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Produktdetails
  • Verlag: Stroemfeld
  • Seitenzahl: 295
  • Deutsch
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 424g
  • ISBN-13: 9783878778271
  • ISBN-10: 3878778279
  • Artikelnr.: 11362953
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Autorenporträt
Klaus Theweleit, 1942 in Ostpreußen geboren, studierte Germanistik und Anglistik in Kiel und Freiburg. Von 1969-1972 war er als freier Mitarbeiter des Südwestfunks tätig, 1977 promovierte er über "Freikorpsliteratur und den Körper des soldatischen Mannes". Heute lebt er als freier Schriftsteller mit Lehraufträgen in Deutschland, den USA, der Schweiz und Österreich. Seit 1998 ist Theweleit Professor für Kunst und Theorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe. 2003 erhielt er den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2004

Die Strategie der Möwen
Klaus Theweleit über Deutschland bei Hitchcock, Godard, Pasolini

Zwischen Filmkritik und Filmtheorie klafft in Deutschland ein Abgrund. Es gibt wenige schmale Brücken, die darüberführen: etwa die Aufsätze und Monographien des Publizisten Georg Seeßlen - zuletzt erschien von ihm ein "Matrix"-Band - oder die Bücher von Klaus Theweleit. Theweleit hat filmtheoretische Essays über Jean-Luc Godard und das Serienkillergenre geschrieben, aber auch in seinem Versuch zum 11. September ("Der Knall") und vor allem in seiner berühmten mehrteiligen Studie über "Männerphantasien" kommt das Kino immer wieder zur Sprache. Anders als viele seiner Philosophen- und Germanistenkollegen bringt Theweleit sein Filmwissen nicht mit dem Gestus des Besserwissers vor, der in dem bunten Popstroh sein hochkulturelles Körnchen findet; er setzt es vielmehr ganz selbstverständlich ein. Ihm gilt Hitchcock soviel wie Balzac, "Außer Atem" soviel wie "Ulysses". Als einer von wenigen deutschen Denkern hat Theweleit den modernen Umsturz der Kunsthierarchien, die Entthronung des Wortes durch das Bild mitvollzogen. Wenn er von "Filmdenken" spricht, meint er nicht nur das Nachdenken über Filme, sondern visuelles Denken, Denken in und mit Filmbildern als Disziplin des Intellekts.

"Deutschlandfilme. Filmdenken und Gewalt" heißt Klaus Theweleits neues Buch. Es geht um drei Regisseure und ihre filmischen Bilder von Deutschland: Godard, Hitchcock, Pier Paolo Pasolini. Dabei ist Theweleit mit seiner Definition des Deutschen nicht kleinlich: Pasolinis "Salò oder Die 120 Tage von Sodom", der am Ende des Zweiten Weltkriegs in Italien spielt, wird für ihn schon deshalb zum "Deutschlandfilm", weil Männer in SS-Uniformen darin auftreten. Genausogut könnte man ihn als Frankreichfilm bezeichnen, schließlich stammt die Vorlage von de Sade. Aber Theweleit hält sich mit solchen Detailfragen nicht auf. Das Fußgängerische der Fachwissenschaft, die jeden ihrer Begriffe auf seinen Wahrheitsgehalt abklopft, ist ihm fremd. Er will die Assoziationen zum Sprudeln bringen, die sich in den Bildern stauen, die Zwischentöne, die Reminiszenzen. Das Deutsche kommt ihm als Schlüsselwort zupaß, weil er es in Hitchcocks "Vögeln" entdecken kann, in der berühmten Sequenz mit dem Angriff der Möwen aus dem Himmel über Bodega Bay, die er, ausgehend von einer Andeutung des Regisseurs, als Kommentar zur Bombardierung Londons durch die Luftwaffe liest. Hitchcock hat diese Szenen, denen keine reale Kameraposition entspricht, in einem komplizierten Kopiervorgang aus gemalten, inszenierten und dokumentarischen Details zusammengesetzt. "Im Kopf entworfene Bilder, ,gesehen' mit einem anderen Organ als dem Auge", erscheinen so auf der Leinwand, und um dieses innere Sehen geht es Theweleit in seinem Buch.

Er findet es, zur Abstraktion verwandelt, in Jean-Luc Godards "Deutschland Neu(n) Null" wieder, dem bis heute wichtigsten filmischen Kommentar zur deutschen Wiedervereinigung. Bei Godard werden Bildbedeutungen nicht, wie bei Hitchcock, übereinandergeblendet, sondern in einer einzigen Einstellung komprimiert; Theweleit spricht von "Bildkompressen". Don Quichotte und Sancho Pansa, die einen kaputten Trabi überholen, sind zugleich Geschichtsmetaphern und wirkliche Clowns, so wie der Agent Lemmy Caution (Eddie Constantine), der Ich-Erzähler der Geschichte, zugleich allegorisch und real ist. In diesem Netz aus Texten und Szenen gibt es Anspielungen, Hinweise, die sich erst beim zweiten oder dritten Sehen erschließen - Zwischentöne, Bilder zwischen den Bildern. "Godards Kino ist das permanent erzeugte Zwischenbild in Bewegung." Theweleits Begeisterung für dieses Philosophenkino ist so stark, daß er selbst Godards Irrtümer - wie die Mitteilung, Schiller habe in seinem Weimarer Haus "Die Räuber" gedichtet - zu absichtlichen "Verspieltheiten, Fallgruben und Fakes" aufwertet.

Dieser intellektuelle Übermut ist ebensosehr eine Schwachstelle von Theweleits Buch wie seine größte Stärke. Denn es geht in "Deutschlandfilme" nicht darum, in einem abgegrenzten filmischen Forschungsbereich recht zu behalten - es geht, auf jeder Seite und in jedem Satz, ums Ganze des Kinos, um die Frage, warum es sich überhaupt lohnt, Filme zu drehen und Filme zu sehen, dem allgegenwärtigen Vergessen, der audiovisuellen Blind- und Taubheit zum Trotz. Man merkt dem Buch an, daß es, wie das Möwenbild von Hitchcock, aus heterogenen Elementen komponiert ist, aber gerade diese Unfertigkeit macht seinen Reiz aus. Es ist ein Stück praktizierte Filmtheorie: kinematographisches Denken, das ohne den Umweg über ein System, einen pseudowissenschaftlichen Rahmen direkt von den Bildern, den Filmen spricht.

Es fließt einiges Geröll mit in dieser mäandrierenden Denkbewegung, Meinungsschutt, der sich in Anwürfen etwa gegen Scorseses "Gangs of New York" ("ein Film wie eine volle Popcorntonne, mit viel Krach, Blut und Blödsinn") oder die deutsche Filmkritik ("Tomate auf dem Auge als Berechtigungsnachweis") absetzt, aber es gibt auch, immer wieder, Sätze, die man so noch nicht gelesen hat, wie die Beobachtung über Pasolinis Bibelverfilmung: "Der Jesus seines Matthäus-Films hat ein Gesicht, das synthetisiert sein könnte aus den Gesichtern von Montgomery Clift, Elvis und Prince - und es funktioniert." Bei Theweleit gibt es keine Assoziationsverbote, alles kann mit allem verknüpft werden, ein Anti-Heideggger-Bonmot von Benn mit der Duschszene aus Hitchcocks "Psycho", ein Exkurs zur überarbeiteten Wehrmachtsausstellung des Reemtsma-Instituts - "so funktioniert ,Authentizität' gerade nicht!" - mit einer ironischen Absage an Adornos berühmten Satz über das Gedichteschreiben nach Auschwitz: "Aphoristiker sind Diktatoren, ob Adorno oder Karl Kraus . . . Aber es bleibt immer etwas übrig neben dem Verdikt."

Das gilt auch für Theweleits Buch. Man liest es gerade deshalb mit Vergnügen, weil es keine fertigen Wahrheiten bietet, sondern schillernde Denkbilder - eine Art Kinematographie des Verstands. So vermag auch Theweleit nicht zu entscheiden, wieviel Selbstkritik des homosexuellen Regisseurs in der Faschismusdarstellung von Pasolinis "Salò" verborgen ist, aber seine Montage aus De-Sade-Lektüre, Filmanalyse, Pasolini-Zitaten und "Salò"-Szenen ist auf höchst filmische Weise suggestiv, sie sagt mehr über Pasolinis verzweifeltes spätes Menschenbild, als jede Monographie es könnte. Und hier wie überall sind die Seitenblicke des Buches, etwa auf Fellinis gleichzeitig mit "Salò" entstandenen "Casanova", präziser und vielversprechender als seine expliziten Urteile. Auch darin ist Theweleit ein Geistesverwandter Godards, dessen Filme immer dann am schönsten sind, wenn sie die Rätsel, zu denen sie sich verdichten, nicht erklären.

Das Buch endet, ein wenig überraschend, mit einem gedichteten Kommentar zum Berliner Holocaust-Mahnmal. "Wer all das ,realisiert' haben möchte / In Eisen, Stein, Beton, Farbe, Blech / In Kommissionsvoten & Regierungsbeschlüssen / Soll auch verewigt werden / In Tafeln auf dem Platz / In einer Liste Neuerer Täter". Die letzten Bilder, bevor der Abspann beginnt, stammen aus einem selten gezeigten Film von Jerry Lewis: "The Day the Clown Cried". Darin spielt Lewis einen Clown, der in einem Konzentrationslager der Nazis jüdische Kinder unterhält, bis er selbst auf den Transport in die Gaskammer geladen wird. Theweleit erwähnt Lewis nur in einer einzigen Zeile seines Gedichts, den Rest überläßt er der Phantasie des Lesers. Das ist eine Zumutung, aber auch ein Stück Freiheit. Man müsse aufhören, politische Filme zu machen, und statt dessen die Filme politisch machen, hat Godard einmal gefordert. Klaus Theweleit hat sich diesen Satz auf seine Weise zu eigen gemacht. Er betreibt nicht Filmtheorie, sondern eine filmische Form von Theorie. Der Abgrund zwischen Sehen und Denken ist groß, aber wie man sieht, kann man ihn überbrücken.

ANDREAS KILB.

Klaus Theweleit: "Deutschlandfilme". Filmdenken & Gewalt. Godard, Hitchcock. Pasolini. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main und Basel 2003. 296 S., zahlr. Abb., br., 24,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Auch in seinem neuen Buch hat sich Klaus Theweleit dem Thema gewidmet, das ihn seit zwei Jahrzehnten umtreibt, meint Fritz Göttler, nämlich der Darstellung und der Darstellbarkeit des Faschismus. Dafür hat der Autor drei Filme von Hitchcock, Pasolini und Godard näher betrachtet und die darin eingefangenen "Strukturen und Mechanismen" des Faschismus analysiert, so der Rezensent beeindruckt. Insbesondere den Film "Der zerrissene Vorhang" von Hitchcock, in dem dieser ein äußerst "treffendes Mentalitätsbild" der DDR zeichnet, ohne je dort gedreht zu haben, hat Theweleit mit "Vergnügen" besprochen, bemerkt Göttler eingenommen.

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