Städte hat. Er zeichnet nach, wie Thüringen zum Machtlabor der Nazis und Hitlers Mustergau wurde: die Minderheitsregierung von SPD und USPD in den frühen 1920er-Jahren, die später den Wahlerfolg des konservativ-rechten Thüringer Ordnungsbundes ermöglicht, der sich 1924 zum Pakt mit einer Tarnorganisation der damals noch verbotenen NSDAP entschließt.
Der Preis, den diese Vereinigte Völkische Liste für die Tolerierung des Ordnungsbundes fordert: eine Landesregierung aus „deutschblütigen, nichtmarxistischen Männern“. So nimmt das Unheil seinen Lauf, 1926 hält die NSDAP in Weimar ihren ersten Reichsparteitag nach der Aufhebung ihres Verbotes nach dem Hitlerputsch ab; hier gründet sich auch die Hitler-Jugend. Thüringen wird zum Sprungbrett für die Nazis.
Nach dem Wahlsieg der NSDAP im Juli 1932 – er fällt in Thüringen fünf Prozentpunkte höher aus als bei den Reichstagswahlen – werden in Thüringen Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden aus der Verwaltung gedrängt, jüdische Geschäfte boykottiert. Oppositionsparteien wurden hier schneller verboten, jüdischer Besitz früher enteignet als im Rest des Landes. Schon im März 1933 entsteht das erste Konzentrationslager in Nohra bei Weimar. „Weimar ist der Vorbote dessen, was bald darauf in Berlin geschieht.“
So nährt Debes mit seiner Schilderung von Vergangenheit vor allem Sorge beim Betrachten der Gegenwart. Die stärksten Stellen des Buches sind aber nicht die historischen, sondern es ist die akribische Herleitung der aktuellen parlamentarischen Selbstblockade, die auf hart erarbeitetem Misstrauen fußt. Politisch-persönliche Fehden und Fehltritte des handelnden Personals werden so aneinandergereiht, dass einen das nächste schicksalhafte Unheil nur noch schwer überraschen kann.
Vieles davon ist nicht neu, gewinnt beim beharrlichen Verdichten aber an Eindringlichkeit, zum Beispiel wie lange die CDU schon vor sich hin schlingert, was ihren Kurs zur AfD angeht, wie die Rechtsextremen unter Höcke von allen Krisen profitieren können, sei es die Kemmerich-Wahl, Corona oder die geplatzte Neuwahl des Landtags. Höckes Rolle widmet Debes viel Platz, beschreibt, wie der Thüringen als Bastion begreift, von der aus er angreifen will, wie er mit seinem völkischen Flügel nach und nach die Gesamtpartei dominiert. Und auf welch fruchtbaren Boden Höckes Rhetorik in einem Bundesland fällt, das stärker als andere unter den Nachwehen der deutschen Teilung und den Transformationsbrüchen leidet.
Wer Thüringen in diesem Jahr besser verstehen will, findet bei Debes reichlich Erklärung. Wer ruhiger schlafen möchte, sei gewarnt.
IRIS MAYER
„Deutschblütige,
nichtmarxistische Männer“
waren erwünscht
Martin Debes:
Deutschland der Extreme.
Wie Thüringen die
Demokratie herausfordert. Verlag Ch. Links,
Berlin 2024.
280 Seiten, 20 Euro.
E-Book: 14,99 Euro.
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