Neben seinen großen Romanen und Erzählungen hat Thomas Mann ein nicht weniger eindrucksvolles betrachtendes Werk geschaffen, das bislang nicht im gleichen Maß beachtet worden ist. Dabei hat er sich von Anfang an während seines ganzen Lebens mit kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Strömungen
auseinandergesetzt, fremde Thesen in Frage, eigene zur Diskussion gestellt - nicht zuletzt, um sich auf diese Weise, darin Montaigne und anderen ähnlich, selbst darzustellen, bekanntzumachen und Gleichgesinnte zu erreichen. Er hat dies als eine wesentliche Aufgabe des Schriftstellers in seiner Zeit verstanden.
Aufgabe und Ziel dieser textkritisch durchgesehenen Ausgabe ausgewählter Essays ist es, den Blick konzentriert auf diesen Teil des Werkes zu lenken, ihn durch Erklärungen von historischen Zusammenhängen sowie durch Zitat- und Quellennachweis leichter verständlich zu machen. Der Band »Deutschland und die Deutschen«, herausgegeben von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, umfasst die Essays der Jahre 1938 bis 1945 in der Fassung des Erstdrucks.
auseinandergesetzt, fremde Thesen in Frage, eigene zur Diskussion gestellt - nicht zuletzt, um sich auf diese Weise, darin Montaigne und anderen ähnlich, selbst darzustellen, bekanntzumachen und Gleichgesinnte zu erreichen. Er hat dies als eine wesentliche Aufgabe des Schriftstellers in seiner Zeit verstanden.
Aufgabe und Ziel dieser textkritisch durchgesehenen Ausgabe ausgewählter Essays ist es, den Blick konzentriert auf diesen Teil des Werkes zu lenken, ihn durch Erklärungen von historischen Zusammenhängen sowie durch Zitat- und Quellennachweis leichter verständlich zu machen. Der Band »Deutschland und die Deutschen«, herausgegeben von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, umfasst die Essays der Jahre 1938 bis 1945 in der Fassung des Erstdrucks.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1996Kellnern beim Weltuntergang
Thomas Manns Essays der Jahre 1933 bis 1945 / Von Heinz Schlaffer
Im Frühjahr 1945 zweifelt Thomas Mann noch daran, ob er nur vorübergehend Deutschland, wo die Nationalsozialisten sein Münchner Haus beschlagnahmt haben, fernbleibe oder ob er bereits endgültig in die Schweiz emigriert sei, als ihm die Einladung, in New York die amerikanische Ausgabe des Joseph-Romans zu präsentieren, die Gelegenheit verschafft, eine Schiffsreise lang Urlaub vom Exil zu nehmen. Auf dieser Reise entsteht der Essay "Meerfahrt mit Don Quijote". Der Autor gibt ihn als Tagebuch aus, das mit gleicher Aufmerksamkeit die Vorgänge auf dem Luxusdampfer und die Lektüre von Cervantes' Roman verfolgt - auch er ein Meer, ein "Meer von Erzählung".
Der "Großwildnis" des Meeres ausgesetzt und vor ihr dennoch durch Fürsorge und Luxus geschützt, genießt er in erhöhtem Maß "das Geborgensein in der menschlichen Zivilisation". Sogar die Seekrankheit verliert ihre Schrecken, sobald Tabletten eine "humane Rückendeckung" geben. Absichtsvoll wählt der Autor ein Vokabular, das für die schlichten Freuden einer Überfahrt zu großartig zu sein scheint. Auf dem engen Raum des Schiffes trifft er, wie in einer Arche Noah, die schönsten Exemplare des bürgerlichen Wohlstands, der literarischen Kultur und des sinnlichen Glücks an, deren scheinbar unerschöpflicher Vorrat eben während dieser Jahre in der Sintflut des europäischen Faschismus versinkt.
Selbst die Art, wie trotz des hohen Seegangs "mitten im Weltuntergang" der Steward das Essen serviert, korrespondiert der politischen Konstellation und läßt ihn zum allegorischen Selbstporträt des Schriftstellers werden, dem er aufwartet: "Er muß seinen Augenblick abwarten, einen bestimmten, wo ihm die Weltlage gestattet, in einem wenn nicht beherrschten, so doch berechneten Bogen das Gericht auf deinem Bett zu landen. Er nimmt ihn wahr, seinen Augenblick, was an ihm liegt, leistet er mit Mut und Intelligenz, und der Schwung scheint zu gelingen. In derselben Sekunde aber hat sich die Weltlage in dem Sinn und zu dem Effekte geändert, daß du die Platte, ihren Boden nach oben, auf dem Bett deiner Frau gewahrst. Es ist nicht möglich . . ."
Leicht ließe sich die versteckte Bedeutung dieser Humoreske über den Kampf zwischen Kultur und Naturgewalt überlesen, stünde dem Essay in der von Kurzke und Stachorski getroffenen Auswahl nicht ein Brief an das Reichsministerium des Inneren voran, in dem Thomas Mann sein Münchner Haus und seine deutsche Staatsbürgerschaft gegen die Zugriffe der neuen Machthaber zu verteidigen sucht, und folgte ihm zudem nicht der Aufruf "Achtung, Europa!", der vor dem Aufstand der Massen "wildgewordener Kleinbürger" warnt. Der auf die Zeitumstände gerichtete Blick des heutigen Lesers von Thomas Manns Essay entdeckt in ihm, dem Referat einer Lektüre des "Don Quijote", das verborgene Schicksal des lesenden Autors wieder, der mit Überraschung im spanischen Roman von 1600 eine Seligpreisung des damaligen Deutschlands findet: "das sei ein gutes, duldsames Land, seine Einwohner sähen nicht auf ,Kleinigkeiten', jeder lebe da, wie es ihm gut dünke, und an den meisten Orten könne man mit aller Gewissensfreiheit leben."
Vor dreihundert Jahren war solche Toleranz noch eine Ausnahme gewesen, so daß das Gerücht von ihr bis auf die Hochebene von Kastilien drang; seit anderthalb Jahren, seit die Nationalsozialisten regieren, stellt Deutschland wiederum eine Ausnahme im zivilisierten Europa dar, nun allerdings als Land der Intoleranz. Buch und Schiff, beide, so scheint es, der Zeit entrückt, werden dem, der durch die aufwühlenden Zeitläufte in den Sog der Bedeutsamkeiten gerät, zum Spiegel der Gegenwart.
Die chronologische Anordnung ist ein Vorzug der neuen Ausgabe von Thomas Manns Essays (die darin den Fragment gebliebenen "Aufsätzen, Reden, Essays" des Aufbau-Verlags folgt), da in der befremdlichen Umgebung von Zeitungsartikeln, politischen Ansprachen und Radiosendungen - vor allem die Aufrufe "Deutsche Hörer!" von BBC London während des Kriegs - auch die eigentlichen Essays über Kunst und Literatur, über Wagner, Schopenhauer und Tolstoi, durch offene Gegensätze oder geheime Parallelen zum Zeitgeschehen sich vieldeutiger ausnehmen als in den von Thomas Mann selbst komponierten Sammelbänden, für die er die einzelnen Beiträge überarbeitete, glättete und damit der Entstehungszeit entrückte.
Noch enger verflicht der reichhaltige Kommentar das Ästhetische mit dem Politischen; über Quellennachweise und die Erläuterung von Stichwörtern hinaus klärt er Anlaß und Umfeld dieser kleinen Schriften auf. Aus ihm erfährt man, daß die Tagebuchform der "Meerfahrt mit Don Quijote" weitgehend eine Fiktion ist: Der Autor schrieb sie erst ein halbes Jahr nach der Reise, auf der er in Wahrheit andere Bücher, von Cervantes' Werk jedoch lediglich die letzten Kapitel gelesen hatte. Aber gerade dieses Opfer der Wirklichkeitstreue zugunsten der Komposition spricht dafür, daß Thomas Mann dem ästhetisch-politischen Sinnbild, das nicht an das biographische Ereignis gebunden war, zu spielerisch-bedeutsamer Darstellung verhelfen wollte.
Die historischen Einschnitte, die die Bände gliedern - 1933, 1938, 1945 - bleiben dem Leser bewußt, während er sich den Einzelheiten ästhetischer Charakteristiken überlassen möchte, und brechen immer wieder den üppigen Wortzauber von Thomas Manns Kunst der vergeistigten Beschreibung. Ibsens "Wenn wir Toten erwachen" und Wagners "Parsifal" charakterisiert er mit einfühlsamer Lust und zugleich mit kritischer Distanz als "Abschiedsweihespiele und letzte Worte vor ewigem Schweigen, die zelesten Greisenwerke in ihrer majestätisch-sklerotischen Müdigkeit, dem Schon-mechanisch-gewordenen-Sein ihrer Mittel, dem Spätgepräge von Resümee, Rückschau, Selbstzitat, Auflösung".
Datiert ist das Manuskript des Vortrags über "Leiden und Größe Richard Wagners", wo sich dieses überschwengliche Beispiel schönen Stils findet, auf den 29. Januar 1933, den Tag also vor Hitlers Machtergreifung, die eine solche Rede selbst zum "Abschiedsweihespiel" werden läßt, und zwar auf drastische Weise: am 10. Februar in München gehalten, ruft sie eine Polemik der rechten Presse hervor sowie den von namhaften Künstlern unterzeichneten "Protest der Richard-Wagner-Stadt München" (im Anhang des Bandes ist das beflissene Pamphlet abgedruckt: Gulbransson, Knappertsbusch, Pfitzner, Richard Strauss und andere verwahren sich - die neue "Bewegung" ist erst seit ein paar Tagen an der Macht - gegen Thomas Manns angebliche "Kritik wertbeständiger deutscher Geistesriesen" und denunzieren sie als entlarvendes Resultat von Manns "kosmopolitisch-demokratischer Auffassung"). Es hat die Vertreibung des mittlerweile weltberühmten Schriftstellers aus Deutschland zur raschen Folge. Nicht er selbst, sondern die Zeit hat aus der Literatur ein Politikum gemacht.
Gerade durch die Störungen und Verstörungen, die Thomas Mann als Zeitgenosse des Faschismus und des Weltkriegs erfährt, wird ihm bewußt, was Kunstwerke sind: glückliche Ausnahmen, die einen Augenblick lang die Nötigungen und Notlagen der politischen Welt vergessen dürfen. Neben der 1940 in Princeton gehaltenen Vorlesung über die "Kunst des Romans", der die erfolgreiche Karriere dieses zunächst so unwürdigen Nachfolgers des Epos nachzeichnet, steht die Broschüre "Dieser Krieg", der deutschen Hörern und Lesern ihre Schuld an diesem Krieg vorrechnet. Nur weil das Schöne ein - unpolitisches - Recht zum Dasein hat, gilt es, eine Welt - politisch - zu verteidigen, die dem Schönen dieses Recht einräumt. Zwar vermehren sich die politischen Artikel, je länger das Dritte Reich währt und je näher sein Untergang rückt; doch eben in diesen Jahren schreibt Thomas Mann "Joseph und seine Brüder" und "Lotte in Weimar", Werke, denen man die Zeitumstände, unter denen sie entstanden sind, nicht anmerkt. Gerade der Versuch, das Ästhetische vor dem Zugriff der Politik zu retten, ist der genuin künstlerische Beweggrund, über Politik zu reden.
Es ist heute ebenso üblich wie richtig, die Heroen der ästhetischen Moderne als Mitläufer, mehr noch: als Vordenker und Vorträumer totalitärer Systeme, linker wie rechter, zu entlarven. Gegen solche Versuchungen, der vor allem die Künstler der Avantgarde erlagen, im Ausnahmezustand der Kunst ein Modell gesellschaftlicher Ordnung anzupreisen, war Thomas Mann gefeit, da er nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die geschichtlichen Fehlurteile seiner "Betrachtungen eines Unpolitischen" durchschaut hatte. In einer Art Selbstexorzismus diagnostiziert er 1938 an "Bruder Hitler" den verführerischen und verhängnisvollen Einschlag von Künstlertum: In Hitler steckt ein Anflug von Künstler, wie in jedem Künstler der Traum eines Diktators verborgen ist. Deshalb kann Thomas Mann nicht umhin, "der Erscheinung eine gewisse angewiderte Bewunderung entgegenzubringen", da Hitler aus seinem ästhetischen Dilettantismus heraus einen neuen Stil nationaler Gewalttätigkeit erfunden habe.
Es verrät Sinn für intellektuelle Konstellationen, wenn die Herausgeber den Band "Achtung, Europa!" mit einem Aufsatz über Wagner beginnen und mit einem über Hitler enden lassen. Denn Wagners Weiheklänge und Erlösungsideen haben Thomas Mann wie Adolf Hitler berührt; und der Dichter schaudert nun davor zurück, wie der Dilettant sie in Wirklichkeit überführt hat. Daß aus Kunst Politik werde, war Wagners Hoffnung und Hitlers Überzeugung gewesen; daß ebendies nicht geschehen dürfe, war die Einsicht, die der Wagner-Verehrer Thomas Mann aus Hitlers rücksichtsloser Anwendung künstlerischer Verführungs- und Verblüffungsstrategien auf die zivilisierte Staatenwelt gewann.
Thomas Mann ist einer der wenigen bedeutenden deutschen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, der politisches Handeln nicht vom Traum einer glücklich erlösten Gesellschaft ableiten wollte, sondern dem begrenzten, rationalen Zweck unterordnete, größeres Unglück für die bestehende Welt zu verhindern. Aus dieser skeptisch-humanen Haltung ist es zu verstehen, daß sich in seinen Diagnosen, die von 1933 bis 1945 dicht aufeinander folgen, ein erstaunlich sicheres Gespür und Urteil verrät, das der Gang der Ereignisse fast immer bestätigt hat.
Er sieht die kriegerischen Konsequenzen der nationalsozialischen Euphorie in Deutschland wie der westlichen Nachgiebigkeit voraus, während sich die zeitgenössischen Staatsmänner noch lange den Illusionen hingeben, die sie zur Beschwichtigung ihrer Bürger geschaffen hatten. Thomas Mann nützt den Vorteil, den er aus dem Handwerk des Romanautors zieht: Er, der mit der professionellen Erfindung von Illusionen vertraut ist, hat einen geschärften Blick für die Grenze zwischen dem schönen Schein und der ihn umgebenden Realität. Seine Essays erkunden die Gebiete diesseits und jenseits dieser Grenze.
Thomas Mann: "Essays". Band 4: "Achtung, Europa! 1933-1938".Band 5: "Deutschland und die Deutschen. 1938- 1945". Beide Bände herausgegeben von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1995 und 1996. 461 und 464 Seiten, geb., je 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Manns Essays der Jahre 1933 bis 1945 / Von Heinz Schlaffer
Im Frühjahr 1945 zweifelt Thomas Mann noch daran, ob er nur vorübergehend Deutschland, wo die Nationalsozialisten sein Münchner Haus beschlagnahmt haben, fernbleibe oder ob er bereits endgültig in die Schweiz emigriert sei, als ihm die Einladung, in New York die amerikanische Ausgabe des Joseph-Romans zu präsentieren, die Gelegenheit verschafft, eine Schiffsreise lang Urlaub vom Exil zu nehmen. Auf dieser Reise entsteht der Essay "Meerfahrt mit Don Quijote". Der Autor gibt ihn als Tagebuch aus, das mit gleicher Aufmerksamkeit die Vorgänge auf dem Luxusdampfer und die Lektüre von Cervantes' Roman verfolgt - auch er ein Meer, ein "Meer von Erzählung".
Der "Großwildnis" des Meeres ausgesetzt und vor ihr dennoch durch Fürsorge und Luxus geschützt, genießt er in erhöhtem Maß "das Geborgensein in der menschlichen Zivilisation". Sogar die Seekrankheit verliert ihre Schrecken, sobald Tabletten eine "humane Rückendeckung" geben. Absichtsvoll wählt der Autor ein Vokabular, das für die schlichten Freuden einer Überfahrt zu großartig zu sein scheint. Auf dem engen Raum des Schiffes trifft er, wie in einer Arche Noah, die schönsten Exemplare des bürgerlichen Wohlstands, der literarischen Kultur und des sinnlichen Glücks an, deren scheinbar unerschöpflicher Vorrat eben während dieser Jahre in der Sintflut des europäischen Faschismus versinkt.
Selbst die Art, wie trotz des hohen Seegangs "mitten im Weltuntergang" der Steward das Essen serviert, korrespondiert der politischen Konstellation und läßt ihn zum allegorischen Selbstporträt des Schriftstellers werden, dem er aufwartet: "Er muß seinen Augenblick abwarten, einen bestimmten, wo ihm die Weltlage gestattet, in einem wenn nicht beherrschten, so doch berechneten Bogen das Gericht auf deinem Bett zu landen. Er nimmt ihn wahr, seinen Augenblick, was an ihm liegt, leistet er mit Mut und Intelligenz, und der Schwung scheint zu gelingen. In derselben Sekunde aber hat sich die Weltlage in dem Sinn und zu dem Effekte geändert, daß du die Platte, ihren Boden nach oben, auf dem Bett deiner Frau gewahrst. Es ist nicht möglich . . ."
Leicht ließe sich die versteckte Bedeutung dieser Humoreske über den Kampf zwischen Kultur und Naturgewalt überlesen, stünde dem Essay in der von Kurzke und Stachorski getroffenen Auswahl nicht ein Brief an das Reichsministerium des Inneren voran, in dem Thomas Mann sein Münchner Haus und seine deutsche Staatsbürgerschaft gegen die Zugriffe der neuen Machthaber zu verteidigen sucht, und folgte ihm zudem nicht der Aufruf "Achtung, Europa!", der vor dem Aufstand der Massen "wildgewordener Kleinbürger" warnt. Der auf die Zeitumstände gerichtete Blick des heutigen Lesers von Thomas Manns Essay entdeckt in ihm, dem Referat einer Lektüre des "Don Quijote", das verborgene Schicksal des lesenden Autors wieder, der mit Überraschung im spanischen Roman von 1600 eine Seligpreisung des damaligen Deutschlands findet: "das sei ein gutes, duldsames Land, seine Einwohner sähen nicht auf ,Kleinigkeiten', jeder lebe da, wie es ihm gut dünke, und an den meisten Orten könne man mit aller Gewissensfreiheit leben."
Vor dreihundert Jahren war solche Toleranz noch eine Ausnahme gewesen, so daß das Gerücht von ihr bis auf die Hochebene von Kastilien drang; seit anderthalb Jahren, seit die Nationalsozialisten regieren, stellt Deutschland wiederum eine Ausnahme im zivilisierten Europa dar, nun allerdings als Land der Intoleranz. Buch und Schiff, beide, so scheint es, der Zeit entrückt, werden dem, der durch die aufwühlenden Zeitläufte in den Sog der Bedeutsamkeiten gerät, zum Spiegel der Gegenwart.
Die chronologische Anordnung ist ein Vorzug der neuen Ausgabe von Thomas Manns Essays (die darin den Fragment gebliebenen "Aufsätzen, Reden, Essays" des Aufbau-Verlags folgt), da in der befremdlichen Umgebung von Zeitungsartikeln, politischen Ansprachen und Radiosendungen - vor allem die Aufrufe "Deutsche Hörer!" von BBC London während des Kriegs - auch die eigentlichen Essays über Kunst und Literatur, über Wagner, Schopenhauer und Tolstoi, durch offene Gegensätze oder geheime Parallelen zum Zeitgeschehen sich vieldeutiger ausnehmen als in den von Thomas Mann selbst komponierten Sammelbänden, für die er die einzelnen Beiträge überarbeitete, glättete und damit der Entstehungszeit entrückte.
Noch enger verflicht der reichhaltige Kommentar das Ästhetische mit dem Politischen; über Quellennachweise und die Erläuterung von Stichwörtern hinaus klärt er Anlaß und Umfeld dieser kleinen Schriften auf. Aus ihm erfährt man, daß die Tagebuchform der "Meerfahrt mit Don Quijote" weitgehend eine Fiktion ist: Der Autor schrieb sie erst ein halbes Jahr nach der Reise, auf der er in Wahrheit andere Bücher, von Cervantes' Werk jedoch lediglich die letzten Kapitel gelesen hatte. Aber gerade dieses Opfer der Wirklichkeitstreue zugunsten der Komposition spricht dafür, daß Thomas Mann dem ästhetisch-politischen Sinnbild, das nicht an das biographische Ereignis gebunden war, zu spielerisch-bedeutsamer Darstellung verhelfen wollte.
Die historischen Einschnitte, die die Bände gliedern - 1933, 1938, 1945 - bleiben dem Leser bewußt, während er sich den Einzelheiten ästhetischer Charakteristiken überlassen möchte, und brechen immer wieder den üppigen Wortzauber von Thomas Manns Kunst der vergeistigten Beschreibung. Ibsens "Wenn wir Toten erwachen" und Wagners "Parsifal" charakterisiert er mit einfühlsamer Lust und zugleich mit kritischer Distanz als "Abschiedsweihespiele und letzte Worte vor ewigem Schweigen, die zelesten Greisenwerke in ihrer majestätisch-sklerotischen Müdigkeit, dem Schon-mechanisch-gewordenen-Sein ihrer Mittel, dem Spätgepräge von Resümee, Rückschau, Selbstzitat, Auflösung".
Datiert ist das Manuskript des Vortrags über "Leiden und Größe Richard Wagners", wo sich dieses überschwengliche Beispiel schönen Stils findet, auf den 29. Januar 1933, den Tag also vor Hitlers Machtergreifung, die eine solche Rede selbst zum "Abschiedsweihespiel" werden läßt, und zwar auf drastische Weise: am 10. Februar in München gehalten, ruft sie eine Polemik der rechten Presse hervor sowie den von namhaften Künstlern unterzeichneten "Protest der Richard-Wagner-Stadt München" (im Anhang des Bandes ist das beflissene Pamphlet abgedruckt: Gulbransson, Knappertsbusch, Pfitzner, Richard Strauss und andere verwahren sich - die neue "Bewegung" ist erst seit ein paar Tagen an der Macht - gegen Thomas Manns angebliche "Kritik wertbeständiger deutscher Geistesriesen" und denunzieren sie als entlarvendes Resultat von Manns "kosmopolitisch-demokratischer Auffassung"). Es hat die Vertreibung des mittlerweile weltberühmten Schriftstellers aus Deutschland zur raschen Folge. Nicht er selbst, sondern die Zeit hat aus der Literatur ein Politikum gemacht.
Gerade durch die Störungen und Verstörungen, die Thomas Mann als Zeitgenosse des Faschismus und des Weltkriegs erfährt, wird ihm bewußt, was Kunstwerke sind: glückliche Ausnahmen, die einen Augenblick lang die Nötigungen und Notlagen der politischen Welt vergessen dürfen. Neben der 1940 in Princeton gehaltenen Vorlesung über die "Kunst des Romans", der die erfolgreiche Karriere dieses zunächst so unwürdigen Nachfolgers des Epos nachzeichnet, steht die Broschüre "Dieser Krieg", der deutschen Hörern und Lesern ihre Schuld an diesem Krieg vorrechnet. Nur weil das Schöne ein - unpolitisches - Recht zum Dasein hat, gilt es, eine Welt - politisch - zu verteidigen, die dem Schönen dieses Recht einräumt. Zwar vermehren sich die politischen Artikel, je länger das Dritte Reich währt und je näher sein Untergang rückt; doch eben in diesen Jahren schreibt Thomas Mann "Joseph und seine Brüder" und "Lotte in Weimar", Werke, denen man die Zeitumstände, unter denen sie entstanden sind, nicht anmerkt. Gerade der Versuch, das Ästhetische vor dem Zugriff der Politik zu retten, ist der genuin künstlerische Beweggrund, über Politik zu reden.
Es ist heute ebenso üblich wie richtig, die Heroen der ästhetischen Moderne als Mitläufer, mehr noch: als Vordenker und Vorträumer totalitärer Systeme, linker wie rechter, zu entlarven. Gegen solche Versuchungen, der vor allem die Künstler der Avantgarde erlagen, im Ausnahmezustand der Kunst ein Modell gesellschaftlicher Ordnung anzupreisen, war Thomas Mann gefeit, da er nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die geschichtlichen Fehlurteile seiner "Betrachtungen eines Unpolitischen" durchschaut hatte. In einer Art Selbstexorzismus diagnostiziert er 1938 an "Bruder Hitler" den verführerischen und verhängnisvollen Einschlag von Künstlertum: In Hitler steckt ein Anflug von Künstler, wie in jedem Künstler der Traum eines Diktators verborgen ist. Deshalb kann Thomas Mann nicht umhin, "der Erscheinung eine gewisse angewiderte Bewunderung entgegenzubringen", da Hitler aus seinem ästhetischen Dilettantismus heraus einen neuen Stil nationaler Gewalttätigkeit erfunden habe.
Es verrät Sinn für intellektuelle Konstellationen, wenn die Herausgeber den Band "Achtung, Europa!" mit einem Aufsatz über Wagner beginnen und mit einem über Hitler enden lassen. Denn Wagners Weiheklänge und Erlösungsideen haben Thomas Mann wie Adolf Hitler berührt; und der Dichter schaudert nun davor zurück, wie der Dilettant sie in Wirklichkeit überführt hat. Daß aus Kunst Politik werde, war Wagners Hoffnung und Hitlers Überzeugung gewesen; daß ebendies nicht geschehen dürfe, war die Einsicht, die der Wagner-Verehrer Thomas Mann aus Hitlers rücksichtsloser Anwendung künstlerischer Verführungs- und Verblüffungsstrategien auf die zivilisierte Staatenwelt gewann.
Thomas Mann ist einer der wenigen bedeutenden deutschen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, der politisches Handeln nicht vom Traum einer glücklich erlösten Gesellschaft ableiten wollte, sondern dem begrenzten, rationalen Zweck unterordnete, größeres Unglück für die bestehende Welt zu verhindern. Aus dieser skeptisch-humanen Haltung ist es zu verstehen, daß sich in seinen Diagnosen, die von 1933 bis 1945 dicht aufeinander folgen, ein erstaunlich sicheres Gespür und Urteil verrät, das der Gang der Ereignisse fast immer bestätigt hat.
Er sieht die kriegerischen Konsequenzen der nationalsozialischen Euphorie in Deutschland wie der westlichen Nachgiebigkeit voraus, während sich die zeitgenössischen Staatsmänner noch lange den Illusionen hingeben, die sie zur Beschwichtigung ihrer Bürger geschaffen hatten. Thomas Mann nützt den Vorteil, den er aus dem Handwerk des Romanautors zieht: Er, der mit der professionellen Erfindung von Illusionen vertraut ist, hat einen geschärften Blick für die Grenze zwischen dem schönen Schein und der ihn umgebenden Realität. Seine Essays erkunden die Gebiete diesseits und jenseits dieser Grenze.
Thomas Mann: "Essays". Band 4: "Achtung, Europa! 1933-1938".Band 5: "Deutschland und die Deutschen. 1938- 1945". Beide Bände herausgegeben von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1995 und 1996. 461 und 464 Seiten, geb., je 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main