Wochenlang reiste Roger Willemsen mit dem Zug durch Deutschland, von Konstanz nach Kap Arkona, von Bonn nach Berlin. Aus seinen Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher Art entsteht das facettenreiche Bild eines Landes. Mit wachem Blick entdeckt er das Wesentliche im Alltäglichen und das Typische im Zufälligen - das Glück und Unglück des ganz normalen Lebens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2006Deutsche Grenzgänger
Reise als hybrides Genre
In Rückbesinnung auf Heinrich Heines "Harzreise" und das "Wintermärchen" hat sich mittlerweile eine neue Gattung von Deutschlandbüchern etabliert, die fröhlich an der Grenze zwischen Belletristik und Sachbuch entlangwandern, um die persönlichen, politischen und poetischen Zustände der deutschen Gegenwart zu ermessen.
Den Anfang machte im Jahre 2002 Roger Willemsens überaus erfolgreiche "Deutschlandreise" (Eichborn-Verlag), auf welcher der Autor nach seinem freiwilligen Abschied vom Status der Fernsehprominenz erkunden wollte, wie das Land aussieht, auf das er jahrelang sein Bild projiziert hatte. Er nahm den Zug und hörte den Leuten zu. Dabei fielen ihm Dinge auf, die wenig mit den großen nationalen Klischees zu tun hatten, aber mit großer Präzision Veränderungen der deutschen Lebenswelt beschreiben, etwa der Umstand, daß alle permanent irgendwas essen, die Leute so dicke Füße haben und daß sich manche Innenstädte mit Shopping-Malls von der Außenwelt abschneiden. Es wundert einen dann nicht mehr, wenn Jahre später der Berliner Hauptbahnhof im wesentlichen als eine von der Stadt isolierte Shopping-Mall mit lauter "Schlürfereien" gebaut wird und sogar die Kanzlerin vor allem die Dönerbuden lobend erwähnt. "Kein Geschmack im Essen, kein Sinn im Leben, keine Zeit, keine Zeit", faßte Willemsen seinen Eindruck des Landes zusammen.
Auch Wolfgang Büschers "Deutschland, eine Reise" (S. Fischer) etablierte in diesem Zusammenhang ein völlig neues Genre. Büscher lief einmal im Uhrzeigersinn um Deutschland herum und besichtigte mit Vorliebe jene Orte, die er als linker Student nicht zur Kenntnis nehmen wollte, seien es die Orte der deutschen Opfer im alliierten Bombenkrieg, seien es mythische Orte wie der Harz oder der Obersalzberg. Doch am nachhaltigsten sind seine Schilderungen von intakten Bräuchen, etwa der Gesangsabende in ländlichen Gaststätten, die er effektvoll mit den Verheerungen des Lebens rund um eine westdeutsche Fußgängerzone kontrastiert. Büscher kann bestens vermitteln, wie und in welcher Form die NS- und Kriegsvergangenheit in den Narben der Städte und dem Leben auch der heutigen Deutschen weiterwirkt.
Matthias Matusseks "Wir Deutschen" (S. Fischer) ist entgegen seinem Titel in seinen besten Teilen ein Reisebuch. Die Interviews mit den Herren von Dohnanyi und Harald Schmidt mögen sich in die Länge ziehen - denn man hatte ja, wenn man nicht wie der Autor die letzten Jahre im Ausland verbracht hat, weiß Gott die Gelegenheit, deren Meinung zu fast allem immerzu ausgiebig zu hören. Der historisch reflektierende Teil mag arg knapp geraten sein, doch die tagebuchartigen Passagen, in denen der Autor bissig seine Beobachtungen auf allerlei Abendessen, in Talkshows und bei Empfängen notiert, sind als Sittenbild des neuen Berlins durchaus lesenswert. Auch hier sind die grenzüberschreitenden Reflexionen über die persönliche Geschichte, die Familie am anrührendsten.
mink
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reise als hybrides Genre
In Rückbesinnung auf Heinrich Heines "Harzreise" und das "Wintermärchen" hat sich mittlerweile eine neue Gattung von Deutschlandbüchern etabliert, die fröhlich an der Grenze zwischen Belletristik und Sachbuch entlangwandern, um die persönlichen, politischen und poetischen Zustände der deutschen Gegenwart zu ermessen.
Den Anfang machte im Jahre 2002 Roger Willemsens überaus erfolgreiche "Deutschlandreise" (Eichborn-Verlag), auf welcher der Autor nach seinem freiwilligen Abschied vom Status der Fernsehprominenz erkunden wollte, wie das Land aussieht, auf das er jahrelang sein Bild projiziert hatte. Er nahm den Zug und hörte den Leuten zu. Dabei fielen ihm Dinge auf, die wenig mit den großen nationalen Klischees zu tun hatten, aber mit großer Präzision Veränderungen der deutschen Lebenswelt beschreiben, etwa der Umstand, daß alle permanent irgendwas essen, die Leute so dicke Füße haben und daß sich manche Innenstädte mit Shopping-Malls von der Außenwelt abschneiden. Es wundert einen dann nicht mehr, wenn Jahre später der Berliner Hauptbahnhof im wesentlichen als eine von der Stadt isolierte Shopping-Mall mit lauter "Schlürfereien" gebaut wird und sogar die Kanzlerin vor allem die Dönerbuden lobend erwähnt. "Kein Geschmack im Essen, kein Sinn im Leben, keine Zeit, keine Zeit", faßte Willemsen seinen Eindruck des Landes zusammen.
Auch Wolfgang Büschers "Deutschland, eine Reise" (S. Fischer) etablierte in diesem Zusammenhang ein völlig neues Genre. Büscher lief einmal im Uhrzeigersinn um Deutschland herum und besichtigte mit Vorliebe jene Orte, die er als linker Student nicht zur Kenntnis nehmen wollte, seien es die Orte der deutschen Opfer im alliierten Bombenkrieg, seien es mythische Orte wie der Harz oder der Obersalzberg. Doch am nachhaltigsten sind seine Schilderungen von intakten Bräuchen, etwa der Gesangsabende in ländlichen Gaststätten, die er effektvoll mit den Verheerungen des Lebens rund um eine westdeutsche Fußgängerzone kontrastiert. Büscher kann bestens vermitteln, wie und in welcher Form die NS- und Kriegsvergangenheit in den Narben der Städte und dem Leben auch der heutigen Deutschen weiterwirkt.
Matthias Matusseks "Wir Deutschen" (S. Fischer) ist entgegen seinem Titel in seinen besten Teilen ein Reisebuch. Die Interviews mit den Herren von Dohnanyi und Harald Schmidt mögen sich in die Länge ziehen - denn man hatte ja, wenn man nicht wie der Autor die letzten Jahre im Ausland verbracht hat, weiß Gott die Gelegenheit, deren Meinung zu fast allem immerzu ausgiebig zu hören. Der historisch reflektierende Teil mag arg knapp geraten sein, doch die tagebuchartigen Passagen, in denen der Autor bissig seine Beobachtungen auf allerlei Abendessen, in Talkshows und bei Empfängen notiert, sind als Sittenbild des neuen Berlins durchaus lesenswert. Auch hier sind die grenzüberschreitenden Reflexionen über die persönliche Geschichte, die Familie am anrührendsten.
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