Mit 335 farbigen Abbildungen und 8 Karten. Vom Autor des internationalen Bestsellers "Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten"
"Deutschlands Geschichte ist stärker zersplittert als die der meisten anderen europäischen Länder. Seine Grenzen waren oft in Bewegung, und die längste Zeit der letzten 500 Jahre bestand es aus einem bunten Mosaik von politischen Gebilden. Doch es gibt auch Erinnerungen, die allen Deutschen gemeinsam sind." Neil MacGregor stellt sie uns vor in einem Buch über Deutschland, wie es noch nie eines gab. Seine augenöffnende Reise durch die deutsche Geschichte beginnt mit dem Brandenburger Tor, und sie endet mit der Reichstagskuppel und Gerhard Richter. Unterwegs begegnen wir einem faszinierenden Ensemble, darunter Gutenbergs Buchdruck, Porzellan aus Dresden, deutsches Bier und deutsche Wurst, Goethe, Schneewittchen und Mutter Courage, die Krone Karls des Großen, ein Tauchanzug made in Ostdeutschland und das Tor von Buchenwald. Wie es Neil MacGregor gelingt, all diese Objekte zum Sprechen zu bringen und sie von deutscher Geschichte erzählen zu lassen, dabei die Schrecken der NS-Zeit nicht zu relativieren und doch den Reichtum der deutschen Geschichte begeistert und begeisternd vor dem Leser zu entfalten - das ist so intelligent, so bravourös und so unterhaltsam zugleich, dass man es einfach gelesen haben muss.
"Deutschlands Geschichte ist stärker zersplittert als die der meisten anderen europäischen Länder. Seine Grenzen waren oft in Bewegung, und die längste Zeit der letzten 500 Jahre bestand es aus einem bunten Mosaik von politischen Gebilden. Doch es gibt auch Erinnerungen, die allen Deutschen gemeinsam sind." Neil MacGregor stellt sie uns vor in einem Buch über Deutschland, wie es noch nie eines gab. Seine augenöffnende Reise durch die deutsche Geschichte beginnt mit dem Brandenburger Tor, und sie endet mit der Reichstagskuppel und Gerhard Richter. Unterwegs begegnen wir einem faszinierenden Ensemble, darunter Gutenbergs Buchdruck, Porzellan aus Dresden, deutsches Bier und deutsche Wurst, Goethe, Schneewittchen und Mutter Courage, die Krone Karls des Großen, ein Tauchanzug made in Ostdeutschland und das Tor von Buchenwald. Wie es Neil MacGregor gelingt, all diese Objekte zum Sprechen zu bringen und sie von deutscher Geschichte erzählen zu lassen, dabei die Schrecken der NS-Zeit nicht zu relativieren und doch den Reichtum der deutschen Geschichte begeistert und begeisternd vor dem Leser zu entfalten - das ist so intelligent, so bravourös und so unterhaltsam zugleich, dass man es einfach gelesen haben muss.
Weißwurstfrühstück mit Goethe
Heiliges Römisches Reich, Buchenwald, Euro: Neil MacGregor, neuer Intendant des Humboldt-Forums, zwingt zusammen, was weit auseinander liegt.
Von Andreas Kilb
Das Tempo, mit dem die Zeitgeschichte über unumstößliche Gewissheiten hinweggeht, ist bisweilen atemberaubend. Im neunzehnten Kapitel von Neil MacGregors Buch über Deutschland steht neben einem Bild, das VW-Modelle im Inneren des Glas-Turms der Autostadt Wolfsburg zeigt: "Die Meister des Metalls sind deutsch." An dem Satz würde MacGregor vermutlich auch angesichts der jüngsten Erkenntnisse über die Volkswagen AG nichts ändern. Wohl aber an dem Bild. Die Autos, die darauf zu sehen sind, haben mit dem VW Käfer, der zusammen mit einem astronomischen Messwerk aus der Renaissance im Zentrum des Kapitels steht, noch den Markennamen, aber nicht mehr den Mythos gemeinsam. Hier hat die Geschichte einen Strich gezogen: "Qualitätsarbeit", wie MacGregor sie beschwört, ist eine Sache von gestern. Die Meister des Metalls waren deutsch, so viel steht fest; alles Übrige klärt die Staatsanwaltschaft.
Dieses Deutschland-Buch stößt in eine seltsame publizistische Lücke. Es gibt Hans-Ulrich Wehlers fünfbändige "Deutsche Gesellschaftgeschichte" und Heinrich August Winklers zweibändigen, vierzehnhundert Seiten langen "Weg nach Westen". Und es gibt das weite Feld der populären Pamphlete und Reisebücher, von Sarrazin und Ulfkotte bis hin zum "Autowanderbuch Deutschland". Dazwischen gibt es nichts. Jedenfalls nichts, was man so bequem wie MacGregors dicken Band der Oma oder dem Neffen zu Weihnachten schenken oder ohne größere Mühen selbst durchlesen kann, sogar auf dem Beifahrersitz, denn mehr als die Hälfte des Buches besteht aus Bildern. Und der Text dazu ist so groß gedruckt, dass er in einen Wehler- oder Winkler-Wälzer wohl zwanzigmal hineinpassen würde - inklusive der Zitatblöcke, in denen von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bis zum Preußen-Historiker Christopher Clark ziemlich jeder zu Wort kommt, in den letzten Jahren mithalf, die Achse Berlin - London zu befestigen.
Das VW-Kapitel - es gehört zum Abschnitt "Made in Germany", der auch von Gutenbergs Bibel, sächsischem Porzellan und dem Bauhaus-Design handelt - zeigt gut, worin die Stärken und die Schwächen dieses Buches liegen. Es bringt vieles zusammen, was auf den ersten Blick weit auseinanderliegt: das Messwerk des Johann Anton Linden mit den VW-Autos, die Wurst- und Biersorten der deutschen Regionen mit den Büsten der Regensburger Walhalla, die Hausmärchen der Brüder Grimm mit den symbolischen Wäldern von Caspar David Friedrich, den "Schwebenden Engel" von Barlach mit der Pietà von Käthe Kollwitz.
Aber es gibt sich auch mit oberflächlichen Wahrheiten zufrieden, wo genaueres Hinschauen notgetan hätte, etwa bei der Stadt Königsberg, in der das von Napoleon gedemütigte Preußen gerade nicht "reorganisiert", sondern eher vorübergehend abgewickelt wurde, oder bei Straßburg, das keineswegs "ohne ersichtlichen Grund", sondern im Zuge einer planvollen, durch gekaufte Gerichtshöfe abgesicherten Annexionspolitik von den Truppen Ludwigs XIV. besetzt wurde.
Das mögen Kleinigkeiten sein. Die Nostalgie für das Heilige Römische Reich, deren Grundmotiv in dem Straßburg-Kapitel zum ersten Mal anklingt und sich von da an durch das ganze Buch zieht, ist es nicht. Schon bei MacGregors Landsmann Brendan Simms, dessen "Kampf um Vorherrschaft" im vergangenen Jahr nicht ganz den donnernden Erfolg hatte, der ihm vorausgesagt worden war, hat die systematische Verwechslung von Deutschland, deutschem Kaiserreich und jenem Vielvölkerreich "deutscher Nation", das von einem Franken begründet und von einem Franzosen liquidiert wurde, zu manchen unsinnigen Fehlschlüssen geführt.
Bei MacGregor hat sich nun das alte Reich, über das Generationen von Dichtern und Denkern gespottet oder geflucht haben, zum Vorbild eines dermaleinst geeinten Europas gemausert: "ein Netz gemeinsamer Auffassungen und Traditionen", die "wie ein Sicherheitsnetzwerk" wirkten, tolerant und liberal, antik-römisch und christlich-heilig, "eine sonderbare Art aristokratischer Republik", und was der Wunderdinge mehr sind. Die EU ihrerseits ist für den jüngst ernannten Intendanten des Berliner Humboldtforums "in gewisser Weise eine Neuauflage" dieses Gebildes, "im Wesentlichen nur eine Rückkehr zu einer Ordnung, die jahrhundertelang blühte", und der Euro mit seinen nationalen Sonderprägungen "irgendwie" ein Nachfolger jener Silbertaler, mit denen Kaiser Leopold, die Stadt Wismar und die Äbtissin von Quedlinburg seinerzeit den Markt überschwemmten.
Aber nur irgendwie, im Wesentlichen, in gewisser Weise. Wer in der Bildergalerie klein- und großdeutscher oder gesamteuropäischer Kulturleistungen, die dieses Buch aufmacht, nach dem Ariadnefaden eines durchgängigen Denkmusters tastet, stößt immer wieder nur auf Bilder und Bonmots. Manche davon klingen sehr schön, wie das über Berlin, die Stadt, "die in Architekturen träumt", oder die Passage über Tischbeins Goethe-Porträt, "das unvergleichliche Bild von Deutschlands langer Liebesaffäre mit Italien". Andere möchte man am liebsten als Bonustrack zum Hörbuch, das Burkhard Klausner liest, in MacGregors eigenem melodischem Bariton hören, wie jenen Satz über das Münchner Nationalgericht: "Weißwurst ist eine Brühwurst, deren Brät, traditionell aus gehacktem Kalbfleisch und Schweinerückenspeck, nicht mit Nitritpökelsatz, sondern mit Kochsalz gewürzt wird und die darum hell bleibt."
Hell ist auch Mac Gregors Buch, selbst da, wo es von den dunkelsten Seiten deutscher Geschichte handelt. Sogar in Buchenwald findet es ein positiv zu deutendes Relikt, den Schriftzug "Jedem das Seine", den der Kommunist und Bauhaus-Künstler Franz Ehrlich in subversiv gerundeter Schrift für das Eingangstor des Konzentrationslagers schuf. Aber mehr als einen Lichteffekt darf man sich von MacGregors Deutschland-Reise nicht erhoffen. Die Londoner Ausstellung, deren Exponate hier zu sehen, und die BBC-Sendereihe, deren Texte zu lesen sind, finden in diesem Band auf eine Weise zusammen, die weder die Bewegungsfreiheit des Museumsbesuchers noch die assoziative Unabhängigkeit des Radiohörers bewahrt. Dafür aber wird ein historischer Moment festgehalten: der Augenblick, in dem ein allseits gefeierter britischer Intellektueller von Deutschland schwärmen konnte, ohne sich die Nase an der deutschen Gegenwart zu stoßen. Kann sein, dass er bald wieder vorbei ist.
Neil MacGregor: "Deutschland". Erinnerungen einer Nation.
Aus dem Englischen von Klaus Binder. Verlag C. H. Beck, München 2015. 640 S., Abb., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heiliges Römisches Reich, Buchenwald, Euro: Neil MacGregor, neuer Intendant des Humboldt-Forums, zwingt zusammen, was weit auseinander liegt.
Von Andreas Kilb
Das Tempo, mit dem die Zeitgeschichte über unumstößliche Gewissheiten hinweggeht, ist bisweilen atemberaubend. Im neunzehnten Kapitel von Neil MacGregors Buch über Deutschland steht neben einem Bild, das VW-Modelle im Inneren des Glas-Turms der Autostadt Wolfsburg zeigt: "Die Meister des Metalls sind deutsch." An dem Satz würde MacGregor vermutlich auch angesichts der jüngsten Erkenntnisse über die Volkswagen AG nichts ändern. Wohl aber an dem Bild. Die Autos, die darauf zu sehen sind, haben mit dem VW Käfer, der zusammen mit einem astronomischen Messwerk aus der Renaissance im Zentrum des Kapitels steht, noch den Markennamen, aber nicht mehr den Mythos gemeinsam. Hier hat die Geschichte einen Strich gezogen: "Qualitätsarbeit", wie MacGregor sie beschwört, ist eine Sache von gestern. Die Meister des Metalls waren deutsch, so viel steht fest; alles Übrige klärt die Staatsanwaltschaft.
Dieses Deutschland-Buch stößt in eine seltsame publizistische Lücke. Es gibt Hans-Ulrich Wehlers fünfbändige "Deutsche Gesellschaftgeschichte" und Heinrich August Winklers zweibändigen, vierzehnhundert Seiten langen "Weg nach Westen". Und es gibt das weite Feld der populären Pamphlete und Reisebücher, von Sarrazin und Ulfkotte bis hin zum "Autowanderbuch Deutschland". Dazwischen gibt es nichts. Jedenfalls nichts, was man so bequem wie MacGregors dicken Band der Oma oder dem Neffen zu Weihnachten schenken oder ohne größere Mühen selbst durchlesen kann, sogar auf dem Beifahrersitz, denn mehr als die Hälfte des Buches besteht aus Bildern. Und der Text dazu ist so groß gedruckt, dass er in einen Wehler- oder Winkler-Wälzer wohl zwanzigmal hineinpassen würde - inklusive der Zitatblöcke, in denen von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bis zum Preußen-Historiker Christopher Clark ziemlich jeder zu Wort kommt, in den letzten Jahren mithalf, die Achse Berlin - London zu befestigen.
Das VW-Kapitel - es gehört zum Abschnitt "Made in Germany", der auch von Gutenbergs Bibel, sächsischem Porzellan und dem Bauhaus-Design handelt - zeigt gut, worin die Stärken und die Schwächen dieses Buches liegen. Es bringt vieles zusammen, was auf den ersten Blick weit auseinanderliegt: das Messwerk des Johann Anton Linden mit den VW-Autos, die Wurst- und Biersorten der deutschen Regionen mit den Büsten der Regensburger Walhalla, die Hausmärchen der Brüder Grimm mit den symbolischen Wäldern von Caspar David Friedrich, den "Schwebenden Engel" von Barlach mit der Pietà von Käthe Kollwitz.
Aber es gibt sich auch mit oberflächlichen Wahrheiten zufrieden, wo genaueres Hinschauen notgetan hätte, etwa bei der Stadt Königsberg, in der das von Napoleon gedemütigte Preußen gerade nicht "reorganisiert", sondern eher vorübergehend abgewickelt wurde, oder bei Straßburg, das keineswegs "ohne ersichtlichen Grund", sondern im Zuge einer planvollen, durch gekaufte Gerichtshöfe abgesicherten Annexionspolitik von den Truppen Ludwigs XIV. besetzt wurde.
Das mögen Kleinigkeiten sein. Die Nostalgie für das Heilige Römische Reich, deren Grundmotiv in dem Straßburg-Kapitel zum ersten Mal anklingt und sich von da an durch das ganze Buch zieht, ist es nicht. Schon bei MacGregors Landsmann Brendan Simms, dessen "Kampf um Vorherrschaft" im vergangenen Jahr nicht ganz den donnernden Erfolg hatte, der ihm vorausgesagt worden war, hat die systematische Verwechslung von Deutschland, deutschem Kaiserreich und jenem Vielvölkerreich "deutscher Nation", das von einem Franken begründet und von einem Franzosen liquidiert wurde, zu manchen unsinnigen Fehlschlüssen geführt.
Bei MacGregor hat sich nun das alte Reich, über das Generationen von Dichtern und Denkern gespottet oder geflucht haben, zum Vorbild eines dermaleinst geeinten Europas gemausert: "ein Netz gemeinsamer Auffassungen und Traditionen", die "wie ein Sicherheitsnetzwerk" wirkten, tolerant und liberal, antik-römisch und christlich-heilig, "eine sonderbare Art aristokratischer Republik", und was der Wunderdinge mehr sind. Die EU ihrerseits ist für den jüngst ernannten Intendanten des Berliner Humboldtforums "in gewisser Weise eine Neuauflage" dieses Gebildes, "im Wesentlichen nur eine Rückkehr zu einer Ordnung, die jahrhundertelang blühte", und der Euro mit seinen nationalen Sonderprägungen "irgendwie" ein Nachfolger jener Silbertaler, mit denen Kaiser Leopold, die Stadt Wismar und die Äbtissin von Quedlinburg seinerzeit den Markt überschwemmten.
Aber nur irgendwie, im Wesentlichen, in gewisser Weise. Wer in der Bildergalerie klein- und großdeutscher oder gesamteuropäischer Kulturleistungen, die dieses Buch aufmacht, nach dem Ariadnefaden eines durchgängigen Denkmusters tastet, stößt immer wieder nur auf Bilder und Bonmots. Manche davon klingen sehr schön, wie das über Berlin, die Stadt, "die in Architekturen träumt", oder die Passage über Tischbeins Goethe-Porträt, "das unvergleichliche Bild von Deutschlands langer Liebesaffäre mit Italien". Andere möchte man am liebsten als Bonustrack zum Hörbuch, das Burkhard Klausner liest, in MacGregors eigenem melodischem Bariton hören, wie jenen Satz über das Münchner Nationalgericht: "Weißwurst ist eine Brühwurst, deren Brät, traditionell aus gehacktem Kalbfleisch und Schweinerückenspeck, nicht mit Nitritpökelsatz, sondern mit Kochsalz gewürzt wird und die darum hell bleibt."
Hell ist auch Mac Gregors Buch, selbst da, wo es von den dunkelsten Seiten deutscher Geschichte handelt. Sogar in Buchenwald findet es ein positiv zu deutendes Relikt, den Schriftzug "Jedem das Seine", den der Kommunist und Bauhaus-Künstler Franz Ehrlich in subversiv gerundeter Schrift für das Eingangstor des Konzentrationslagers schuf. Aber mehr als einen Lichteffekt darf man sich von MacGregors Deutschland-Reise nicht erhoffen. Die Londoner Ausstellung, deren Exponate hier zu sehen, und die BBC-Sendereihe, deren Texte zu lesen sind, finden in diesem Band auf eine Weise zusammen, die weder die Bewegungsfreiheit des Museumsbesuchers noch die assoziative Unabhängigkeit des Radiohörers bewahrt. Dafür aber wird ein historischer Moment festgehalten: der Augenblick, in dem ein allseits gefeierter britischer Intellektueller von Deutschland schwärmen konnte, ohne sich die Nase an der deutschen Gegenwart zu stoßen. Kann sein, dass er bald wieder vorbei ist.
Neil MacGregor: "Deutschland". Erinnerungen einer Nation.
Aus dem Englischen von Klaus Binder. Verlag C. H. Beck, München 2015. 640 S., Abb., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main